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IV

In der Bar eines kleinen Hotels bei Scotland Yard, das stark von Mitgliedern der Geheimpolizei besucht war, saßen zwei Herren. Es war am Tage nach der Zusammenkunft zwischen Thurston und seinem jungen Freund Pearson in Whitehall Court, als sie über den geheimnisvollen Tod Valroses gesprochen hatten. Die beiden Herren waren Joseph Shaddock, der bekannte Detektiv, und Kenneth Pearson. Shaddock war ein intelligenter Mensch von etwa 45 Jahren, mit rundem Gesicht, doch war sein Äußeres sonst keineswegs typisch für seinen Beruf. Er erweckte eher den Eindruck eines Schauspielers. Aber trotz seiner harmlosen Erscheinung war er einer der schärfsten und gewandtesten Männer des Yards, und seine tiefen grauen Augen waren so durchdringend, daß Leute mit schlechtem Gewissen diesem Blick unwiderstehlich erlagen. Seine Art zu sprechen war schwerfällig und eher etwas pedantisch, und obgleich er den Eindruck absolutester Offenheit machte, war er um so zurückhaltender, wenn die Klugheit dies erheischte. Aus seiner jovialen Art konnte man schließen, daß er ein gut Teil geistiger Getränke vertrug; doch der Alkohol löste nie seine Zunge, noch verleitete er ihn, ein Geheimnis preiszugeben.

»Ihre Annahme ist zweifellos richtig,« sagte er, als Pearson ihm seine Eindrücke mitgeteilt hatte. »Er ist das Opfer eines Verbrechens, dessen Motive wir vielleicht erraten, aber schwerlich je werden ergründen können. Es gibt eine Unmenge geheimer Gesellschaften, für die es nicht mehr bedeutet, einen Mord zu begehen, als ein Licht auszublasen. Es ist durchaus möglich, daß sogar die Leichenschau keine Anhaltspunkte zeitigen wird. Man kennt eine ganze Reihe von Giften, die keine Spuren im Körper hinterlassen. Heutigen Tages arbeitet man nicht mehr mit so plumpen Methoden wie Arsenik und Strychnin. Die überläßt man den Alltagsverbrechern.«

»Ich nehme an, daß durch den Vater und den Bruder die Vergangenheit Valroses ein wenig geklärt werden wird,« meinte Pearson.

Der Detektiv zuckte die Achseln. »Darüber läßt sich nichts sagen, und ich weiß wirklich nichts über den Fall; er wird von meinem Kollegen Berenger bearbeitet. Sie können überzeugt sein, daß dieser alles, was menschenmöglich ist, ermitteln wird. Doch über diese Leute, die ein geheimnisvolles Leben führen, und Valrose kann unbedingt unter sie gerechnet werden, wissen die Verwandten in der Regel am wenigsten.«

»Glauben Sie, daß ich bei der gerichtlichen Untersuchung irgendwie von Nutzen sein kann? Oder vielleicht eher noch sein Freund Thurston, von dem ich sprach? Es ist erwiesen, daß Valrose eine Lügengeschichte über seine Vermögenslage und seinen angeblich toten Vater zusammengebraut hat, die er Thurston auftischte, als sie sich in Rom kennen lernten.«

»Das mag schon sein,« erwiderte der Detektiv. »Ich will es jedenfalls Berenger mitteilen, und hält er es für nötig, wird er Sie beide vorladen lassen. Auf alle Fälle wird es zweckdienlich sein, so viel wie möglich Material über Valrose zusammenzutragen.«

Nachdem sich die beiden Männer getrennt hatten, rief Pearson Thurston an und teilte ihm mit, daß er seinen alten Bekannten Shaddock getroffen habe, und daß sie beide wahrscheinlich als Zeugen vorgeladen würden.

Thurston antwortete ziemlich kurz angebunden, daß er nicht einzusehen vermöge, was für einen Nutzen ihr dürftiges Zeugnis haben sollte. Aus seinem Benehmen schloß Pearson, daß es Thurston etwas verdroß, in diese Affäre hineingezogen worden zu sein, und der junge Mann bedauerte, daß er es gewesen war, der dem Detektiv diesen Vorschlag gemacht hatte. Nichts auf der Welt hätte ihm unangenehmer sein können, als Ceciles Vater gegen sich aufzubringen. Er berichtete noch, daß Shaddock ihn über sein letztes Zusammentreffen mit Valrose befragt habe und daß dabei Thurstons Name genannt worden sei.

Thurston nahm Pearsons Entschuldigung zuletzt ganz freundlich auf. Er sagte nur, daß er mehrere recht arbeitsreiche Tage vor sich habe, und daß es einen Schaden für ihn bedeuten würde, wenn er seine Geschäfte aufschieben müßte, um so mehr, als er nicht einsehen könne, was er bei der Sache nützen solle. Doch wenn er vorgeladen werde, müsse er natürlich gute Miene zum bösen Spiel machen. Er schloß, indem er Pearson bat, ihn an das Frühstück in der City zu erinnern, das er auf einen Tag am Ende der kommenden Woche anberaumt hatte.

Bald darauf erhielten die beiden Herren ihre Vorladung vor den Untersuchungsrichter. Von besonderer Bedeutung war die Aussage der beiden Ärzte, welche die Leichenschau vorgenommen hatten. Sie hatten nicht die geringsten Anhaltspunkte entdecken können, daß der Tote das Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte. Mit Ausnahme des Herzens, das allerdings hochgradig angegriffen war, befanden sich die übrigen Organe in gesundem Zustand. Es sei also wohl möglich, daß der Tod durch Herzschlag eingetreten ist. Aber aus der Art, wie sie ihre Aussagen machten, war leicht zu erkennen, daß sie von der Unwiderlegbarkeit ihrer Gutachten durchaus nicht überzeugt waren.

Ihnen folgten Kenneth Pearson und Thurston, welche nichts Neues anzugeben wußten; das Zeugnis Thurstons bewies einwandfrei, daß Arthur Valrose absichtlich Unwahres über sich erzählt hatte.

Alsdann wurde der Leiter der Piccadilly-Filiale der Consolidated Bank vernommen. Ein lebhafter Mann in mittleren Jahren, welcher seine Aussagen in kurzer, knapper Form machte, wie jemand, der nicht leicht aus der Fassung zu bringen ist.

Er bezeugte, daß Arthur Valrose seit etwa vier Jahren ein Konto bei der Bank hatte.

»Ich nehme an, daß er bei dieser Gelegenheit die allgemein üblichen Auskünfte gegeben hat?« warf der Untersuchungsrichter ein.

Die Antwort fiel anders aus als erwartet. »Wir verlangten keine Referenzen, denn wir betrachteten die Art seiner Einführung als genügende Gewähr für seine Achtbarkeit. Ein sehr alter Kunde von uns, Mister Cornwallis, ein bekanntes Mitglied der Getreide-Börse, führte ihn uns zu. Mister Cornwallis starb vergangenes Jahr.«

»Nahmen Sie damals oder später an, daß dieser Herr mit Ihrem neuen Klienten gut bekannt war?«

»Als er ihn einführte, sprach er von Valrose als einem Gentleman von gutem Ruf, dem man vertrauen könne; er erzählte mir, daß Valrose ein unabhängiges Einkommen habe, so daß er ohne festen Beruf leben könne, und daß er die größte Zeit seines Lebens damit zubringe, zu seinem Vergnügen auf dem Kontinent herumzureisen. Ein paarmal, als Cornwallis sich in der Bank aufhielt, wurde der Name von Mister Valrose genannt. Doch sonstige Aufschlüsse über ihn gab Cornwallis nicht. Aus einer hingeworfenen Bemerkung schloß ich, daß er ganz zufällig seine Bekanntschaft in einem Hotel in Bornemouth gemacht hatte, wo beide gewohnt hatten, und daß die Bekanntschaft erneuert wurde, als sie sich in London wieder trafen. Er schien viel von Valrose zu halten und erwähnte, daß er ihn für einen seiner Klubs vorgeschlagen habe.«

»Es macht den Eindruck, daß Mister Cornwallis, wie viele andere Leute auch, ihm sein Vertrauen geschenkt hatten, ohne Bestimmtes über ihn zu wissen,« bemerkte der Richter. »Wollen Sie nun die Güte haben, Mister Gates, uns zu sagen, ob Sie während der Dauer der geschäftlichen Verbindung irgend etwas Auffälliges an dem Konto bemerkt haben? War irgendein Hinweis da, aus welchen Quellen sein Einkommen floß? Erinnern Sie sich zufällig – runde Zahlen genügen –, wie hoch der durchschnittliche Betrag war, den er jährlich einzahlte?«

»Etwas über tausend Pfund, möchte ich sagen. Kaum jemals weniger, manchmal auch etwas mehr. Da Sie die Frage an mich richten, so muß ich allerdings auf eine etwas sonderbare Geschäftspraxis hinweisen, nämlich daß jeder Betrag in Banknoten bar auf das Konto eingezahlt wurde. Nicht ein einziges Mal ging ein auf ihn ausgestellter Scheck durch unsere Hände.«

»Im Zusammenhang mit anderen Umständen sieht das allerdings verdächtig aus. Wenn seine Behauptung gestimmt hätte, daß er im Besitz eines mehr oder weniger festen Einkommens war, hätten Sie dann erwartet, daß er das Geld in Schecks und in regelmäßigen Abständen erhalten hätte?«

»Gewiß,« gab der Bankdirektor zurück. »Und auffällig ist weiterhin, daß diese verschiedenen Zahlungen sehr unregelmäßig einliefen. Manchmal wurde monatelang nichts eingezahlt, dann wieder eine größere Summe auf einmal. Und diese Einzahlungen wurden stets durch ihn selbst gemacht, ich vermute bei seiner Anwesenheit in London. Er überwies uns nie Geld von auswärts.«

»Und wie war es mit den Schecks, die er anwies? Waren diese auf verschiedene Leute ausgestellt?«

»Ich glaube nicht, daß das häufig der Fall war. Seine Gewohnheit schien zu sein, Schecks in beträchtlicher Höhe auszustellen, mit denen er, wie ich annehme, seine Ausgaben bestritt, wenn er auf Reisen war. Die meisten dieser Schecks machte er auswärts zu Geld, und sie kamen in der richtigen Zeit bei uns zur Abrechnung vor.«

»Ich nehme an, Mister Gates, daß es nicht Ihre Gewohnheit ist, die Darlegungen Ihrer Kunden übertrieben scharf nachzuprüfen. Doch ich sollte denken, Sie müßten bemerkt haben, daß die Angabe des Herrn Valrose, er besitze private Mittel, eine Irreführung gewesen ist. Seine Einnahmen müssen ihm doch offenbar aus irgendwelchen Geschäften oder sonstigen Quellen zugeflossen sein, die er bemüht war zu verbergen?«

Der Bankdirektor stimmte zu. »Natürlich hatte ich meine Zweifel. Ich möchte jedoch sagen, daß das Konto korrekt und einwandfrei geführt wurde. Nie bat er uns um einen Dienst, verlangte nie eine Hilfe und überzog nie sein Konto.«

»Eine nicht alltägliche Erfahrung für Banken, vermute ich,« sagte lächelnd der Richter.

»Gewiß nicht,« war die Antwort. »Für gewöhnlich hielt er alles in gutem Gleichgewicht. Manchmal war das Konto klein, aber nicht oft. Gegenwärtig besteht ein Guthaben von 60 Pfund, aber meist war es ein gut Teil mehr.«

Damit endete das Verhör des Bankbeamten, und ein Schauer der Erwartung durchlief den Gerichtssaal, als der Name von Dr. Valrose aufgerufen wurde. Gewiß würde jetzt Näheres über die Vergangenheit des Toten bekannt werden. Der Doktor, ein weißhaariger Herr in den sechziger Jahren, gab sein Zeugnis langsam und mit einem gewissen Widerstreben.

Arthur Valrose war der jüngere seiner beiden Söhne; James, der ihn in seiner Praxis unterstützte, war fünfzehn Jahre älter. Seit seiner Knabenzeit war Arthur nervös und schwer zu behandeln, störrisch in der Schule, und besaß keine Neigung, sich ernstlich mit irgendetwas zu beschäftigen. Mit achtzehn Jahren trat er in das Büro eines bekannten Zivil-Ingenieurs ein. Er war länger als zwei Jahre dort und die Familie begann zu hoffen, daß er ein neues Leben beginnen wolle und sich zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft entwickeln würde. Diese schönen Hoffnungen aber erwiesen sich als vollkommen irrig. Am Ende des zweiten Jahres verließ Arthur das Büro, ohne diese Absicht auch nur angedeutet zu haben. Eine Woche später kam ein Brief aus Paris, ohne Absender-Anschrift, in dem er mitteilte, daß er des eintönigen Lebens müde und entschlossen sei, sich sein Leben selbst aufzubauen. Er werde seiner Familie nicht weiter zur Last fallen, und das beste, was sie tun könnten, sei, ihn zu vergessen.

Von jenem Tage an hatten sie ihn nicht mehr gesehen und keine Zeile von ihm erhalten. Er war für sie wie verschollen. Die Geschichte, die er Herrn Thurston erzählt hatte, war nichts als Erfindung. Er würde bei seines Vaters Tode einen kleinen Betrag geerbt haben, aber unter solchen Umständen hatte er natürlich auch darauf keine Aussicht. Weiter wußte der alte Vater nichts über die Angelegenheiten seines Sohnes oder über dessen Freunde und Bekannte anzugeben.

Einmal in den langen Jahren der Entfremdung hatte er seine jetzt verstorbene Tante flüchtig besucht; sie war das einzige Familienglied, dem er etwas wie Anhänglichkeit bewahrt hatte. Aber obgleich sie ihn genau ausfragte, hatte er sich geweigert, irgendwelche Einzelheiten über seine Lebensweise preiszugeben, und hatte ihr nur scherzend versichert, daß er im Stande sei, sich durchzusetzen, und daß er seinen Schritt nicht bereue.

Das Zeugnis des Sohnes, Dr. James Valrose, bestätigte in allen Einzelheiten die Aussage des Vaters.

Dann kam eine ziemlich weitschweifige Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses durch den Richter. Er berührte die rätselhaften roten Punkte, beschränkte sich jedoch hauptsächlich darauf, festzustellen, daß nicht der geringste Beweis erbracht, daß Arthur Valrose einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Er sei herzkrank gewesen, und zwar schwer genug, daß ein plötzlicher Tod eintreten konnte. Die Beisitzer berieten längere Zeit; offenbar beschäftigten sie sich mit den roten Punkten, und ob dieser geheimnisvollen Erscheinung entscheidende Bedeutung beizumessen sei. Endlich verkündete der Richter das Ergebnis der Untersuchung, und dieses lautete, daß – Arthur Valrose eines natürlichen Todes gestorben sei.

Thurston hatte sofort nach seinem Zeugenverhör das Gericht verlassen und seinem jungen Freund erklärt, daß er einen sehr ausgefüllten Tag habe und daß seine Vernehmung ihm sehr ungelegen gekommen sei. Pearson blieb bis zum Schluß der Verhandlungen.

Unterdessen war Shaddock eingetreten. Nach Verkündung des Ergebnisses näherte er sich Pearson. Er war in Begleitung seines Kollegen Berenger, der den Fall bearbeitete. Dieser, ein Mann mit einer Habichtnase, war im Gegensatz zu Shaddock die Idealgestalt eines Detektivs. Shaddock machte die beiden Männer miteinander bekannt.

»Was halten Sie von der Geschichte?« wandte sich Pearson an Berenger.

»Ich stimme durchaus nicht mit dem Richter überein,« bemerkte dieser kritisch.

»Angesichts der ärztlichen Gutachten war der Befund vielleicht begreiflich,« warf Shaddock ein, »doch ich teile die Ansicht meines Kollegen, daß ein ernster Zweifel am Platze ist. Jedenfalls betreiben wir die Aufklärung des Falles weiter und werden festzustellen versuchen, womit Valrose seinen Unterhalt bestritt und wer seine Helfershelfer waren. Sehr verdächtig ist jener Punkt, daß alle Zahlungen an die Bank in barem Gelde gemacht worden sind. Es sieht nicht so aus, als ob er sein Geld mit redlicher Arbeit verdient hätte.«

Pearson stimmte zu und erzählte dem Detektiv, was er von Thurston über Van Steins erfahren habe, in dessen Hause er den Verstorbenen kennengelernt hatte, und der im Verdacht stand, ein Mann von extremen politischen Ansichten zu sein.

Shaddock zog sein Notizbuch und trug die Adresse des Holländers darin ein. »Vielen Dank, Mister Pearson, ich glaube, daß das, was Sie uns mitteilten, sehr von Nutzen sein wird. Wir stehen mit den ausländischen Polizeibehörden zumeist auf gutem Fuße, und ich glaube, daß wir mit deren Hilfe auf die Spur seiner ausländischen Helfershelfer gelangen werden. Es ist ziemlich sicher, daß seine Geschäfte keine ehrlichen waren, und daß sie im Auslande betrieben wurden. Gern hätte ich gewußt, ob er im eigenen Lande viele Spießgesellen hatte.

»Nun, Glück auf,« sagte Pearson, als er sich von den beiden Männern verabschiedete. Pearson hatte jedoch noch ein Anliegen, und da Shaddock der zugänglichere der beiden Kollegen war, nahm der junge Mann ihn beiseite: »Falls Ihnen Erfolg beschieden sein sollte, wäre ich sehr dankbar, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten würden. Ich habe Valrose nur oberflächlich gekannt, aber der Fall interessiert mich über die Maßen, und es würde mich sehr beruhigen, wenn die Ermittlungen vorwärtsschreiten sollten.«

Shaddock flüsterte Pearson zu, daß er gern seinen Wunsch erfüllen würde. Vielleicht war es nicht ganz den Gepflogenheiten entsprechend, Dilettanten ins Vertrauen zu ziehen. Aber Pearson war ihm sympathisch, und er wußte, daß er sich auf dessen Verschwiegenheit verlassen könne. Außerdem hatte er Pearson eine wertvolle Information über den holländischen Gelehrten Van Steins zu verdanken.

Die Zeit war rasch herumgegangen. Ein paar Tage später war der Empfangstag von Frau Thurston, und Pearson machte seinen Besuch in Whitehall Court. Als er eintrat, war nur noch ein anderer Besuch da, eine ältere Dame, die mit der Hausfrau sehr befreundet zu sein schien. Nach der Begrüßung suchte er natürlich Cecile auf, die ihn strahlend willkommen hieß.

Er war erfreut, zu bemerken, daß sie wieder die alte war und die Gewissensbisse überwunden zu haben schien, welche sie bei ihrem letzten Zusammensein gepeinigt hatten. Der Fall Arthur Valrose und die überraschende Entscheidung, welche die Verhandlung gebracht hatte, wurden im Laufe der Unterhaltung oberflächlich erwähnt, doch Cecile waren jetzt keinerlei Anzeichen von Erregung mehr anzumerken.

Während sie plauderten, befestigte sich sein erster Eindruck, den er von ihr gehabt hatte. Sie zeigte sich wieder als ganz modernes Mädchen, das am Sport, an Tennis wie an Golf, Gefallen fand. Sie hatte eine Schwäche für Bridge, doch unterließ sie nicht zu betonen, daß sie nie mit hohem Einsatz spiele. Für Wasser hatte sie eine große Vorliebe und freute sich, daß ihr Vater ein Haus in Maidenhead mieten wollte, wenn auch nicht in diesem Jahre, so doch im folgenden.

»Ich hätte mir einen Ort weiter oberhalb des Flusses gewünscht,« sagte sie, »aber die Schwierigkeit liegt bei Väterchen. Er ist ein Sklave seines Geschäfts, geht frühmorgens in sein Büro, kommt spät zurück und würde beständig voller Unruhe sein, wenn er weit entfernt von London wäre. Er ist unglücklich, wenn er es nicht innerhalb einer Stunde erreichen kann. Ich glaube, wenn er nach seinem Geschmack leben könnte und nicht sein Weibervolk zu berücksichtigen brauchte, würde er in seinem Geschäft wohnen.«

Pearson stimmte einer solchen Auffassung nicht zu. Er meinte, diese Hingabe an den Beruf müsse einem Menschen vieles nehmen, was das Leben wertvoll mache. Er persönlich verachtete den Müßiggang und begrüßte es, eine Tätigkeit zu haben, die einen Teil seiner Kräfte in Anspruch nahm. Doch fand er, daß eine vernünftige Ablenkung Hand in Hand mit der Arbeit gehen müsse.

Ceciles Schwarm für das Wasser hatte in ihm einen Gedanken reifen lassen, den er schon lange mit sich herumtrug. Er wollte um jeden Preis mit diesem reizenden Mädchen intimer bekannt werden, und hier bot sich eine Gelegenheit, die er nicht ungenutzt vorübergehen lassen durfte.

»Auch ich liebe das Wasser sehr,« sagte er; »es würde mir eine große Freude machen, wenn ich Sie und Ihre Frau Mutter an einem der nächsten Tage nach – sagen wir: Hampton Court fahren dürfte. Wir haben anscheinend eine Periode guten Wetters, doch in unserm Klima weiß man nie, wie lange sie dauert.«

Miß Thurston errötete leicht bei dieser ziemlich unverblümten Andeutung, daß der liebenswürdige junge Mann sich zu ihr hingezogen fühlte. »Ich würde glücklich darüber sein«, sagte sie aufrichtig. »Und ich bin überzeugt, daß Mutter auch sehr gern dabei sein wird. Freilich faßt sie das Leben viel ruhiger auf als ich, da sie einen ausgeglicheneren Charakter hat. Doch freut sie sich in ihrer stillvergnügten Weise.«

»Glauben Sie, daß man Ihren Vater überreden kann, mit von der Partie zu sein?«

Cecile verzog ein wenig das Gesicht. »Keine zehn Pferde wären im Stande, Väterchen tagsüber von seinem Geschäft abzulenken. So viel ich weiß, macht er nur einmal im Jahre eine Ausnahme, und zwar bei der Eröffnung der Royal Academy. Mister Smirke, ein Angehöriger der Academy, schickt uns dazu Eintrittskarten. Für diesen besonderen Zweck bringt Väterchen das Opfer. Aber dieses ist, glaube ich, nicht so groß wie es scheint, denn er verehrt die Kunst. Sie ist seine einzige Passion. Dann auch noch die Musik, aber doch erst sehr in zweiter Linie.«

In diesem Augenblick verabschiedete sich der andere Besuch, und Pearson trug Frau Thurston sogleich seine Bitte vor. Die Dame des Hauses sagte in ihrer gemessenen Art zu – für ihre Verhältnisse liebenswürdig genug. Es schien dem jungen Mann aber doch, als werde er nie mit Ceciles Mutter warm werden können. Immerhin gewann sie bei näherer Bekanntschaft unleugbar.

Sie setzten den folgenden Tag fest. Die Befürchtung eines Witterungsumschlags ließ dies ratsam erscheinen. Um der Form zu genügen, sollte Frau Thurston ihren Gatten auffordern, sich der Partie anzuschließen; aber sie war von der Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen überzeugt.

Ein strahlender, sonniger Morgen brach an. Ein wolkenloser Himmel und leichter Morgentau versprachen einen herrlichen Sommertag. Pearson, beglückt in der Vorahnung des Kommenden, steuerte seinen Wagen nach Whitehall Court, wo die Damen ihn erwarteten. Wie Frau Thurston vorausgesagt, war die Aufforderung an ihren Mann ohne Erfolg gewesen, doch gab er ihnen alle möglichen guten Wünsche mit auf den Weg. Und um dem glücklichen Tag einen schönen Abschluß zu geben, bestand er darauf, daß Pearson am Abend bei ihnen speise.

Der junge Mann besann sich nicht lange, diesen gastlichen Vorschlag anzunehmen, der ihm erlaubte, mindestens ein Dutzend Stunden in der Gesellschaft des von ihm so sehr verehrten jungen Mädchens zu verbringen. Sie fuhren nach Hampton Court, durch Richmond Park und Kingston, und frühstückten behaglich in dem am Ufer gelegenen ausgezeichneten Hotel, das den Namen »The Mitre« führte.

Dem Frühstück folgte ein langer träger Nachmittag, den sie auf dem in dem herrlichen Sonnenschein dieses prächtigen Sommertages köstlich einladenden Wasser verbrachten. Später kehrten sie zum »Mitre« zurück, um Tee zu trinken. Cecile schien sich prachtvoll zu unterhalten; nie fühlte sie sich glücklicher als am Wasser, gestand sie ihrem Begleiter. Wie es sich für ein modernes Mädchen geziemte, rauchte sie eine Zigarette. Frau Thurston, die diese Gewohnheit ihrer Tochter stillschweigend duldete, lehnte für sich natürlich ab. Dann ging's gemächlich nach Hause, wo sich Pearson auf kurze Zeit verabschiedete, um sich nach Duke Street zurückzubegeben und sich zum Diner umzukleiden.

Natürlich kam Thurston wieder verspätet zu der Mahlzeit, eine Gewohnheit, die so tief eingewurzelt war, daß es die Familie schon längst nicht mehr störte. Er begrüßte seinen Gast mit großer Zuvorkommenheit und ließ sich gern berichten, wie sie den Tag verbracht hatten. Cecile gab eine begeisterte Schilderung von den Herrlichkeiten, denen sie begegnet waren.

Thurston betrachtete sie liebevoll. Offenbar hatte sein reizendes Töchterchen einen sehr warmen Platz in seinem Herzen.

»Du schwärmst wieder einmal für das Wasser, mein gutes Kind,« sagte er väterlich. »Fast habe ich Gewissensbisse, dir dieses Vergnügen bisher nicht öfter gegönnt zu haben. Der Juni ist noch nicht zu Ende; wir haben noch ein paar Sommermonate vor uns. Ich las heute morgen die Anzeige über einen eingerichteten Landsitz, die so klingt, als ob es etwas für uns sein könnte. Es ist in Shepperton; doch ich bilde mir ein, daß dir das nicht weit genug draußen ist.«

Er blickte seine Frau an, während er die letzten Sätze aussprach; doch Pearson hatte den schelmischen Verdacht, daß er eigentlich seine Tochter meinte. Nach ihrer Antwort zu schließen, dachte Frau Thurston vielleicht ebenso.

»Wir wollen Cecile entscheiden lassen. Ich habe das Wasser ja sehr gern, aber die Enthusiastin ist sie.«

Das junge Mädchen sprühte vor Freude. »Aber liebes Väterchen, ich wäre ganz selig, es ist so unverfälscht ländlich dort. Es wäre mir kein angenehmer Gedanke, wenn es noch weiter oberhalb wäre, denn du würdest dich dann tagtäglich über den weiten Weg in die City ärgern. Ich fürchte, wir würden dann um Mitternacht zu Mittag essen,« schloß sie heiter.

»Schön!« sagte ihr Vater, »ihr beide fahrt dann morgen mit dem Auto hin und seht, ob der Platz euch paßt. Wenn das Gutachten günstig ausfällt, werde ich die Sache bald in Ordnung bringen.«

Nach dem Diner wurde im Salon musiziert. Cecile, die in seligster Stimmung war über den Entschluß ihres Vaters, einen ihrer Lieblingswünsche zu erfüllen, spielte alles, was Pearson wünschte, und sang mit ihrer wohlklingenden Stimme einige Lieder. Es bestätigte sich, daß sie ihre Talente richtig eingeschätzt hatte. Im Klavierspiel hatte sie es weiter gebracht, obgleich auch ihr Gesang in seiner bestrickenden Lieblichkeit Größeres für die Zukunft erwarten ließ.

Als Pearson an jenem Abend heimkehrte, wußte er, daß ihn starke Zuneigung zu Cecile ergriffen hatte, und er war sich gewiß, ihre Gegenliebe zu besitzen.

Als er am folgenden Mittwoch seinen Besuch in Whitehall Court machte, erfuhr er, daß die Damen ihre Besichtigungsreise ausgeführt hatten, daß sie entzückt von dem Hause waren, daß Thurston in wenigen Tagen die Angelegenheit geordnet hatte und sie Anfang der kommenden Woche übersiedeln würden.

»Wir werden bald eingerichtet sein,« meinte Frau Thurston, »und sobald wir es sind, müssen Sie auf eine Woche zu uns herauskommen. Falls Sie nicht so lange von Ihrem Geschäft fortbleiben können, ist es nicht anstrengend für Sie, jeden Tag in die Stadt zu fahren und zu Tisch wieder draußen zu sein. Wir haben ja jetzt die langen Sommerabende.«

»Ich hoffe, Sie werden zeitiger zurückkommen als Väterchen,« fügte Cecile hinzu und errötete dann ein bißchen bei dem Gedanken, daß sie vielleicht etwas Unüberlegtes gesagt habe.

Einige Tage, nachdem die Damen in Shepperton eingetroffen waren, erhielt Pearson ein paar herzliche Zeilen von Frau Thurston, ihn an die Verabredung zu erinnern. Er würde erwartet, sobald es ihm möglich wäre. Pearson, der diese Einladung sofort beantwortete, fing an, auch Tugenden bei der Mutter zu entdecken. Es war offenbar, daß diese reizende Familie bereit war, ihn in ihre Arme zu schließen, und er selbst war mehr als geneigt, sie gewähren zu lassen. Wie auch immer die geheimnisvolle Vergangenheit des armen Valrose gewesen sein mochte – Pearson schuldete seinem verstorbenen Freund für die Einführung großen Dank.

Am Morgen des Tages, an dem er nach Shepperton fuhr, brachte ihm die Post ein paar Zeilen seines Freundes Shaddock.

»Lieber Herr Pearson, wenn Sie frei sind, kommen Sie doch morgen um zwölf Uhr an die gewohnte Stelle. Wenn es nicht möglich ist, dann am folgenden Tage. Ich habe Ihnen etwas Interessantes über das Geheimnis des Falles Valrose mitzuteilen.

Ihr ergebener
J. Shaddock.«


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