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XI

Als der unglückliche Mann wieder zur Besinnung kam, fand er sich in seinem Zimmer zu Bett liegend vor. Neben ihm saß eine barmherzige Schwester. Er fühlte sich hochgradig erschöpft, und als er zu sprechen versuchte, konnte er nur ein schwaches Flüstern hervorbringen. In seinem erwachenden Bewußtsein tauchte mühsam die Erinnerung an jene unheilvollen Begebenheiten auf, welche sich vor undenkbarer Zeit abgespielt hatten – das boshafte Gesicht des Kellners Berton, sein eiserner Griff um Pearsons Hand, die ihm ins Gesicht gespritzte Flüssigkeit, das furchtbare Dröhnen in seinem Kopf.

»Wie lange liege ich schon hier, Schwester?« hauchte er mit zitternder Stimme.

Sie bedeutete Pearson, sich ruhig zu verhalten. »Sie dürfen noch nicht viel sprechen,« antwortete sie. »Doch Sie möchten natürlich das Wichtigste wissen. Sie verstehen offenbar nicht gut französisch. Ich will Ihren Freund anrufen. Er befindet sich im Hotel und wird gleich hier sein und Ihnen alles sagen, was Sie zu wissen wünschen.«

Kurz darauf trat Thurston auf den Zehenspitzen ein. Er strahlte vor Freude über die Mitteilung der Schwester.

»Gott sei Dank, lieber Junge, daß du wenigstens am Leben bist,« rief er aus, beugte sich über das Bett und ergriff Pearsons abgemagerte Hand. »Beinahe eine ganze Woche hast du bewußtlos dagelegen, seit jener Schurke den mörderischen Angriff auf dich unternahm. Schau dir deine andere Hand an!«

Pearson bemerkte zu seinem maßlosen Erstaunen an jener Stelle auf dem Handrücken, wo sein Angreifer so heftig zugepackt hatte, drei rote Punkte. Die gleichen Zeichen wie auf der Hand Valroses, und wie man sie auch bei dem Oberst de Boeck gefunden hatte. »Wieder diese drei roten Punkte!« keuchte der junge Mann, schwer nach Atem ringend. »Was ist aus Berton geworden?«

»Er hat sich, als er dich am Boden liegen sah und für tot hielt, jedenfalls sofort aus dem Staube gemacht. Unzweifelhaft hatte der Schurke einen Mord geplant. Mein Gott, welch' ein Irrtum, daß ich mich trotz seiner abschreckenden Physiognomie noch immer von ihm blenden ließ! Du bist etwa eine Stunde nach dem Überfall durch einen Angestellten des Hotels, der zufällig dein Zimmer betrat, aufgefunden worden. Sie wußten zuerst nicht, wo sie mich finden sollten, doch hatten sie es bald heraus. Man rief die Polizei und einen Arzt herbei. Dieser machte uns in den ersten Tagen nur wenig Hoffnung. Jetzt kann ich es dir ja sagen.«

»Und der arme Valrose mußte daran glauben! Wie bin nur ich der Gefahr entgangen?« grübelte Pearson.

»Es kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage. Entweder bist du eine eiserne Natur – oder Berton nahm in seiner Hast eine zu schwache Dosis. Die Spritze ließ er bei seiner fluchtartigen Eile auf dem Fußboden zurück. Natürlich hatte der Kerl nicht den Mut, deswegen noch einmal umzukehren.«

»Ohne Zweifel glaubte er, deine Lippen hätten sich für immer geschlossen. Daß der Verdacht auf ihn fallen würde, wußte Berton, da Jules, sein Kollege, ihn dir empfohlen hatte. In der Spritze war ein kleiner Rest an Flüssigkeit zurückgeblieben. Es wurde aber durch die Analyse kein Gift darin entdeckt, das der medizinischen Wissenschaft bekannt ist.«

»So stand also der Arzt auch bei mir vor einem Rätsel, genau wie bei Valrose?« hauchte eine matte Stimme aus dem Bett her.

»Genau so. Übrigens, ich habe dem Doktor soeben telephoniert. In einigen Minuten wird er hier sein. Er wird sich freuen, dich bei Bewußtsein zu finden.«

Der Arzt trat bei diesen letzten Worten in das Zimmer. Es war ein weißbärtiger Herr mit gewinnendem Wesen, der als Franzose recht gut englisch sprach. Er befühlte den Puls seines Patienten, untersuchte das Herz und war offenbar befriedigt.

»Sie sind mit knapper Not dem Tod entronnen, mein armer junger Freund. Doch nun ist die Gefahr vorüber, und bei Anwendung der nötigen Vorsicht wird alles wieder gut werden.«

Er wandte sich an Thurston. »Jetzt im Anfang ist Ruhe die Hauptsache, was Sie verstehen werden. Sie hatten soeben eine ganz hübsche Plauderei miteinander. Von Ihrem Standpunkt durchaus begreiflich. Aber Sie werden einsehen, daß ich Sie jetzt bitten! muß, den Patienten allein zu lassen. Hält die Besserung morgen an, können Sie ein paar Minuten länger bei ihm bleiben.«

Thurston wußte, daß der Arzt recht hatte. Sogar diese kurze Unterredung schien die Lebenskraft seines jungen Freundes beeinträchtigt zu haben. Leise verließen die beiden Herren das Zimmer.

»Ich werde morgen zeitig nach ihm sehen und der Schwester meine Anweisungen geben,« sagte der Arzt beim Abschied. »Ich bin überzeugt, ein guter, natürlicher Schlaf wird Wunder wirken.«

Die Vorhersage erfüllte sich. Als Thurston nach dem ärztlichen Besuch am folgenden Morgen leise an die Tür pochte, erfuhr er von der Pflegerin, daß es dem Patienten wesentlich besser gehe und daß er heute länger bei ihm bleiben dürfe.

Thurston setzte sich an das Bett und gab seiner Freude über die zunehmende Besserung Ausdruck. Pearson war noch sehr schwach, aber der niederschmetternde Erschöpfungszustand war mehr und mehr gewichen, und auch die Stimme war kräftiger geworden.

»Bevor du nicht wohler bist, mein lieber Kenneth, wollen wir nicht wieder von jenen unheilvollen Vorgängen sprechen. Eines möchte ich dir aber gern mitteilen. Ich selbst halte mich nicht lange bei dir auf. Es ist nämlich jemand Anderes da, der dich sehen möchte. Eine große Überraschung für dich – Cecile ist hier.«

Eine Blutwelle freudiger Überraschung schoß in das blasse Antlitz Pearsons. Thurston befürchtete fast, ihm diese Mitteilung zu unvermittelt gemacht zu haben.

»Cecile ist hier! Unmöglich!« rief er freudig erregt.

»Aber es ist trotzdem so. Höre zu! Als ich nach dem Hotel zurückkam und das Furchtbare erfuhr, was sich zugetragen hatte, und des Doktors bedenkliches Gesicht sah, schickte ich ein umfangreiches Telegramm an meine Frau und einen langen Brief an Cecile, worin ich meine Befürchtungen nicht verhehlte. Der Erfolg war, wie ich vorausgesehen hatte.«

»Cecile, mein geliebtes Mädchen bestand darauf, hierher zu kommen?« fragte der Kranke, und die Augen wurden ihm feucht.

»Von einem Mädchen wie Cecile konntest du nichts anderes erwarten. Zuerst telephonierte sie an ihre Mutter und vereinbarte mit ihr, daß sie zusammen hierher reisen wollten. Man setzte Frau Hamilton die Sachlage auseinander, und diese verhielt sich sehr würdig. Sie fuhr selbst mit Cecile nach London und übergab sie an Charing Croß Station ihrer Mutter. Der Besuch bei der Tante ist nun auf unbestimmte Zeit unterbrochen, auf alle Fälle so lange, bis du ganz wieder hergestellt bist. Als ich Cecile mitteilte, daß du wieder bei Bewußtsein seist und der Arzt sich so zuversichtlich ausgesprochen habe, war sie außer sich vor Freude und wollte sofort zu dir. Sie war dann aber vernünftig genug, einzusehen, daß das unmöglich sei. Nun drückt es ihr aber das Herz ab, dich wenigstens einen Augenblick sehen zu dürfen, und die Pflegerin hat nichts dagegen einzuwenden. Darum verabschiede ich mich für heute von dir und schicke sie dir her.«

Und in wenigen Sekunden war sie da. Infolge der Seelenangst, welche sie durch die Hiobspost ausgestanden, waren ihre Wangen blaß geworden; in den Augen ihres Verlobten war sie deshalb aber nicht weniger schön und begehrenswert.

Cecile legte ihre kräftigen Arme um Pearsons Hals. »O du Lieber, du Guter, ich war so voller Bange, so voll furchtbarer Angst, daß ich dich verlieren könnte,« hauchte sie mit versagender Stimme. »Der Arzt sagt, deine Genesung sei ein Wunder.«

Während ihres kurzen Beisammenseins sprachen sie nur wenig miteinander. Das Glück über ihre Wiedervereinigung war zu überwältigend, um es in Worte zu fassen. Ihre Liebe dürfe sie nicht selbstsüchtig machen, meinte Cecile, und sie wolle nicht lange bei ihm bleiben, denn der Arzt habe absolute Ruhe verordnet. Bei seinem immer noch bedenklichen Schwächezustand könne ihre Gegenwart, so schön es auch wäre, mit ihm zusammen zu sein, eine Gefahr für ihn bedeuten. Mit einem liebevollen Kuß nahm sie Abschied und versprach, morgen wiederzukommen. Frau Thurston sollte ihn erst besuchen, wenn er wieder kräftiger war.

Am folgenden Tag stellte der Arzt eine wesentliche Besserung fest und glaubte einen Rückfall jetzt nicht mehr befürchten zu brauchen. Gleich darauf kam Cecile und blieb diesmal länger. Am Nachmittag erschien dann Thurston zu einer kurzen Plauderei.

»Wie gut bist du zu mir gewesen!« pries ihn Pearson, dankbar seine Hand drückend.

»Nicht der Rede wert, du guter dummer Junge,« wehrte Thurston ab. »Es mag sein, daß ich ein scharfer Geschäftsmann bin, obgleich das auch nicht alle von mir behaupten, aber ein Stückchen Nächstenliebe steckt doch auch in mir. Könntest du dir vorstellen, daß ich fortgelaufen wäre und dich hätte liegen lassen? Gott sei dank ist jetzt nicht mehr vom Sterben die Rede. Darum fahre ich morgen nach London, wo ich dringend gebraucht werde. Aber meine Frau und Cecile bleiben hier und rufen mich telephonisch zurück, wenn es nötig sein sollte. Bist du erst mal so weit, daß du reisen kannst, werden wir dich mit nach Rosebank nehmen und dich dort gesund pflegen. Das ist bereits eine ausgemachte Sache.«

Pearson versuchte zu danken; doch war es ihm unmöglich, die passenden Worte zu finden. Die zärtliche Fürsorge, die ihm Vater, Mutter und Tochter entgegenbrachten, erfüllte ihn mit tiefer Bewegung.

»Und nun bist du wohl erholt genug, um die Neuigkeiten zu hören, die ich für dich habe,« begann jetzt Thurston. »Wie ich gestern schon sagte, ist es nichts besonders Wichtiges, aber interessieren wird es dich doch. Zwei Tage nach Bertons Angriff erschien dein Freund Dain. Zum Glück befand ich mich zu Hause und konnte ihm berichten, was sich ereignet hatte. Damals bestand wenig Hoffnung für deine Wiedergenesung.«

»Ja, richtig, er sagte, daß er während meines Hierseins vielleicht nach Paris kommen werde und mich dann aufsuchen wolle.«

»Dain war natürlich sehr erschrocken und wäre gern ein paar Tage hier geblieben. Doch war er nur auf der Durchreise, da er dringende Geschäfte in Deutschland hatte,« fuhr Thurston fort. »Erinnerst du dich übrigens, daß du mich einmal fragtest, ob ich ihn kenne? Der Name war seltsamerweise meinem Gedächtnis entfallen. Aber als ich ihn sah, erkannte ich ihn sofort. Dain war vor etwa drei Jahren in dem gleichen Hotel mit uns in Biarritz, und wir verkehrten miteinander. Ich wußte damals nicht, daß er bei der Geheimpolizei ist. Cecile schien großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, und es amüsierte uns, zu beobachten, wie er sich um sie bemühte. Aber aus dem einen oder anderen Grunde mochte sie ihn nicht; seine Aufmerksamkeiten waren ihr sogar zuwider.«

»Ich weiß,« bemerkte Pearson, »denn als ich das letzte Mal mit ihm zusammen war, erwähnte er, daß er dich im Ausland kennen gelernt habe. Dein Name war genannt worden, weil ich ihm meine Verlobung mit Cecile mitteilte. Dain ist so etwas wie ein ungeschliffener Diamant; er ist nicht der Mann, an dem Frauen besonderen Gefallen finden. Aber er ist ein famoser Kerl und ein rechtschaffener Charakter.«

»Gut, das wäre also das eine. Und nun die andere Neuigkeit. Am Tage, bevor du dein Bewußtsein wieder erlangtest, telephonierte mich ein gewisser Shaddock an und erkundigte sich nach dir. Er gab an, er sei Beamter von Scotland Yard und gut mit dir bekannt. Durch die Sureté, mit der er in ständiger Verbindung steht, habe er von dem mörderischen Angriff Bertons erfahren. Shaddock zeigte große Teilnahme und bat mich, ihn später wieder anzurufen. Das tat ich auch an dem Tage, an welchem du wieder zum Bewußtsein kamst, und sagte ihm, daß der Arzt wieder Hoffnung gebe. Er war hocherfreut über die gute Nachricht und wollte dir in den nächsten Tagen schreiben. Du kannst also einen Brief von ihm erwarten.«

Und sehr bald traf dieser Brief Shaddocks ein.

Er war sehr teilnehmend und freundschaftlich abgefaßt, doch nicht ganz ohne kleine ironische Spitzen. Das durfte sich Shaddock jetzt auch ruhig erlauben, denn sein junger Freund war außer Gefahr und auf dem Wege zur Genesung.

»Ich war unendlich betrübt über die telephonische Nachricht Ihres Freundes,« schrieb er, »und ebenso erfreut, als ich erfuhr, daß es Ihnen besser geht. Hätten Sie mir mitgeteilt, daß Sie einen Abstecher nach Paris planten, mit der ausgesprochenen Absicht, etwas über eine gewisse Sache in Erfahrung zu bringen, würde ich mein Bestes getan haben, Sie davon abzubringen. Um so mehr, als wir schon dort gewesen waren und nichts ausgerichtet hatten. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich sage, daß ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, daß Sie sich mit der Aufklärung derartiger Dinge befassen könnten. Auch ist der Beruf eines Detektivs nicht so ganz ohne Gefahren, und der Amateur besitzt nicht die Erfahrung, um sie vorauszusehen oder sich dagegen zu schützen. Bei meiner kurzen Unterhaltung mit Ihrem Freunde bemerkte ich zu meiner Genugtuung, daß Sie Verschwiegenheit bewahrt haben. Er wußte wohl, daß Sie Nachforschungen über eine bestimmte Persönlichkeit haben anstellen wollen, um wen es sich aber handelte, war ihm unbekannt. Er fügte hinzu, Sie würden ihm wahrscheinlich auch diese Andeutung nicht gemacht haben, wenn er sich Ihnen nicht als Reisebegleiter angeboten hätte. Dadurch wurde es nötig, ihn bis zu einem gewissen Grade ins Vertrauen zu ziehen. Aus dem kurzen Gespräch gewann ich den Eindruck, daß Ihr Freund eine kluge und scharfsinnige Persönlichkeit ist und für die Beweggründe anderer Leute Verständnis besitzt.

Es scheint fast, als könnten wir in Folge der neuen Ereignisse L. aus unseren Berechnungen ausscheiden. Diesen Berton halte ich für einen berufsmäßigen Mörder, und aller Wahrscheinlichkeit nach sind Valrose und de Boeck nach den gleichen Methoden, wie er sie bei Ihnen anwandte, seine Opfer geworden. Auf alle Fälle ist er eine dunkle Existenz, und es ist anzunehmen, daß er einer Verbrecher-Organisation angehört.

Mein Freund Deschamps von der Pariser Sureté schreibt mir, daß sie dort alles aufbieten, um dieses Berton habhaft zu werden. Bisher hat er sich aber immer zu entziehen gewußt. Diese Schurken haben genügend Unterschlupfe, wenn sie in Gefahr sind. Die französische Polizei ist jedoch äußerst klug, und ich bin so gut wie sicher, daß sie ihn letzten Endes erwischen wird. Aber es kann lange dauern. Und auch wenn sie ihn schnappen, wird es schwerlich gelingen, ihn zum Sprechen zu bringen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß er gestehen wird, Valrose oder de Boeck umgebracht zu haben.

Deschamps wird Sie bestimmt aufsuchen, sobald Sie genügend wiederhergestellt sind. Er wird alle Einzelheiten über Ihr verhängnisvolles Zusammentreffen mit Berton wissen wollen. Ich schrieb ihm, daß ich in persönlichen Beziehungen zu Ihnen stehe, und Sie dürfen überzeugt sein, daß er Sie mit äußerster Rücksicht behandeln wird.

Sprechen Sie sich nur ganz freimütig mit ihm aus. Die Verschwiegenheit, welche ich Ihnen auferlegte, gilt ihm gegenüber nicht. Es waren natürlich Deschamps Agenten, die uns damals die Einzelheiten über das Verhalten L.'s verschafften, nachdem er die französische Küste erreicht hatte.«

Der lange Brief schloß mit erneuten Ausdrücken der Freude, daß Pearson der großen Gefahr so glücklich entronnen war, sowie mit dem Wunsch, ihn bei seiner Rückkehr nach London so bald wie möglich sprechen zu können.

Thurstons Neuigkeiten, wie er sie nannte, hatten Pearson seelisch gestärkt. Dain sowohl wie Shaddock hatten ihm ihre Freundschaft bewiesen. Und nun gar die treue Kameradschaft Thurstons und die bedingungslose Hingabe seines geliebten Mädchens!

Es gab keine Worte für soviel edle Gesinnung.

Schneller als Pearson gedacht, kam die Zeit heran, wo er das Bett verlassen durfte, und bald war auch der große Tag da, an dem er wieder ausgehen konnte. Thurston war nach London zurückgekehrt, Cecile und ihre Mutter aber wollten bei ihm bleiben, bis der Arzt ihn für reisefähig erklären würde. Auf die dringenden Vorstellungen der beiden Damen hin hatte der Doktor bereits sein Einverständnis dazu gegeben, daß sein Patient mit nach Rosebank fahre, wo er dann bis zu seiner völligen Genesung bleiben sollte. Bis zur restlosen Wiederherstellung würde es freilich nach Ansicht des Arztes noch Wochen dauern.

»Der Sommer ist bald vorüber, Liebstes, und du wirst wenig von ihm gehabt haben,« klagte er zu Cecile. »Statt die schönen Tage auf dem Wasser zu verbringen, wirst du dich mit einem Kranken plagen, der nie in diese Verlegenheit geraten wäre, wenn er sich nicht für ganz besonders klug gehalten hätte.«

»Du dummer Bub,« antwortete sie zärtlich, »weißt du denn nicht, daß eine Frau nichts lieber tut, als sich für den Mann, den sie liebt, zu plagen? Ich halte das nicht etwa für ein besonderes Verdienst. Die Natur hat uns einfach so geschaffen.«

Sobald Kenneth Pearson sich genügend erholt hatte, erhielt er den Besuch von Monsieur Deschamps von der Sureté, der eine längere Unterredung mit ihm hatte. Pearson gab über alles, was sich zwischen ihm und Berton zugetragen hatte, eine genaue Beschreibung – bis zu dem Augenblick, wo er das Bewußtsein verloren hatte. Deschamps machte sich zahlreiche Notizen. Aus der Unterhaltung erfuhr der junge Mann, daß Berton, bevor er nach England ging, schon zweimal mit der Polizei Bekanntschaft gemacht hatte. Was er in England getrieben hatte, davon wußten sie in Paris nichts. Deschamps gab die Versicherung, daß alles geschehen werde, um den flüchtigen Verbrecher der gerechten Strafe zuzuführen.

Er war eine ungemein liebenswürdige Persönlichkeit und gern bereit, aus seinem Berufsleben zu erzählen. Auf das rätselhafte Schicksal Valroses ging er jedoch wenig ein; fast schien es, als wollte er dieses Thema vermeiden. Doch über andere Dinge plauderte er ausgiebig. Er erzählte ein paar aufregende Geschichten von Betrügern und Verbrechern, und wie sie von ihm und seinen Kollegen geschickt überlistet worden seien. Dann hielt er einen beinahe wissenschaftlichen Vortrag über den Unterschied des Strafverfahrens an den englischen und französischen Gerichten, wobei er den Standpunkt verfocht, daß das französische System zu bevorzugen sei. Von Pearsons Freund Shaddock sprach er mit höchster Anerkennung.

»Er ist einer der gewandtesten Detektive Londons, wenn nicht der gewandteste,« betonte er mit Nachdruck, wobei er sich mit großem Geschick der englischen Sprache bediente. Auch ist er ein liebenswürdiger Mensch von gutem Charakter, mit keiner Spur von Eitelkeit. Er liebt es ebenso wenig wie ich, auf Zufälle zu spekulieren, doch hat er jene blitzartigen Einfälle, die den großen Detektiv kennzeichnen. Was ich an ihm schätze, ist seine unauffällige Erscheinung; kein Mensch würde jemals den Detektiv in ihm wittern.«

Deschamps schrieb sich Pearsons Anschrift auf, damit er unverzüglich mit ihm in Verbindung treten könne, sobald Berton dingfest gemacht sei. Seiner Ansicht nach stand dies unmittelbar bevor.

»Ein schlauer Fuchs ist er unbedingt, aber es sind Leute hinter ihm her, die noch schlauer sind, und so werden wir ihn schon fassen. Die Arme der Sureté reichen weit.«

Mit diesen Worten empfahl sich der Beamte lächelnd. Sein geschmeidiges Auftreten verriet den unverkennbaren Typ des Franzosen. Sein Optimismus war unerschütterlich.

Schon bei Beginn der Unterhaltung hatte er dem jungen Mann sein aufrichtiges Bedauern darüber ausgesprochen, daß der Besuch der heiteren Stadt ihm so bittere Erfahrungen eingetragen habe. Pearson konnte wirklich nicht finden, daß Deschamps so gefürchtet wirkte, wie Jules geschildert hatte.

Und dann endlich kam der Tag, an dem zur aufrichtigen Freude des Patienten der Arzt die Erlaubnis zur Reise gab. So behaglich es sich in dem großen Hotel auch lebte, war Pearson der Aufenthalt dort stark verleidet. Darum war es für ihn ein glücklicher Augenblick, als er den Zug nach Calais besteigen konnte.

Auch Cecile war wie erlöst. Man hatte ein Abteil für die Reisenden belegt, und das junge Mädchen atmete auf, als der Zug die Bahnhofshalle verließ.

»Leb wohl, Paris, und hoffentlich für immer!« rief sie aus. »Einst hatte ich es so gern, jetzt aber hasse ich es für ewige Zeiten.«

Thurston erwartete sie mit dem großen Auto an der Bahn, und sie fuhren nach dem friedlichen Rosebank hinaus. Pearson hatte die Reise besser überstanden als allgemein erwartet wurde, nur war er sehr müde. Die Damen bestanden darauf, daß er sich sofort zu Bett lege und vor dem Diner noch etwas ruhe. Er sollte dann auf seinem Zimmer speisen.

Und nachdem er vorsichtig von all den Leckerbissen gekostet hatte, lauter kleinen Gerichten, wie sie sich für einen Genesenden geziemen, suchten ihn Frau Thurston und Cecile auf und blieben bei ihm sitzen, bis es Schlafenszeit war.


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