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XIV

Das Diner war vorüber. Cecile war nicht zur Mahlzeit gekommen; am späten Nachmittag hatte sich ein heftiger Kopfschmerz bei ihr eingestellt, ein Übel, das sie hin und wieder packte. Es gab dagegen nur ein Mittel, und das war vollständige Ruhe; und so hatte sich das junge Mädchen in sein Zimmer zurückgezogen, um bis zum folgenden Morgen dort zu bleiben.

Thurston war nach York hinübergefahren, um dort zu speisen und den Abend mit einem Geschäftsfreund zuzubringen, einem schwerreichen Manne, der sich viel an großen Spekulationen beteiligte. So war der kleine Tisch, welcher der Familie vorbehalten war, durch die Abwesenheit von Vater und Tochter halb verwaist, und das Diner gestaltete sich zu einer ziemlich trübseligen Angelegenheit.

Frau Thurston war bei Tische einsilbig wie immer. Ganz anders ihre Schwester. Diese hörte nichts lieber, als ihre eigene Stimme, und da sie am heutigen Abend keine Konkurrenz hatte, redete sie mit der größten Ausdauer über alle erdenklichen Dinge. Pearson hatte aber wenig Interesse an ihren Worten. Er vermißte zu sehr die berückende Heiterkeit Thurstons und den strahlenden Zauber seiner Verlobten.

Das Ehepaar Knott hatte ebenfalls seinen eigenen kleinen Tisch, und nachdem sich zwischen den beiden Damen eine so enge Freundschaft entsponnen hatte, war Signora Mattelli aufgefordert worden, am Familientisch mit Platz zu nehmen. Sie war auch heute abend wieder da, doch fand Pearson, daß sie recht ernst und nachdenklich aussah. Das Trio schien sich nicht so lebhaft wie sonst zu unterhalten. Herr Knott war an sich ein unbeholfener Mensch, dem der Sinn für anregende Geselligkeit fast völlig fehlte, und seine Frau schien von der gedrückten Stimmung ihrer Freundin angesteckt.

Frau Hamilton und ihre Schwester verbrachten die Abende meist im Salon, da sie sich wenig daraus machten, nach dem Diner noch im Freien zu sitzen.

Es wurde jetzt schon früh dunkel, doch die Luft war köstlich. Ein paar Wolken zogen am Himmel entlang; der Mond hielt sich verborgen, aber die Sterne funkelten hier und da hell am Firmament. Die Nacht war für einen Spaziergang bezaubernd schön, und es zog Pearson mit Macht aus der Stadt hinaus.

Als er dahinschlenderte, dachte er mit Besorgnis an seine geliebte Cecile, welche, von Schmerzen gemartert, einsam in ihrem Zimmer lag. Man konnte ihr keine Linderung verschaffen, und sie mußte die Pein ertragen, bis die Zeit Erleichterung brachte. Einen Augenblick dachte er auch an die schöne Signora. In ihren Gesichtszügen prägte sich deutlich der Ausdruck eines Menschen, der frühzeitig Kummer erlitt. Doch als er sie heute abend am Tische ihrer Bekannten hatte sitzen sehen, war sie ihm ganz besonders ernst und bedrückt erschienen. Quälte sie etwas? Er hätte es gern gewußt.

Aber lange weilten seine Gedanken nicht bei der Italienerin. Sehr bald wendeten sie sich seiner eigenen Zukunft und seinem neuen Lebensweg an der Seite Ceciles zu. Pearson gab sich der Hoffnung hin, daß Thurston sich bewegen lassen würde, die Brautzeit abzukürzen. Er hatte neulich eine Anspielung darauf gemacht, und wenn der liebenswürdige alte Herr auch kein Versprechen gegeben hatte, so ließ er doch ein paar ermutigende Worte fallen.

»Du hast schlimme Zeiten durchgemacht, lieber Junge, und müßtest dafür schon ein wenig schadlos gehalten werden, überdies habt ihr euch durch das Unglück viel häufiger gesehen, als es unter normalen Verhältnissen möglich gewesen wäre. Du hast Gelegenheit gehabt, Ceciles Opfersinn kennen zu lernen, und sie ist dir durch die Pflege menschlich bedeutend näher gekommen. Sie behauptet übrigens, du seist ein geduldiger Patient. Es gibt nur wenige Menschen, die diese Probe auf den späteren Ehestand bestehen, denn nur zu häufig offenbaren sich hierbei gegenseitige Fehler und Schwächen. Nun gut, ich will es mir überlegen.«

Wenn Cecile ihn genügend unterstützte, würde Thurston bestimmt nachgeben und voraussichtlich damit einverstanden sein, daß die Hochzeit im nächsten Januar stattfand. Und er war seiner Sache sicher, daß seine Braut ihn mit allem Nachdruck unterstützen würde, wenn er sie darum bäte.

Bei den Spaziergängen und Ausflügen, die er mit Cecile während seines Erholungsurlaubs in Rosebank unternommen, hatten sie bereits mit einem Landsitz geliebäugelt, der ihr zukünftiges Heim werden sollte. Es war ein reizendes, altmodisches Haus in Hampton Court, inmitten eines anderthalb Morgen großen Gartens gelegen, der so geschickt angelegt war, daß man ihn für größer hielt als er war. Der kleine Besitz hatte außerdem den Vorzug, ganz nahe am Fluß zu liegen.

Dieses Haus, das so ganz ihrem Wunsch entsprach, stand zum Verkauf. Sein gegenwärtiger Besitzer zeigte sich hinsichtlich des Zeitpunktes, zu welchem der Kauf abgeschlossen werden konnte, sehr entgegenkommend. Pearson, der immer der Ansicht zuneigte, man solle das Eisen schmieden, so lange es warm ist, entschloß sich alsbald, mit den Eltern seiner Braut die Angelegenheit zu besprechen. Wegen gewisser Einzelheiten hatten sich die Verhandlungen etwas hinausgezogen, doch wenige Tage, bevor sie nach Scarborough fuhren, kam der Vertrag zustande. Pearson wartete nur die Rückkehr nach London ab, um die erforderlichen Dokumente auszustellen und dem bisherigen Besitzer die Kaufsumme zu überweisen.

Klüger wäre es vielleicht gewesen, mit dem Kauf zu warten, bis der Hochzeitstag näher herangerückt war. Doch den beiden jungen Leuten erschien dieser Landsitz als das Ideal eines behaglichen Heimes, und es war ihr Herzenswunsch, das Haus zu besitzen. Außerdem bedeutete es eine sehr günstige Kapitalanlage.

Bisher hatten sie zwar noch nicht daran gedacht, Möbel zu kaufen, hatten sie das Haus in Gedanken bereits von oben bis unten eingerichtet – vom Kronleuchter bis zu den Treppenläufern. Da Cecile sowohl wie Pearson ausgezeichneten Geschmack und ausgesprochen künstlerische Regungen besaßen, konnten sie sich in immer neuen Plänen gar nicht genug tun.

Während er sich diesen Zukunftsträumen hingab, dabei seine kleine Pfeife vor sich hinschmauchend, war er ziemlich weit außerhalb der Stadt angelangt. Es schien ihm daher an der Zeit, umzukehren. Bei seinem gemächlichen Dahinschlendern war er nur zwei Fußgängern begegnet, von denen der eine ihn, den andern er überholt hatte. Als Pearson umkehrte, war der Weg nicht mehr zu erkennen. Offenbar hatte er unbewußt einen Seitenpfad eingeschlagen.

Hier und da säumte ein einsames Landhäuschen den Weg. Eines dieser Häuschen, welches etwas zurücklag und ein kleines Vorgärtchen besaß, fiel ihm durch ein merkwürdig hell erleuchtetes Fenster auf. Ein Paar Vorhänge dämpften das Licht nach außen. Aber offenbar war einer dieser Stores zu hastig zugezogen worden, so daß ein Teil des schmalen Fensters ungeschützt blieb. Dadurch wurde für einen gewandten Beobachter der Blick in das Zimmer von einer bestimmten Stelle aus frei.

Er konnte sich in späterer Zeit keine Rechenschaft geben über die Neugier, die ihn veranlaßte, durch die Gartentür dieses Landhäuschens zu schleichen, wo die unverhängte Stelle des Fensters seine Blicke magnetisch auf sich lenkte. Ein winziges, höchst bescheiden eingerichtetes Zimmer tat sich dort vor ihm auf. Ein Mann und eine Frau standen, in geheimnisvolle Unterhaltung vertieft, an einem kleinen Tisch, auf dem eine sehr helle Lampe brannte.

Die Frau hatte dem Beschauer den Rücken zugewendet, dem Manne jedoch konnte er ins Gesicht sehen. Es war ein roh aussehender Kerl, dessen Gesicht durch einen großen Bart derartig zugedeckt war, daß man die Züge kaum erkennen konnte; er trug die Kleidung eines Arbeiters. Der Mann sprach heftig auf seine Gefährtin ein, wobei er lebhaft mit den Armen fuchtelte. Der Kleidung nach war er Engländer, die hastige Gebärdensprache deutete jedoch auf einen Ausländer. Wie konnte man annehmen, daß in dieser nur von Einheimischen bevölkerten Gegend ein Ausländer ein Landhäuschen bewohnen sollte?

Zuerst konnte Pearson das Gesicht der Frau nicht erkennen, da sie ihm den Rücken zudrehte, obgleich ihm die Erscheinung als solche nicht unbekannt vorkam. Da wechselte sie plötzlich ihre Stellung, so daß er ihr voll ins Gesicht sehen konnte. Aber wer beschreibt Pearsons Bestürzung, als er schlaglichtartig die ihm wohlvertrauten Gesichtszüge der Signora Mattelli erkannte!

Was für ein neues Geheimnis kündigte sich hier an? Was hatte sie zu so später Stunde in diesem armseligen Hause in Gemeinschaft dieses Kerls zu tun? Nach oberflächlicher Berechnung war das kleine Landhaus etwa eine Meile von jener Stelle entfernt, an der Pearson umgekehrt war. Signora Mattelli mußte also kurz nach ihm das Hotel verlassen haben und in einer bestimmten Entfernung hinter ihm hergegangen sein. War sie in Erwartung dieses geheimnisvollen Stelldicheins bei Tisch so ernst und in Gedanken versunken gewesen?

Nun, er wollte seine Beobachtung bis zum Ende fortsetzen und warten, bis die Italienerin herauskommen würde. Etwas weiter oben an dem Weg war ein ganz ähnliches kleines Landhaus, dessen Giebel an einen schmalen Pfad grenzte, der zu einem Bauernhaus führte. In diesem Versteck wollte er sich verbergen. Er nahm dabei eine Stellung ein, die ihm erlaubte, die Italienerin zu beobachten, wenn sie das Haus verließ.

Pearson wartete länger als eine halbe Stunde. Endlich wurde seine Geduld belohnt. Das Licht einer Laterne schimmerte über den Weg. Der Mann schritt durch den Garten und leuchtete nach vorwärts und rückwärts alles ab, um sich zu vergewissern, daß nach beiden Richtungen die Luft rein war. Als er seiner Sache sicher zu sein glaubte, ließ er einen leisen Pfiff ertönen.

Kurz darauf trat die Italienerin heraus, wechselte noch rasch ein paar Worte mit dem Manne und entfernte sich dann rasch in der Richtung auf Scarborough zu.

Pearson wartete noch fünf Minuten und folgte ihr dann langsam, so daß sie reichlich Zeit hatte, das Hotel vor ihm zu erreichen.

Als er zurückkam, ging er zuerst auf sein Zimmer und begab sich dann in die Halle, wo er Frau Mattelli in der Gesellschaft von Herrn und Frau Knott anzutreffen hoffte, da das Ehepaar selten nach Tisch ausging.

»Ist die Signora nicht bei Ihnen?« fragte er die Brillantendame, die infolge des Ausbleibens ihrer Freundin ziemlich teilnahmlos und gelangweilt dreinschaute.

»Nein, sie ist zu Bett gegangen. Vor ungefähr einer Viertelstunde kam sie von einem langen Spaziergang zurück, von dem sie gehofft hatte, daß er ihr gut tun würde. Sie hatte sich bei Tisch unwohl gefühlt. Dadurch haben wir jetzt zwei Patienten im Hotel, Signora Mattelli und Miß Thurston. Beides so angenehme Menschen, daß man sie ungern vermißt.«

Pearson machte einige Bemerkungen und empfahl sich dann, um in den Salon hinaufzugehen. Denn er hatte das Empfinden, als müsse er Frau Thurston und ihrer Schwester noch ein wenig Gesellschaft leisten.

Am nächsten Morgen teilte Ceciles Mutter ihm mit, daß es ihrer Tochter viel besser gehe. Der quälende Schmerz sei vorüber; doch infolge der schlaflosen Nacht sei sie sehr müde. Deshalb wolle sie bis nach dem Lunch auf ihrem Zimmer bleiben und erst am Nachmittag herunterkommen.

Kurz darauf traf er Frau Knott und ihre Freundin in der Halle. Die Signora wollte mit einem Frühzug nach London fahren, und Frau Knott wollte sie zur Bahn begleiten.

Pearson war sich nicht klar darüber, ob er der schönen Italienerin, wenn er sie allein getroffen hätte, gesagt haben würde, daß er sie vergangene Nacht aus jenem kleinen Landhaus hätte herauskommen sehen. Die Erklärung, zu der sie sich wohl verpflichtet gefühlt hätte, hätte schwerlich den Tatsachen entsprochen.

Signora Mattelli streckte ihm freundlich die Hand entgegen. »Leben Sie wohl, Mister Pearson, vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder. Sie und Miß Thurston machten mir den Aufenthalt sehr angenehm, als ich hierher kam. Es tut mir sehr leid, zu hören, daß Ihre Braut unpäßlich ist. Ich hatte sie so gern, und ich wünschte, sie hätte mir erlaubt, sie auch weiterhin gern zu haben. Bitte bestellen Sie ihr meine Grüße.«

Sie tat erstaunlich unbesorgt und hatte sich sehr in der Gewalt, doch wußte Pearson, daß er diese Selbstbeherrschung mit wenigen Worten hätte erschüttern und daß er Frau Mattelli in die Abwehrstellung hätte drängen können, mochte sie auch noch so gewandt auftreten. Aber alles, was er in diesem Augenblick tun konnte war, sich artig über ihre Hand zu beugen und ihr gute Reise zu wünschen. Wie abgeschmackt kam ihm dies vor!

Pearson hatte verabredet, am Nachmittag mit den beiden älteren Damen und Cecile eine Autofahrt zu unternehmen. Thurston würde nicht viel vor dem Mittagessen zurück sein. Dadurch hatte er den Vormittag für sich und wollte an den Strand hinunterbummeln.

Kurz vor dem Lunch kehrte er von dort zurück und traf in der Halle auf eine Gruppe aufgeregter Menschen, in deren Mitte Frau Knott stand, die an der Seite ihres Gatten mit großer Zungenfertigkeit auf einen Polizei-Inspektor einredete.

Es herrschte ein solches Durcheinander, daß Pearson den Redestrom der aufgeregten Frau Knott nicht verstehen konnte. Er wandte sich daher an einen Hotelgast, mit dem er hin und wieder ein paar Worte gewechselt hatte.

»Es geht ja hier zu wie in einem aufgestöberten Ameisenhaufen! Was um Himmelswillen ist vorgefallen?«

Die Erklärung gaben ein paar lapidare Worte: »Frau Knott's Schmuck ist gestohlen worden; beinahe alle ihre Ringe, das kostbare Diamantenhalsband und das ebenso kostbare Perlenkollier, alles wurde gestohlen, während sie heute morgen ausgegangen war!«

Und Pearsons Gedanken schweiften blitzartig zu jenem brutalen Kerl, der englische Arbeiterkleidung trug, sonst aber die theatralischen Gebärden des Südländers erkennen ließ, und der Signora Mattelli in der vergangenen Nacht aus jenem kleinen Landhaus den Weg gewiesen hatte.


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