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Kapitel XXVIII.
Von einigen anderen Relationen und vor allem von den moralischen.

§ 1. Philal. Außer den Relationen, die sich auf die Zeit, den Ort und die Kausalität gründen, mit denen wir uns eben beschäftigt haben, gibt es noch unendlich viele andere, von denen ich einige vorführen will. Jede einfache, der Teilung und Gradabstufung fähige Idee bietet Gelegenheit dar, die Gegenstände, an denen sie sich findet, zu vergleichen, z. B. die Vorstellung des mehr (oder weniger oder gleich) Weißen. Diese Relation kann eine Verhältnisbeziehung genannt werden.

Theoph. Gleichwohl kann es ein »Größer« geben, ohne daß hierbei ein Verhältnis stattfindet; dies ist z. B. bei derjenigen Art von Größe der Fall, die ich unvollkommene Größe nenne. So sagt man, daß der Winkel, den der Radius mit seinem Kreisbogen macht, kleiner sei als ein Rechter, doch ist es nicht möglich, daß zwischen diesen beiden Winkeln oder auch zwischen einem von ihnen und ihrer Differenz, d. i. dem Kontingenzwinkel, eine Proportion stattfindet Näheres hierüber in der »Initia rerum mathematicarum metaphysica«, Band I, S. 61 f..

§ 2. Philal. Eine andere Gelegenheit zum Vergleich bietet sich, wenn man auf die Abstammung achtet, woraus sich die Relationen von Vater und Kind, Brüdern, Vettern, Landsleuten ergeben. Bei uns pflegt man kaum zu sagen: Dieser Stier ist der Großvater dieses Kalbes, oder: Diese beiden Tauben sind rechte Geschwisterkinder, denn die Sprachen richten sich nach dem praktischen Bedürfnis. Aber es gibt Länder, wo die Menschen, weniger um ihre eigene Genealogie als um die ihrer Pferde bekümmert, nicht nur Namen für jedes Pferd besonders, sondern auch für deren verschiedene Verwandtschaftsgrade haben.

Theoph. Außer den Verwandtschaftsnamen kann man hier noch die Idee der Familie und die für sie geschaffenen Namen anführen. Unter der Regierung Karls des Großen und ziemlich lange vorher oder nachher findet man allerdings in Deutschland, Frankreich und der Lombardei noch keine Familiennamen. Es ist noch nicht lange her, daß es (selbst adlige) Familien im Norden gegeben hat, die keinen Namen hatten, so daß man jemand an seinem Geburtsorte nur damit bezeichnete, daß man seinen Namen und den seines Vaters nannte und außerdem (wenn er sich anderswohin begab) seinem Namen den des Ortes, aus dem er stammte, hinzufügte. Bei den Arabern und Turkomanen besteht, wie ich glaube, dieser Gebrauch noch heute, da sie keine besonderen Familiennamen haben und sich begnügen, jemandes Vater und Großvater usw. zu nennen: eine Ehre, die sie auch ihren kostbaren Pferden bezeigen, die sie mit ihrem eigenen Namen und dem des Vaters, ja selbst noch weiter hinauf, benennen. Auf diese Art sprach man von den Pferden, welche der Großherr der Türken dem Kaiser nach dem Frieden von Carlowitz geschickt hatte, und der selige Graf von Oldenburg, der letzte seines Stammes, dessen Marställe berühmt waren, und der ein hohes Alter erreichte, hatte Stammbäume von seinen Pferden, so daß sie ihren Adel beweisen konnten und sogar die Porträts ihrer Vorfahren ( imagines majorum) besaßen, was bei den Römern in so hohen Ehren stand. Um jedoch auf die Menschen zurückzukommen, so gibt es bei den Arabern und Tataren Namen von Stämmen, die wie große Familien sind, welche sich im Laufe der Zeit sehr ausgebreitet haben. Diese Namen sind entweder, wie zur Zeit des Moses, von dem Stammvater oder von dem Wohnort oder irgendeinem anderen Umstand hergenommen. Ein wißbegieriger Reisender, Worsley, der den gegenwärtigen Zustand des wüsten Arabiens, wo er sich eine Zeitlang aufgehalten, studiert hat, versichert, daß in dem ganzen Lande zwischen Ägypten und Palästina und wo Moses durchzog, es heutzutage nur drei Stämme gibt, die sich zusammen auf 5000 Menschen belaufen können. Der eine dieser Stämme nennt sich Sali; wie ich glaube, von dem Stammvater her, dessen Grab von der Nachkommenschaft wie das eines Heiligen verehrt wird, indem die Araber Staub von ihm nehmen, den sie auf ihren Kopf und den ihrer Kamele streuen. Übrigens besteht Blutsverwandtschaft, wenn die, deren Relation wir betrachten, eine gemeinsame Abstammung besitzen; dagegen könnte man von verwandtschaftlicher Verbindung oder Affinität zwischen zwei Personen sprechen, wenn sie mit der nämlichen Person blutsverwandt sein könnten, ohne es untereinander zu sein, wie dies durch Vermittlung der Heiraten eintritt. Da man jedoch das Verhältnis von Mann und Frau gewöhnlich nicht als Verwandtschaft bezeichnet, wenngleich ihre Ehe andere Personen untereinander verwandt macht, so wäre es vielleicht besser, zu sagen, daß eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen denen besteht, die untereinander blutsverwandt wären, wenn Mann und Frau als ein und dieselbe Person angesehen würden.

§ 3. Philal. Als Grundlage einer Beziehung dient mitunter ein moralisches Rechtsverhältnis: so z. B. in der Beziehung eines Heerführers oder Bürgers. Diese Relationen sind, da sie von Vereinbarungen abhängig sind, die die Menschen untereinander getroffen haben, willkürliche oder konventionelle Beziehungen, die man von den natürlichen unterscheiden kann. Mitunter haben die beiden korrelativen Glieder jedes seinen besonderen Namen, wie Patron und Klient, General und Soldat. Aber dies ist nicht immer so, so hat man z. B. keinen Ausdruck für die, welche zu einem Kanzler in Beziehung stehen.

Theoph. Es gibt auch manche natürliche Relationen welche die Menschen mit bestimmten moralischen Relationen ausgestattet und bereichert haben: so haben z. B. die Kinder das Recht, den gesetzlichen Teil an der Hinterlassenschaft ihrer Väter oder Mütter zu beanspruchen; junge Leute haben gewisse Beschränkungen und alte Leute gewisse Freiheiten. Indessen geschieht es auch, daß man natürliche Relationen dort annimmt, wo sie nicht bestehen: wie wenn z. B. die Gesetze sagen, daß derjenige der Vater ist, der mit der Mutter innerhalb der Zeit, während deren das Kind ihm zugeschrieben werden kann, die Ehe geschlossen hat. In manchen Fällen ist diese Ersetzung eines natürlichen Verhältnisses durch ein konventionelles lediglich eine Präsumption: d. h. ein Urteil, wodurch etwas als wahr angenommen wird, was es vielleicht nicht ist, so lange man nur nicht das Gegenteil beweisen kann. In diesem Sinne wird der Satz: pater est, quem nuptiae demonstrant im römischen Recht und bei den meisten Völkern, die ihn angenommen haben, gebraucht. In England aber nutzt es, wie ich mir habe sagen lassen, nichts, sein Alibi zu beweisen, wenn man nur in einem der drei Königreiche gewesen ist, so daß die Präsumption sich in diesem Falle in eine Fiktion oder in das verwandelt, was einige Rechtslehrer praesumtio juris et de jure nennen.

§ 4. Philal. Eine moralische Relation ist die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen den willkürlichen Handlungen der Menschen und einer Regel, welche das Urteil, ob sie moralisch gut oder schlecht sind, bestimmt (§ 5), und das moralisch Gute oder moralisch Schlechte ist die Übereinstimmung oder der Gegensatz zwischen den willkürlichen Handlungen und einem bestimmten Gesetz, das uns gemäß dem Willen und der Macht des Gesetzgebers (oder dessen, der das Gesetz aufrecht erhalten will) (physisch) Gutes oder Übles zuzieht: und dies ist dasjenige, was wir Belohnung und Strafe nennen.

Theoph. So trefflichen Schriftstellern, wie dem, dessen Ansichten Sie vertreten, ist es freilich erlaubt, die Ausdrücke nach Belieben zu wählen; doch ist es andererseits wahr, daß nach dem Begriff, den Sie hier aufgestellt haben, eine und dieselbe Handlung zu gleicher Zeit je nach dem Gesetzgeber moralisch gut und moralisch schlimm sein kann, ganz wie unser vortrefflicher Autor vorher die Tugend für das erklärte, was gelobt wird, und folglich die nämliche Handlung, je nach den Meinungen der Leute, tugendhaft sein müßte oder nicht. Da dies nun der gewöhnliche Sinn nicht ist, den man den moralisch guten und tugendhaften Handlungen gibt, so würde ich für meine Person vorziehen, als Maßstab des moralisch Guten und der Tugend die unveränderliche Vernunftregel zu nehmen, deren Durchführung und Aufrechterhaltung Gott auf sich genommen hat. Kraft seiner Vermittlung kann man versichert sein, daß jedes moralische Gut ein physisches wird, oder, wie die Alten sagten, daß jedes rechtschaffene Handeln nützlich sei, während man, um den Begriff des Autors auszudrücken, sagen müßte, daß das moralische Gute oder Schlimme ein Gut oder Übel der Satzung oder Konvention sei, wozu der, der die Gewalt in Händen hat, durch Belohnungen anzutreiben oder von dem er durch Strafen abzuschrecken sucht. Gut nur, daß das, was aus Gottes allgemeiner Gesetzgebung stammt, der Natur oder der Vernunft entspricht.

§ 7. Philal. Es gibt drei Arten von Gesetzen: das göttliche Gesetz, das bürgerliche Gesetz und das Gesetz der Meinung oder des guten Namens. Das erste ist die Regel der Sünden oder der Pflichten, das zweite der verbrecherischen oder unschuldigen Handlungen, das dritte der Tugenden oder der Laster.

Theoph. Dem gewöhnlichen Wortsinne nach unterscheiden sich die Tugenden und Laster von den Pflichten und Sünden nur wie die Gewohnheiten sich von den Handlungen unterscheiden, und man betrachtet die Tugend und das Laster nicht für etwas von der Meinung Abhängiges. Eine große Sünde nennt man ein Verbrechen und setzt den Begriff des Unschuldigen nicht dem Begriff des Verbrecherischen, sondern dem des Schuldigen entgegen. Das göttliche Gesetz ist von zweierlei Art, natürliches und positives. Das bürgerliche Gesetz ist positiv. Das Gesetz des guten Namens verdient den Namen Gesetz nur in uneigentlichem Sinne oder ist unter dem natürlichen Gesetz befaßt, wie wenn man von einem Gesetz der Gesundheit, einem Gesetz der Wirtschaft sprechen wollte, insofern die Handlungen naturgemäß ein bestimmtes Gut oder Übel, wie z. B. die Billigung anderer, Gesundheit oder Gewinn nach sich ziehen.

§ 10. Philal. In der Tat behauptet man ganz allgemein, daß die Worte Tugend und Laster Handlungen bezeichnen, die von Natur gut oder böse sind, und sofern sie wirklich in diesem Sinne angewendet werden, kommt die Tugend vollständig mit dem göttlichen (natürlichen) Gesetz überein. Aber welches auch immer die Ansprüche der Menschen sein mögen, so ist klar, daß diese Worte, in ihrer besonderen Anwendung betrachtet, beständig und ausschließlich solchen Handlungen beigelegt werden, die in jedem Lande oder in jeder Gesellschaft als ehrenhaft oder schändlich betrachtet werden; sonst würden die Menschen sich selbst verdammen. Der Maßstab dessen, was man Tugend oder Laster nennt, ist daher jene Billigung oder Verachtung, jenes Lob oder jener Tadel, die sich kraft eines geheimen oder stillschweigenden Einverständnisses bildet. Denn wenngleich die Menschen als Mitglieder staatlicher Gemeinschaften die Verfügung über all ihre Kräfte in die Hände des öffentlichen Wesens gelegt haben mögen, so daß sie dieselben gegen ihre Mitbürger nicht über das hinaus, was durch das Gesetz erlaubt ist, anwenden können, so behalten sie doch immer die Macht für sich, gut oder schlimm von etwas zu denken, zu loben oder zu tadeln.

Theoph. Wenn der treffliche Schriftsteller, der sich mit Ihnen in dieser Weise ausdrückt, erklärte, daß es ihm gefallen habe, die Worte Tugend und Laster im Sinne dieser von ihm aufgestellten willkürlichen Nominaldefinition zu brauchen, so könnte man nur sagen, daß dies um der Bequemlichkeit des Ausdrucks willen, da andere Bezeichnungen vielleicht fehlen, in der Theorie erlaubt sei. Man wird dann aber hinzufügen müssen, daß diese Bedeutung dem Sprachgebrauch nicht entspricht, ja daß sie auch dem Zweck der Erbauung nicht dienlich ist und daß sie, wenn man sie in die Praxis des Lebens und der Unterhaltung einführen wollte, gar manchem schlecht klingen würde, – wie der Autor es in der Vorrede selbst anzuerkennen scheint. Hier aber gehen Sie noch weiter; denn obwohl Sie zugestehen, daß die Menschen vorgeben, von dem zu sprechen, was nach unveränderlichen Gesetzen von Natur tugendhaft oder lasterhaft ist, so behaupten Sie doch, daß sie in Wahrheit darunter doch nur etwas verstehen können, was von der Meinung abhängt. Es scheint mir aber, daß man mit demselben Grunde behaupten könnte, daß auch die Wahrheit und die Vernunft und alles, was man sonst noch Wesenhaftes nennen mag, von der Meinung abhängt, weil die Menschen in ihrem Urteil hierüber der Täuschung unterworfen sind. Ist es daher nicht in jeder Hinsicht besser, zu sagen, daß die Menschen unter Tugend und Wahrheit das verstehen, was der Natur gemäß ist; daß sie sich aber oft in der Anwendung täuschen? Auch täuschen sie sich hierin weniger, als man denkt: denn was sie loben, verdient gewöhnlich in gewisser Hinsicht dieses Lob. Die Trinkfestigkeit, d. h. die Fähigkeit, den Wein gut zu vertragen, ist ein Vorteil, welcher dem Bonosus dazu diente, sich die Barbaren geneigt zu machen und ihre Geheimnisse aus ihnen herauszulocken Diese Geschichte gibt Vopiscus in den Script, hist. August., Vol. II, p. 213, 214 (ed. Peter). Die darauf folgende Notiz aber, welche gleichfalls dem Vopiscus entnommen ist (a. a. O. p. 212, 9) bezieht sich nicht auf Bonosus sondern Proculus (Sch.).. Die nächtlichen Kräfte des Herkules, worin übrigens derselbe Bonosus ihm zu gleichen behauptete, waren nicht minder eine Vollkommenheit. Die Schlauheit der Diebe wurde bei den Lazedämoniern belobt, auch ist nicht die Geschicklichkeit, sondern nur der schlechte Gebrauch, den man von ihr macht, tadelnswert; und manche, die man in Friedenszeiten rädert, könnten mitunter in Kriegszeiten ausgezeichnete Parteigänger abgeben. So hängt alles von der Anwendung und von dem guten oder üblen Gebrauch der Vorzüge, die man besitzt, ab. Auch trifft es sehr oft zu und darf nicht als etwas besonders Befremdendes gelten, daß die Menschen sich selbst verdammen, indem sie selbst etwas tun, was sie an anderen tadeln, und oft besteht ein Widerspruch zwischen den Handlungen und den Worten, der dem Publikum Ärgernis gibt, wenn das, was ein Beamter oder ein Prediger tut und verbietet, jedermann in die Augen springt.

§ 12. Philal. Überall fällt das, was man Tugend nennt, mit dem, was man für lobenswert erachtet, zusammen. Die Tugend und das Lob werden oft mit denselben Worten bezeichnet. Sunt hic etiam sua praemia laudi, sagt Virgil (lib. I. der Äneis v. 461), und Cicero sagt: Nihil habet natura praestantius, quam honestatem, quam laudem, quam dignitatem, quam decus (Quaest. Tusc. l. II. c. 20) und kurz darauf fügt er hinzu: Hisce ego pluribus nominibus unam rem declarari volo.

Theoph. Allerdings haben die Alten die Tugend durch das Wort Ehrenhaftigkeit bezeichnet, wie wenn sie incoctum generoso pectus honesto Persius, Satiren II, V. 74 (Sch.). lobten; auch trifft es zu, daß das Ehrenhafte seinen Namen von der Ehre oder vom Lobe führt. Aber das bedeutet nicht, daß Tugend das ist, was man lobt, sondern das, was des Lobes wert ist und von der Wahrheit, nicht aber von der Meinung abhängt.

Philal. Manche denken nicht ernstlich an das Gesetz Gottes oder hoffen, sich mit dem Urheber desselben dereinst noch versöhnen zu können, und was das Staatsgesetz betrifft, so schmeicheln sie sich damit, ungestraft ausgehen zu können. Dagegen denkt man nicht, daß jemand, der den Meinungen der Menschen, mit denen er verkehrt und bei denen er sich empfehlen will, entgegenhandelt, der Strafe ihres Tadels und ihrer Mißbilligung entgehen kann. Niemand, dem noch einige Empfindung seiner eigenen Natur bleiben mag, kann in einer Gesellschaft leben, die ihn beständig verachtet, und hierin besteht die Kraft des Gesetzes des guten Namens.

Theoph. Ich habe schon bemerkt, daß dies nicht sowohl eine gesetzliche, als eine natürliche Strafe ist, die die Handlung sich von selbst zuzieht. Viele freilich kümmern sich hierum nur wenig: denn gewöhnlich finden sie, wenn sie von den einen infolge irgendeiner getadelten Handlung verachtet werden, Mitschuldige oder wenigstens Parteigänger, von denen sie, wenn sie sonst auf irgendeiner anderen Seite auch nur das geringste Lob verdienen, nicht verachtet werden. Man drückt selbst über ganz ehrlose Handlungen die Augen zu, und oft genügt es, frech und schamlos, wie jener Phormio im Terenz zu sein, damit einem alles hingehe. Die Exkommunikation würde, wenn sie eine wirkliche beständige und allgemeine Verachtung hervorbringen könnte, die Kraft eines Gesetzes gleich dem, von dem unser Autor redet, besitzen und in der Tat hatte sie bei den ersten Christen diese Wirkung und ersetzte ihnen die fehlende Gerechtigkeitspflege, um die Schuldigen zu bestrafen; etwa so, wie die Handwerker unter sich gewisse Gewohnheiten trotz der Gesetze aufrechterhalten, lediglich durch die Mißachtung, die sie denen, die sie nicht beobachten, bezeigen. Dieser Umstand ist es auch, der die Duelle entgegen den gesetzlichen Vorschriften in Ansehen erhalten hat. Es wäre zu wünschen, daß das Publikum in seinem Lob und Tadel mit sich selber und mit der Vernunft einig wäre, und daß vor allem die Großen nicht die Bösewichter begünstigten, indem sie über schlechte Handlungen lachen, wobei dann meistens, wie es scheint, nicht der, welcher sie begangen, sondern der, der darunter gelitten hat, durch Verachtung gestraft und ins Lächerliche gezogen wird. Auch wird man gemeiniglich sehen, daß die Menschen nicht sowohl das Laster als die Schwäche und das Unglück verachten. So hat das Gesetz des guten Namens wohl nötig, berichtigt und auch besser beobachtet zu werden.

§ 19. Philal. Ehe ich die Betrachtung der Relationen verlasse, will ich bemerken, daß wir gewöhnlich einen ebenso klaren oder noch klareren Begriff von der Relation haben, als von dem, was ihre Grundlage bildet. Wenn ich glaubte, daß Sempronia den Titus aus einem Busch geholt habe, wie man den kleinen Kindern zu sagen pflegt, und sie nachher Gajus auf dieselbe Art bekommen habe, so hätte ich einen ebenso klaren Begriff von dem brüderlichen Verhältnis zwischen Titus und Gajus, als wenn ich alles Wissen der Hebammen besäße.

Theoph. Als man aber einmal einem Kinde sagte, daß sein kleiner, eben geborener Bruder aus einem Brunnen geholt worden sei (eine Antwort, deren man sich in Deutschland bedient, um die Neugier der Kinder zu befriedigen), so antwortete das Kind, es wundere sich, daß man ihn nicht wieder in denselben Brunnen werfe, weil er so schrie und die Mutter belästigte. Denn aus jener Erklärung konnte es keinen Grund für die Liebe erkennen, die die Mutter dem Kind bezeugte. Man kann also sagen, daß die, die die Grundlage der Relationen nicht kennen, von ihnen nur solche Gedanken besitzen, die ich teilweise taube und unzureichende Gedanken nenne, wenngleich diese in gewissen Beziehungen und bei gewissen Gelegenheiten genügen können.


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