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Kapitel XXI.
Von der Macht und von der Freiheit.

§ 1. Philal. Indem der Geist beobachtet, wie ein Ding zu sein aufhört, und wie ein anderes, das vorher nicht da war, zu sein anfängt, und indem er schließt, daß es auch in Zukunft ähnliche Dinge geben werde, die aus ähnlichen Tätigkeiten entstanden sind, so kommt er dabei auf den Gedanken, daß ein Ding in einer seiner einfachen Ideen verändert werden und daß ein anderes Ding diese Veränderung hervorrufen könne; hieraus bildet er sich die Idee der Macht.

Theoph. Wenn die Macht dem lateinischen Potentia entspricht, so ist sie dem Akt entgegengesetzt und der Übergang von der Potenz zum Akt ist die Veränderung. Das ist es, was Aristoteles unter dem Ausdruck Bewegung versteht, wenn er sagt, sie sei die Wirklichkeit oder vielmehr die Verwirklichung dessen, was der Möglichkeit nach vorhanden ist Aristoteles, Physik III, 1: »Da bei jeder Gattung geschieden ist das der Verwirklichung nach Seiende und das der Potenz nach Seiende, so ist eben die Verwirklichung des der Potenz nach Seienden, insofern es ein solches ist, die Bewegung«. (ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν). Man kann also sagen, daß die Potenz im allgemeinen die Möglichkeit der Veränderung sei. Da nun die Veränderung oder die Verwirklichung des Möglichen in dem einen Subjekt Tätigkeit, in einem anderen dagegen Leiden ist, so wird es auch zwei Arten der Potenz: eine tätige und eine leidende, geben. Die tätige wird Vermögen genannt werden können, während man die leidende vielleicht Fähigkeit oder Rezeptivität nennen könnte. Allerdings versteht man die tätige Macht mitunter in einem noch vollkommeneren Sinne, indem man ihr außer dem einfachen Vermögen noch eine Tendenz beilegt, und so nehme ich sie in meinen dynamischen Betrachtungen Vgl. Leibniz' Specimen dynamicum (1695), Band I, S. 256 ff. (zur Unterscheidung des Leibnizschen Kraftbegriffs von dem scholastischen Begriff der Potenz als »leerer Möglichkeit« (nuda possibilitas) s. Band I, Anm. 191).. Man könnte ihr dann speziell den Ausdruck Kraft beilegen, wobei die Kraft entweder Entelechie oder Kraftäußerung (effort) wäre, denn die Entelechie (obgleich Aristoteles sie so allgemein nimmt, daß sie jegliche Art Tätigkeit und Kraftäußerung umfaßt) scheint mir eher den primitiven wirkenden Kräften zuzukommen, während das Wort Kraftäußerung mehr zur Bezeichnung der derivativen Kräfte dienen kann. Es gibt auch eine Art passiver Potenz, die eine bestimmtere und realere Bedeutung besitzt, – nämlich diejenige, die in der Materie waltet: denn dieser wohnt nicht allein Beweglichkeit, d. h. die rezeptive Fähigkeit zur Bewegung inne, sondern auch Widerstand, worin zugleich die Undurchdringlichkeit und die Trägheit eingeschlossen sind Über den Begriff der »passiven Kraft« (als des Prinzips des »Widerstandes«) vgl. Band I, Anm. 206; s. auch Band II, S. 291 ff.; über den Unterschied der »primitiven« und derivativen Kraft s. Band I, S. 118, 259, Band II, 332, 336, 345 f.. Die Entelechien, d. h. die ursprünglichen oder substantiellen Strebungen, sofern sie mit Perzeption verbunden sind, sind die Seelen.

§ 3. Philal. Die Idee der Macht drückt etwas Relatives aus. Aber haben wir denn irgendeine Idee, von welcher Art sie auch immer sei, die nicht irgendeine Relation in sich schließt? Unsere Ideen von Ausdehnung, Dauer, Zahl – enthalten sie nicht alle eine stillschweigende Beziehung der Teile in sich? Dasselbe läßt sich noch deutlicher bei der Gestalt und der Bewegung bemerken. Was sind die sinnlichen Eigenschaften anders als die Kraftwirkungen verschiedener Körper in bezug auf unsere Wahrnehmung, und hängen sie nicht selbst von der Größe, Gestalt, der inneren Bildung und der Bewegung der Teile ab, wodurch auch sie eine Art von Beziehung enthalten? So kann denn meiner Meinung nach die Idee der Macht sehr wohl unter die übrigen einfachen Ideen gesetzt werden.

Theoph. Im Grunde genommen sind alle Ideen, welche soeben aufgezählt wurden, zusammengesetzt. Die Ideen der sinnlichen Eigenschaften behaupten ihren Rang unter den einfachen Ideen nur infolge unserer Unwissenheit, und was die anderen, deutlich erkennbaren betrifft, so behalten sie ihre Stelle dort nur durch eine Nachsicht, welche man lieber nicht ausüben sollte. Es verhält sich damit ungefähr, wie mit jenen Sätzen, die man in der gewöhnlichen Auffassung als Axiome ansieht, die aber, wie die Lehrsätze, bewiesen werden könnten und bewiesen zu werden verdienten: man läßt sie gleichwohl als Axiome gelten, als wären es ursprüngliche Wahrheiten. Eine derartige Nachsicht ist schädlicher, als man denkt; aber man ist freilich nicht immer imstande, auf sie Verzicht zu tun.

§ 4. Philal. Wenn wir die Sache recht betrachten, so gewinnen wir aus der sinnlichen Wahrnehmung der Körper keine so klare und deutliche Idee der tätigen Macht, als wir sie durch die Reflexion auf die Tätigkeiten unseres Geistes gewinnen. Es gibt meiner Überzeugung nach nur zwei Arten von Tätigkeiten, von denen wir eine Idee besitzen, nämlich Denken und Bewegen. Was das Denken betrifft, so gewinnen wir von ihm durch den Körper keine Idee, sondern erlangen sie nur mittels der Reflexion. Ebensowenig gewinnen wir mittels des Körpers irgendeine Idee vom Anfang der Bewegung.

Theoph. Diese Betrachtungen sind sehr triftig, und obgleich das Denken hier auf so allgemeine Weise genommen wird, daß es jede Art der Perzeption umfaßt, so will ich doch den Gebrauch der Worte nicht anfechten.

Philal. Wenn der Körper selbst in Bewegung ist, so ist diese Bewegung im Körper eher eine Tätigkeit, als ein Leiden. Aber wenn eine Billardkugel dem Stoß des Queues nachgibt, so ist dies keine Tätigkeit der Kugel, sondern ein bloßes Leiden.

Theoph. Darüber ließe sich etwas sagen: denn die Körper würden im Stoß nicht diejenige Bewegung erhalten, die man nach Erfahrungsgesetzen an ihnen wahrnimmt, wenn sie nicht schon in sich selbst Bewegung hätten Zu einer zutreffenden, das Prinzip der Erhaltung der Kraft innehaltenden, Formulierung der Stoßgesetze gelangt man nach Leibniz nur, wenn man von den Gesetzen des elastischen Stoßes ausgeht (vgl. Band I, S. 315 ff.). Daher ist jedem physischen Körper ein bestimmter Grad der Elastizität, d. h. eine ursprüngliche Eigenbewegung zuzuschreiben, die durch das Zusammentreffen mit anderen Massen nur modifiziert und in ihrer Größe verändert wird. »Die elastische Kraft ist jedem Körper wesentlich; nicht als wäre sie eine unerklärliche Qualität, sondern deshalb, weil jeder noch so kleine Körper eine Maschine darstellt, aus deren Bau sich eine Zurückstoßung anderer Körper, in dem Maße als sie zur Erhaltung der Kraft notwendig ist, ergeben muß.« (An Johann Bernoulli, 12./22. Juli 1698, Math. III, 515.). Wir wollen jedoch jetzt diesen Punkt übergehen.

Philal. Ebenso teilt ein Ball, wenn er einen anderen, der sich auf seinem Wege findet, anstößt und in Bewegung setzt, diesem nur die empfangene Bewegung mit und verliert seinerseits ebensoviel, als er auf den anderen überträgt.

Theoph. Ich sehe, daß diese irrige Meinung, die die Cartesianer aufgebracht haben, daß nämlich die Körper ebensoviel Bewegung verlieren, als sie auf andere übertragen – eine Meinung, die heutzutage durch Erfahrungen und Vernunftgründe widerlegt und selbst von dem berühmten Verfasser der »Recherche de la vérité« aufgegeben ist (der eine kleine Abhandlung ganz besonders zu dem Zweck hat drucken lassen, sie zurückzunehmen) Das Nähere hierüber s. in Leibniz' Abhandlung über das Kontinuitätsprinzip (Band I, S. 88 ff.). – nichtsdestoweniger noch immer viele einsichtige Leute zu Mißverständnissen verleitet, indem sie auf so gebrechlichem Grunde ihr Lehrgebäude errichten.

Philal. Die Mitteilung der Bewegung gibt uns nur eine ganz dunkle Idee von einer tätigen Bewegungskraft, die sich im Körper befindet; denn wir sehen nur, daß der Körper die Bewegung überträgt, nicht aber, daß er sie in irgendeiner Weise hervorbringt.

Theoph. Ich weiß nicht, ob hier behauptet wird, daß die Bewegung von einem Subjekt auf ein anderes übergeht und daß hierbei wirklich ein und dieselbe Bewegung in numerischer Identität ( idem numero) übertragen werde. Ich weiß, daß einige, unter anderen der Jesuitenpater Casati Paolo Casati (1617-1707); über seine physikalischen Ansichten s. Lasswitz, Gesch. der Atomistik II, 490., im Widerspruch zur gesamten Scholastik, so weit gegangen sind, dies zu behaupten. Ich zweifle jedoch, daß dies Ihre Meinung oder die Ihrer gelehrten Freunde ist, die in der Regel von solchen Einbildungen weit entfernt sind. Wenn es indessen nicht dieselbe Bewegung ist, die beim Stoß übertragen wird, so muß man annehmen, daß sich in dem gestoßenen Körper eine neue Bewegung erzeugt; demnach würde der stoßende Körper wirklich tätig sein, obwohl er zu gleicher Zeit einen Kraftverlust erleidet. Denn wenngleich es nicht richtig ist, daß der Körper genau ebensoviel an Bewegung verliert, als er einem anderen mitteilt, so bleibt es doch immer richtig, daß er einen Verlust erleidet: denn er verliert, wie ich an einer anderen Stelle auseinandergesetzt habe »Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii« etc. (Acta Eruditorum 1686); s. Band I, 246 ff., ebensoviel Kraft, als er einem anderen gibt. Man muß also in jedem Falle in ihm eine Kraft oder tätige Potenz annehmen, wobei ich die Potenz in jenem höheren Sinne, den ich kurz zuvor erläutert habe, als ein Streben, das zu der bloßen Fähigkeit hinzutritt, verstehe. Indessen stimme ich mit Ihnen immer darin überein, daß wir die klarste Idee der tätigen Macht durch den Geist empfangen Denn aus der Betrachtung des Geistes erst wird der Begriff der »primitiven« Kraft, im Unterschiede von der »derivativen« Kraft gewonnen; vgl. Band II, 325 (Anm. 439).: auch gibt es Kraft nur in denjenigen Wesen, die mit dem Geiste Analogie haben, nämlich in den Entelechien, denn der Stoff bezeichnet eigentlich nur die leidende Kraft.

§ 5. Philal. Wir finden in uns selbst die Macht, bestimmte Tätigkeiten unserer Seele und bestimmte Bewegungen unseres Körpers anzufangen oder nicht anzufangen, fortzusetzen oder abzubrechen, und zwar einfach durch einen Gedanken oder eine Wahl unseres Geistes, der sozusagen bestimmt und befiehlt, daß diese oder jene Handlung geschehe oder nicht geschehe. Diese Macht nennen wir den Willen. Die tatsächliche Ausübung dieser Macht nennt man Wollen; das Abbrechen oder Hervorbringen der Handlung gemäß einem solchen Befehl der Seele nennen wir willkürlich, während jede Handlung, die ohne eine solche Leitung der Seele geschieht, unwillkürlich heißt.

Theoph. Ich finde dies alles sehr gut und richtig. Um es indessen runder auszudrücken und vielleicht ein wenig weiter zu gehen, möchte ich sagen, daß das Wollen die Anstrengung oder Strebung ( conatus ) ist, die sich auf das, was man für gut hält, und wider das, was man für schlimm hält, richtet: eine Bestrebung, die unmittelbar aus dem Bewußtsein folgt, das man von Gut und Böse besitzt. Das Korollarium dieser Definition ist das berühmte Axiom, daß Wollen und Können vereint die Handlung ausmachen: denn aus jeder Strebung geht, wenn sie nicht gehemmt wird, die Handlung hervor. So folgen vermöge der Einheit von Seele und Leib, die ich anderswo begründet habe, nicht allein die inneren willkürlichen Handlungen unseres Geistes, sondern auch die äußeren Handlungen, d. h. die willkürlichen Bewegungen unseres Körpers aus diesem Conatus. Daneben gibt es Strebungen, die aus sinnlich nicht wahrnehmbaren und daher nicht bemerkten Perzeptionen stammen. Ich möchte sie lieber Begehrungen als Willensakte nennen (obwohl es auch deutlich merkliche Begehrungen gibt): denn willkürliche Handlungen nennt man nur die, deren man sich deutlich bewußt werden kann und auf die unsere Reflexion sich richten kann, sofern sie unter dem Gesichtspunkt des Guten und Bösen erfolgen.

Philal. Das Vermögen der Apperzeption nennen wir Verstand: worunter die Erfassung der Ideen, die Erfassung der Bedeutung der Zeichen und endlich die Erfassung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen bestimmten Ideen einbegriffen ist.

Theoph. Wir apperzipieren in uns und außer uns gar manches, was wir nicht verstehen, denn wir verstehen nur das, wovon wir deutliche Ideen besitzen, nebst dem Vermögen, über sie zu reflektieren und notwendige Wahrheiten aus ihnen zu gewinnen. Darum haben die Tiere, wenigstens in diesem Sinne, keinen Verstand, obgleich sie das Vermögen haben, auffallendere und stärker hervortretende Eindrücke zu apperzipieren: wie z. B. das Wildschwein jemand apperzipiert, der ihm zuruft, und auf es losgeht, während es zuvor von ihm, wie von allen übrigen Objekten, die ihm in die Augen fielen und deren Strahlen seine Kristallinse trafen, eine bloße verworrene Perzeption besaß. So entspricht denn nach meiner Erklärung der Verstand dem, was bei den Lateinern intellectus heißt, und die Ausübung dieses Vermögens heißt das » Verstehen«, d. h. eine deutliche, mit dem Vermögen der Reflexion verbundene Perzeption, die sich bei den Tieren nicht findet. Jede Perzeption ist, verbunden mit dieser Fähigkeit, ein Gedanke, den ich den Tieren ebensowenig zusprechen kann, als den Verstand, so daß man sagen darf, das Verstehen finde dann statt, wenn der Gedanke deutlich ist. Übrigens verdient die Erfassung der Bedeutung der Zeichen von der Erfassung der bezeichneten Ideen selbst hier gar nicht unterschieden zu werden.

§ 6. Philal. Gewöhnlich sagt man, daß Verstand und Wille zwei Vermögen der Seele sind: ein ganz bequemer Ausdruck, wenn man sich desselben bedient, wie man sich aller Worte bedienen sollte, indem man sorgfältig darauf acht hat, daß sie im menschlichen Denken keine Verwirrung anrichten, was, wie ich fürchte, hier geschehen ist. Und wenn man uns sagt, daß der Wille jene höhere Fähigkeit der Seele sei, welche alles regelt und anordnet, daß er frei sei oder nicht, daß er die unteren Vermögen bestimme, daß er dem Gebot des Verstandes folge, so fürchte ich (wenngleich auch diese Ausdrücke in einem klaren und bestimmten Sinn verstanden werden können), daß sie doch bei manchem die verworrene Idee von ebensoviel besonderen tätigen Wesen, die in uns jedes für sich wirken, hervorgerufen haben.

Theoph. Es ist eine Streitfrage, die den Schulen schon lange zu schaffen gemacht hat, ob zwischen der Seele und deren Vermögen ein realer Unterschied obwalte, und ob das eine Vermögen von dem anderen real verschieden sei. Die Realisten haben es bejaht, die Nominalisten verneint; und die gleiche Frage hat man bezüglich vieler anderer abstrakter Wesen aufgeworfen, die demselben Schicksal anheimfallen müssen. Ich meine aber nicht, daß es hier notwendig sei, diese Frage zu entscheiden und sich in diese dornige Untersuchung zu vertiefen, obgleich, wie ich mich erinnere, Episcopius sie für so wichtig erachtet hat, daß er glaubte, man könne die Freiheit des Menschen nicht aufrecht erhalten, wenn die Seelenvermögen wirkliche Wesen seien In der Schrift »de libero arbitrio«, besonders deren zweitem Kapitel (Opera Sim. Episcopii theologica, T. 1, Londini 1678 (ed. II) p. 198, Abt. II) (Sch.).. Indessen, selbst wenn sie wirkliche und voneinander verschiedene Wesen wären, so dürften sie doch nicht als reale wirkende Wesen gelten, wenn man sich nicht ganz mißbräuchlich ausdrücken will. Nicht die Vermögen oder Eigenschaften sind es, welche wirken, sondern die Substanzen mittels der Vermögen.

§ 8. Philal. Sofern der Mensch die Macht hat zu denken oder nicht zu denken, sich gemäß der Entscheidung oder Wahl seines eigenen Geistes zu bewegen oder nicht zu bewegen, sofern ist er frei.

Theoph. Der Ausdruck Freiheit ist sehr zweideutig. Es gibt eine rechtliche und eine tatsächliche Freiheit. Im Sinne des Rechts ist ein Sklave nicht frei; ein Untertan ist es nicht völlig, aber ein Armer ist ebenso frei wie ein Reicher. Die tatsächliche Freiheit besteht entweder in dem Vermögen, das zu tun, was man will, oder in dem Vermögen des richtigen Wollens selbst. Sie sprechen hier von der Freiheit des Handelns, und diese hat ihre Grade und Verschiedenheiten. Im allgemeinen ist derjenige, welcher mehr Mittel hat, freier, das zu tun, was er will, aber im besonderen bezieht man die Freiheit auf den Gebrauch derjenigen Dinge, die gewöhnlich in unserer Gewalt sind, also vor allem auf den freien Gebrauch unseres Körpers. In diesem Sinne sind Kerker und Krankheiten, indem sie uns verhindern, unserem Körper und unseren Gliedern diejenige Bewegung zu geben, die wir ihnen geben wollen und gewöhnlich geben können, Beschränkungen unserer Freiheit: und man sagt, daß ein Gefangener nicht frei sei und ein Gelähmter keinen freien Gebrauch seiner Glieder habe. Die Freiheit des Wollens wird gleichfalls in zwei verschiedenen Bedeutungen genommen. In der einen setzt man sie der Unvollkommenheit oder Sklaverei des Geistes entgegen, in der der Geist, unter einem Zwange und einer Hemmung, wenngleich diese von innen stammen, handelt, wie dies bei den Leidenschaften der Fall ist; in der anderen Bedeutung bildet die Freiheit den Gegensatz zur Notwendigkeit. Im ersteren Sinne sagten die Stoiker, daß der Weise allein frei sei, und in der Tat ist der Geist, wenn er von einer großen Leidenschaft in Anspruch genommen ist, nicht frei; denn man kann alsdann nicht in der richtigen Weise, d. h. mit der nötigen Überlegung wollen. In diesem Sinne ist Gott allein vollkommen frei, die erschaffenen Geister aber sind es nur in dem Maße, als sie über die Leidenschaften erhaben sind; und diese Freiheit betrifft eigentlich unseren Verstand Über Leibniz' Freiheitslehre s. bes. die Aufsätze »Über die Freiheit« (Band II, S. 497 ff.) und den Aufsatz »von dem Verhängnisse« (Deutsche Schriften, Band II, S. 48 ff), sowie Theodicee I, § 35 ff.. Die Freiheit des Geistes aber, welche der Notwendigkeit entgegengesetzt ist, betrifft bloß den Willen, und zwar, sofern er vom Verstande sich unterscheidet. Sie ist dasjenige, was man freie Willkür nennt, womit gemeint sein soll, daß der Willensakt trotz den stärksten Gründen oder Motiven, die der Verstand dem Willen vorhält, nichtsdestoweniger immer zufällig bleibt und keine absolute und sozusagen metaphysische Notwendigkeit besitzt. In diesem Sinne pflege ich zu sagen, daß der Verstand den Willen, je nach den vorherrschenden Perzeptionen und Gründen, zwar auf sichere und unfehlbare Art bestimmen kann, daß er ihn aber nichtsdestoweniger nur zu einer Entscheidung geneigt macht, ohne ihn zu nötigen.

§ 9. Philal. Man muß erwägen, daß noch niemand auf den Gedanken verfallen ist, eine Kugel, mag sie nun durch den Anstoß einer Rakete in Bewegung gesetzt oder in Ruhe sein, für ein frei wirkendes Wesen anzusehen. Dies kommt daher, daß wir einer Kugel weder Denken zuschreiben, noch irgendeinen Willensakt, vermöge dessen sie die Bewegung der Ruhe vorzöge.

Theoph. Wenn das, was ohne Hindernis wirkt, frei wäre, so würde die Kugel, einmal in Bewegung gesetzt, auf völlig ebener Bahn als ein frei wirkendes Wesen gelten müssen. Doch hat schon Aristoteles richtig bemerkt, daß wir, um Handlungen frei zu nennen, nicht allein verlangen, daß sie spontan, sondern auch, daß sie überlegt seien Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik III, 4, 1111b: »ἡ προαίρεσις δὴ ἑκούσιον μὲν φαίωεται, οὐ ταὐτὸν δέ ἀλλ ἐπὶ πλέον τὸ ἑκούσιον. τοῦ μὲν γὰρ ἑ κουςίου καὶ παῖ τἄλλα ζῶα κοινωωεῖ, προαιρέσεως δ οὔ, καὶ τὰ ἐξαίφνης ἑκούσια μὲν λέομεν, κατὰ προαίρεσιν δ οὄ.«.

Philal. Aus diesem Grunde betrachten wir die Bewegung oder die Ruhe der Kugel unter der Idee eines notwendigen Geschehens.

Theoph. Die Bezeichnung » notwendig« erfordert ebenso große Vorsicht, als die Bezeichnung »frei«. Die hypothetische Wahrheit: » Gesetzt, daß die Kugel sich auf völlig ebener Bahn ohne Hindernis in Bewegung befindet, so wird sie ein und dieselbe Bewegung beständig fortsetzen,« kann in gewissem Maße als notwendig angesehen werden, obgleich diese Folgerung im Grunde genommen nicht rein geometrisch ist, da sie sozusagen nur präsumptiv gilt und auf die Weisheit Gottes gegründet ist, der ohne vernünftigen Grund (und ein solcher besteht, wie man annimmt, im vorliegenden Falle nicht), seinen Einfluß nicht ändert. Der kategorische Satz dagegen: » Die Kugel hier befindet sich gegenwärtig in dieser Ebene in Bewegung« ist nur eine zufällige Wahrheit, und in diesem Sinne ist die Kugel ein zufälliges, nicht frei wirkendes Wesen.

§ 10. Philal. Nehmen wir an, daß man einen Menschen, während er sich in tiefem Schlaf befindet, in ein Zimmer trägt, in dem jemand ist, den er sehr zu sehen und zu sprechen wünscht, und daß man die Tür hinter ihm zuschließt, so wird dieser Mensch beim Erwachen entzückt sein, jene Person zu treffen, und also mit Vergnügen im Zimmer bleiben. Man wird also, denke ich, nicht im Zweifel darüber sein, daß er freiwillig an diesem Ort bleibt: gleichwohl steht es ihm nicht frei, sich, wenn er will, von ihm zu entfernen. Die Idee der Freiheit bezieht sich also nicht auf den Willen.

Theoph. Ich finde das Beispiel sehr gut gewählt, um zu zeigen, daß in einem gewissen Sinne eine Handlung oder ein Zustand freiwillig sein kann, ohne frei zu sein. Indessen, wenn die Philosophen und Theologen über die freie Willkür streiten, haben sie einen ganz anderen Sinn im Auge.

§ 11. Philal. Wenn eine Lähmung die Beine hindert, der Bestimmung des Geistes zu gehorchen, so fehlt die Freiheit, wenngleich es ein freiwilliger Entschluß des Gelähmten sein kann, sitzen zu bleiben, solange er das Sitzen der Ortsveränderung vorzieht. Freiwillig ist also nicht dem Notwendigen, sondern dem Unfreiwilligen entgegensetzt.

Theoph. Diese Genauigkeit im Ausdruck würde mir schon gefallen, wenn sie sich nicht vom Sprachgebrauch entfernte: denn diejenigen, die die Freiheit der Notwendigkeit entgegensetzen, wollen dies nicht von den äußeren Handlungen, sondern von dem Willensakte selbst verstanden wissen.

§ 12. Philal. Ein wachender Mensch besitzt nicht mehr Freiheit zu denken oder nicht zu denken, als er frei ist, zu verhindern oder nicht zu verhindern, daß sein Körper einen anderen Körper berührt. Aber daß er seine Gedanken von einer Idee zu einer anderen wendet: dies steht oft in seinem Belieben. In diesem Fall besitzt er in bezug auf seine Ideen die gleiche Freiheit, die er in bezug auf die Körper besitzt, auf die er sich stützt: er kann sich, wie es ihm in den Sinn kommt, von dem einen zum anderen bewegen. Gleichwohl gibt es Ideen, die, wie gewisse Bewegungen, dem Geiste derart eingepflanzt sind, daß man sie unter Umständen trotz aller Anstrengungen nicht zu entfernen vermag. Ein Mensch auf der Folter hat nicht die Freiheit, sich der Vorstellung des Schmerzes zu entschlagen, und mitunter wirkt eine heftige Leidenschaft auf unseren Geist, wie der wütendste Orkan auf unseren Körper wirkt.

Theoph. In den Gedanken sowohl wie in den Bewegungen findet Ordnung und Zusammenhang statt, denn beide entsprechen einander vollkommen, obgleich die Bestimmung in den Bewegungen ohne Bewußtsein, in den denkenden Wesen dagegen, die von den Gütern und Übeln nur in ihrer Neigung bestimmt, nicht aber genötigt werden, frei und mit Wahl geschieht. Denn die Seele bewahrt, auch indem sie die Körperwelt vorstellt, ihre Vollkommenheiten; und obgleich sie in den unfreiwilligen Handlungen vom Körper abhängt (wenn man dies in seinem richtigen Sinne nimmt), so ist sie doch in ihren anderen Handlungen unabhängig, und macht vielmehr den Körper von sich abhängig. Aber diese Abhängigkeit ist nur metaphysisch und besteht darin, daß Gott in der Ordnung des einen Geschehens auf das andere Rücksicht nimmt, und zwar nimmt er hierbei, je nach den ursprünglichen Vollkommenheiten eines jeden Wesens, mehr auf den Körper oder auf die Seele Rücksicht: während die physische Abhängigkeit in einem unmittelbaren Einfluß bestehen würde, den das eine Element durch das andere, von dem es abhängt, erfahren würde. Übrigens kommen uns unfreiwillige Gedanken teils von außen durch die Gegenstände, welche unsere Sinne treffen, teils von innen auf Grund der (oft unmerklichen) Eindrücke, welche von den früheren Wahrnehmungen, die ihre Wirksamkeit fortsetzen und sich mit den neu hinzukommenden vermischen, zurückgeblieben sind. In dieser Hinsicht verhalten wir uns leidend, und selbst wenn wir wachen, kommen uns ungerufen Bilder (worunter ich nicht allein die Vorstellungen von Gestalten, sondern auch die von Tönen und anderen sinnlichen Eigenschaften verstehe) wie in den Träumen. Die deutsche Sprache nennt sie »fliegende Gedanken«, die nicht in unserer Macht sind und uns bisweilen zu Widersinnigkeiten führen, die rechtschaffenen Leuten Bedenken erregen und den Kasuisten und Gewissensräten zu schaffen machen. Die Gedanken ziehen hier an uns vorüber, wie bei einer Laterna magica, wenn man innen etwas an ihr vorbeischiebt, verschiedenartige Gestalten auf der gegenüberliegenden Wand erscheinen. Doch vermag unser Geist, wenn er ein Bild bemerkt, das ihm zurückkehrt, ihm ein »Halt« zuzurufen und ihm sozusagen Stillstand zu gebieten; ferner kann er nach Gutdünken auf bestimmte Gedankenfolgen näher eingehen, die ihn zu anderen führen. Aber dies gilt nur, wenn die inneren oder äußeren Eindrücke nicht das Übergewicht haben. Allerdings sind die Menschen sowohl in ihrem Temperamente als in der Herrschaft, die sie durch Übung über ihre Vorstellungen erlangt haben, sehr verschieden, so daß der eine Eindrücke überwinden kann, denen der andere sich hingibt.

§ 13. Philal. Notwendigkeit hat überall da statt, wo das Denken bei der Bestimmung keinen Teil hat. Findet sich diese Notwendigkeit bei einem des Wollens fähigen, wirkenden Wesen und widerspricht der Anfang oder die Fortsetzung einer Handlung dem, was sein Geist für das Bessere hält, so nenne ich das Zwang; ist aber die Verhinderung oder das Aufhören einer Handlung dem Wollen dieses wirkenden Wesens zuwider, so erlaube man mir, dies Hemmung ( cohibition) zu nennen. Was aber die Wesen betrifft, die keinerlei Denken und Wollen besitzen, so sind sie in jeder Hinsicht notwendig wirkende Wesen.

Theoph. Wenngleich die Willensakte zufällig sind, so muß man doch, eigentlich zu reden, die Notwendigkeit nicht dem Wollen, sondern dem Zufall entgegensetzen, wie ich schon in § 9 bemerkt habe. Die Notwendigkeit darf nicht mit der Bestimmtheit verwechselt werden, denn Zusammenhang und Bestimmtheit findet beim Denken nicht weniger als bei den Bewegungen statt (da »bestimmt sein« etwas ganz anderes ist, als mit Zwang genötigt oder gestoßen zu werden). Und wenn wir nicht immer die Ursache bemerken, die uns bestimmt oder vielmehr, im Hinblick auf die wir uns selbst bestimmen, so ist der Grund davon, daß wir ebensowenig fähig sind, das ganze Spiel unseres Geistes und seiner meist unvernehmlichen und verworrenen Gedanken zu übersehen, als wir den ganzen Mechanismus, den die Natur in unserem Körper spielen läßt, erkennen können. Versteht man daher unter Notwendigkeit die feste Bestimmtheit des Menschen, dergemäß ein vollkommener Geist, der eine vollkommene Erkenntnis aller Umstände innerhalb und außerhalb des Menschen besäße, alle seine Handlungen voraussehen könnte: so würde jeder freie Akt ein notwendiger sein, da die Gedanken sicherlich ebenso bestimmt sind, als die von ihnen dargestellten Bewegungen. Aber man muß das Notwendige vom Zufälligen, auch wenn dieses bestimmt ist, unterscheiden. Denn nicht nur sind die zufälligen Wahrheiten selbst nicht notwendig, sondern auch ihre Verknüpfungen haben nicht immer eine absolute Notwendigkeit; denn ohne Zweifel besteht ein Unterschied in der Bestimmung der Konsequenzen im Bereich des Notwendigen und im Bereich des Zufälligen. Die geometrischen und metaphysischen Konsequenzen enthalten eine Nötigung, die physischen und moralischen aber machen nur geneigt, ohne zu nötigen; denn das Physische selbst enthält hinsichtlich Gottes etwas Moralisches und Gewolltes, da die Bewegungsgesetze keine andere Notwendigkeit besitzen als diejenige, die aus der Wahl des Besten stammt Über den Unterschied der »absoluten« und »hypothetischen«, der »logisch-metaphysischen« und der »moralischen« Notwendigkeit vgl. bes. Leibniz' Schreiben an Clarke V, § 33 ff. s. Bd. I, S. 166 ff. und Anm. 109) und den Discours de métaphysique, § 13 ff. Band II. S. 149 ff.. Nun wählt Gott frei, obgleich er das Beste zu wählen bestimmt wird. Und da die Körper selbst keine Wahl haben (weil Gott für sie gewählt hat), so hat der Sprachgebrauch gewollt, daß man ihre Wirksamkeit notwendig nennt. Ich widersetze mich dem nicht, sofern man nur nicht Notwendigkeit und Bestimmtheit verwechselt und so weit geht, sich einzubilden, daß die freien Wesen auf eine unbestimmte Art und Weise wirken: ein Irrtum, der viele Geister gefangen genommen hat und die wichtigsten Wahrheiten, ja sogar jenen fundamentalen Satz zerstört hat, daß nichts ohne Ursache geschieht – ein Satz, ohne den weder das Dasein Gottes, noch andere große Wahrheiten recht bewiesen werden können. Was den Zwang betrifft, so ist es gut, zwei Arten desselben zu unterscheiden: den physischen Zwang (wie wenn man einen Menschen gegen seinen Willen ins Gefängnis bringt oder in einen Abgrund wirft), und den moralischen Zwang, z. B. den Zwang mittels Androhung eines größeren Übels, denn die Handlung, welche dadurch veranlaßt wird, bleibt nichtsdestoweniger eine freiwillige. Man kann auch durch den Hinblick auf ein größeres Gut gezwungen werden, wie wenn man einen Menschen durch Versprechen eines unverhältnismäßig großen Vorteils in Versuchung führt, obgleich man dies gewöhnlich nicht Zwang zu nennen pflegt.

§ 14. Philal. Sehen wir jetzt zu, ob man nicht den seit so lange geführten, meines Erachtens aber sehr unvernünftigen, weil unverständlichen Streit endigen kann, ob der Wille des Menschen frei ist oder nicht?

Theoph. Man hat alle Ursache, sich über das sonderbare Verfahren der Menschen zu wundern, die sich mit schlecht verstandenen Streitfragen abquälen: sie suchen, was sie wissen, und wissen nicht, was sie suchen.

Philal. Die Freiheit, die ein bloßes Vermögen ist, kommt einzig und allein wirkenden Wesen zu und kann kein Attribut oder keine Modifikation des Willens sein, der selbst nichts anderes als ein Vermögen ist.

Theoph. Nach der eigentlichen Wortbedeutung haben Sie recht. Indessen kann man den angenommenen Sprachgebrauch auch einigermaßen entschuldigen. In derselben Weise pflegt man ja auch der Wärme oder anderen Eigenschaften ein bestimmtes Vermögen zuzuschreiben, nämlich dem Körper, sofern er diese Eigenschaften besitzt, und ebenso ist hier die Absicht zu fragen, ob der Mensch, indem er will, frei ist.

§ 15. Philal. Die Freiheit besteht in dem Vermögen des Menschen, eine Handlung seinem Willen gemäß zu tun oder zu unterlassen.

Theoph. Wenn die Menschen nur das unter Freiheit verstünden, so wäre die Frage, ob der Wille oder die Willkür frei sei, wirklich absurd; aber man wird bald sehen, was sie eigentlich wollen, und ich habe es sogar schon berührt. Allerdings stellen sie hierbei (aber auf Grund einer anderen Voraussetzung) oft auch wirklich absurde und unmögliche Fragen: so z. B., wenn sie eine absolute Indifferenz verlangen, die lediglich in der Einbildung besteht und sich in keiner Weise verwirklichen läßt, ja die ihnen, selbst wenn sie sie besäßen, zu nichts nütze sein könnte. Denn sie fordern hier eine Freiheit des Willens, sich im Gegensatz zu allen Motiven, die der Verstand darbieten kann, zu entscheiden: wodurch die wahre Freiheit, zugleich mit der Vernunft, zerstört werden und wir unter die Tiere erniedrigt werden würden.

§ 17. Philal. Wer da sagen wollte, daß das Vermögen der Sprache das Vermögen des Singens leitet, oder daß das Vermögen des Singens dem Vermögen der Sprache gehorcht oder nicht gehorcht, der würde sich ebenso schicklich und ebenso verständlich ausdrücken, als derjenige, der nach dem üblichen Sprachgebrauch sagt, daß der Wille den Verstand leitet und der Verstand dem Willen gehorcht oder nicht gehorcht. – § 18. Dennoch ist diese Ausdrucksweise herrschend geworden und hat, wenn ich nicht irre, viel Verwirrung verursacht: denn das Vermögen des Denkens wirkt so wenig auf das Vermögen des Wollens und umgekehrt, als das Vermögen des Singens auf das des Tanzens wirkt. – §19. Ich gestehe zu, daß dieser oder jener Gedanke dem Menschen Gelegenheit geben kann, sein Vermögen zu wählen, zu gebrauchen, und daß die Wahl des Geistes Ursache sein kann, daß er an dies oder jenes wirklich denkt: in derselben Art, wie das Singen einer gewissen Melodie die wirkliche Veranlassung sein kann, einen bestimmten Tanz zu tanzen.

Theoph. Hier liegt doch noch etwas mehr vor, als das bloße Darbieten von Gelegenheiten, nämlich eine gewisse Abhängigkeit; denn man kann nur das wollen, was man für gut hält, und je nachdem das Verstandesvermögen fortgeschritten ist, fällt die Wahl des Willens besser aus, wie auf der anderen Seite der Mensch, je nach der Energie seines Wollens, die Gedanken nach seiner Wahl bestimmt, statt durch unfreiwillige Perzeptionen bestimmt und fortgerissen zu werden.

Philal. Die Vermögen sind Relationen, nicht aber wirkende Wesen.

Theoph. Wenn die wesentlichen Vermögen nur Relationen sind und der Wesenheit nichts hinzufügen, so sind doch die zufälligen, der Veränderung unterworfenen Eigenschaften und Fähigkeiten etwas anderes, und von diesen kann man sagen, daß die einen in der Ausübung ihrer Verrichtungen von den anderen oft abhängig sind.

§21. Philal. Meines Erachtens darf nicht gefragt werden, ob der Wille frei sei, was eine sehr unangemessene Ausdrucksweise ist, sondern ob der Mensch frei sei. Dies einmal gesetzt, behaupte ich, daß jemand so lange frei ist, als er kraft der Richtung, die er seinem Geiste gibt oder durch seine Wahl die Ausführung einer Handlung ihrer Nichtausführung vorziehen kann und umgekehrt, d. h. so lange er bewirken kann, daß sie gemäß seinem Willen geschieht oder nicht. Auch wüßten wir kaum zu sagen, wie man sich ein noch freieres Wesen denken könnte, als ein solches, das fähig ist, das zu tun, was es will, so daß der Mensch hinsichtlich der Handlungen, die von ihm und seiner Macht abhängen, so frei zu sein scheint, als die Freiheit selbst, wenn ich mich so ausdrücken darf, ihn nur frei zu machen vermag.

Theoph. Wenn man über die Freiheit des Willens oder über die freie Willkür spricht, so fragt man nicht, ob der Mensch tun kann, was er will, sondern ob er in seinem Willen selbst Unabhängigkeit besitzt. Man fragt nicht, ob er freie Füße und Hände hat, sondern ob sein Geist frei ist, und was dies bedeutet. In dieser Hinsicht wird ein geistiges Wesen freier sein können als ein anderes und der höchste Geist wird sich in einer vollkommenen Freiheit befinden, deren die Kreaturen nicht fähig sind.

§22. Philal. Die Menschen, von Natur vorwitzig und bestrebt, soviel sie können, aus ihrem Geist den Gedanken zu entfernen, daß sie eine Schuld trifft, sollten sie sich selbst dadurch in einen Zustand schlimmer als den einer blinden Schicksalsnotwendigkeit versetzen, sind dennoch damit nicht zufrieden. Wenn die Freiheit nicht noch weiter geht, so ist sie nicht nach ihrem Geschmack, und ihrer Ansicht nach ist es ein sehr starker Beweis dafür, daß der Mensch überhaupt nicht frei ist, wenn er nicht ebensogut die Freiheit hat, zu wollen, als die, was er will, zu tun.

§ 23. Ich glaube indessen, daß der Mensch hinsichtlich eines bestimmten Willensaktes, der auf eine bestimmte, in seinem Vermögen liegende Handlung gerichtet ist, nicht frei sein kann, wenn er diese Handlung einmal in seinem Geiste sich vorgesetzt hat. Die Ursache davon ist ganz klar; denn da die Handlung von seinem Willen abhängt, so muß sie notwendigerweise sein oder nicht sein, und da ihr Sein oder Nichtsein der Bestimmung und der Wahl seines Willens unfehlbar folgen muß, so kann er nicht umhin, das Sein oder Nichtsein dieser Handlung zu wollen.

Theoph. Ich möchte glauben, daß man seine Wahl aufschieben kann und daß dies auch recht oft geschieht, besonders wenn anderweitige Gedanken die Überlegung unterbrechen. Wenn daher auch die Handlung, über die man mit sich zu Rate geht, sein oder nicht sein muß, so folgt daraus doch nicht, daß man notwendig deren Sein oder Nichtsein beschließen müsse, denn ihr Nichtsein kann auch daher stammen, daß man überhaupt keinen Beschluß faßt. So sprachen die Areopagiten in Wirklichkeit einen Mann frei, dessen Prozeß zu entscheiden sie zu schwierig gefunden hatten, indem sie den Prozeß auf einen sehr entfernten Zeitpunkt verschoben und sich hundert Jahre zur Überlegung nahmen.

Philal. Wenn man den Menschen auf diese Art frei macht, indem man nämlich die Handlung des Wollens vom Willen abhängig macht, so muß er noch einen anderen Willen oder ein anderes vorhergehendes Vermögen zu wollen haben, um die Akte dieses Willens zu bestimmen, und wieder einen anderen, um dieses zu bestimmen, und so bis ins Unendliche fort; denn wo man auch immer anhält, können die Handlungen des letzten Willens nicht frei sein.

Theoph. Allerdings spricht man ungenau, wenn man so redet, als ob wir unser Wollen wollten. Wir wollen nicht wollen, sondern wir wollen handeln: denn wenn wir wollen wollten, so würden wir wollen wollen wollen, und das würde bis ins Unendliche fortgehen. Indessen dürfen wir uns nicht verhehlen, daß wir durch freiwillige Handlungen oft indirekt andere freiwillige Handlungen veranlassen können: denn obwohl man es nicht in seiner Macht hat, zu wollen, wie man will, oder auch nur zu urteilen, wie man will, so kann man doch im voraus Vorkehrungen dafür treffen, daß man sein Urteil oder seinen Willen in der Weise bestimmt, daß sie mit der Zeit imstande sind, sich so zu verhalten, wie man es für heute von ihnen wünschen möchte. Man schließt sich Menschen an, man wählt eine Art von Lektüre und Betrachtungen, die einen fördern können, man entscheidet sich für eine bestimmte Richtung, ohne das, was in entgegengesetzter Richtung liegt, zu beachten und vermöge dieser Hilfsmittel und tausend anderer, die man meistens ohne bestimmten Vorsatz und ohne daran zu denken, anwendet, gelangt man dazu, sich zu ändern oder wenigstens sich zu täuschen Im Leibnizschen Text ist hier eine Umstellung vorgenommen; ich lese: » on réussit à se changer ou du moins à se tromper«. und sich je nach den Umständen, zu bessern oder zu verschlechtern.

§25. Philal. Da es also ausgemacht ist, daß der Mensch nicht die Freiheit hat, sein Wollen oder Nicht-Wollen selbst zu wollen, so ist jetzt zunächst zu fragen, ob der Mensch die Freiheit hat, dasjenige von zwei Dingen zu wollen, was ihm gefällt, z. B. die Bewegung oder die Ruhe. Aber diese Frage ist in sich selbst so offenbar widersinnig, daß sie genügt, jeden, der darüber nachdenkt, zu überzeugen, daß die Freiheit in keinem Falle den Willen angeht. Denn fragen, ob der Mensch die Freiheit habe zu wollen, was ihm gefällt, die Bewegung oder die Ruhe, das Reden oder das Schweigen – das heißt fragen, ob ein Mensch das wollen kann, was er will, oder ob ihm das gefällt, was ihm gefällt – eine Frage, die meiner Ansicht nach keiner Beantwortung bedarf.

Theoph. Trotz alledem schaffen die Menschen sich hier eine Schwierigkeit, die gelöst zu werden verdient. Sie sagen, daß, nachdem sie alles erkannt und erwogen haben, es noch in ihrer Macht stehe, nicht nur das zu wollen, was ihnen am meisten zusagt, sondern auch das gerade Gegenteil, bloß um ihre Freiheit zu zeigen. Man muß aber bedenken, daß in diesem Falle eben diese Laune oder dieser Eigensinn, oder zum mindesten eben dieser Grund, aus dem heraus sie sich entscheiden, den anderen Gründen nicht zu folgen, mit in die Wagschale fällt und sie veranlaßt, an etwas Gefallen zu finden, was ihnen sonst nicht behagen würde, so daß ihre Wahl doch noch immer durch den Inhalt ihres Bewußtseins bestimmt ist. Man will also nicht das, was man gern wollen möchte, sondern was einem gefällt; obgleich der Wille, wie ich schon bemerkt habe, indirekt und gleichsam von ferne dazu beitragen kann, daß etwas gefalle oder nicht gefalle. Da die Menschen diese verschiedenen Erwägungen nicht gehörig zu sondern wissen, so ist es nicht zu verwundern, daß man sich betreffs dieses Problems, das so viele verborgene Schwierigkeiten enthält, in solche Verwirrung gerät.

§ 29. Philal. Wenn man fragt, was eigentlich den Willen bestimme, so besteht die wahre Antwort darin, daß der Geist es ist, der ihn bestimmt. Wenn diese Antwort nicht genügt, so ist klar, daß der Sinn dieser Frage sich darauf zurückzuführen läßt, was denn den Geist in einem bestimmten Fall antreibt, sein allgemeines Vermögen, sich auf Ruhe oder Bewegung zu richten, gerade zu dieser besonderen Bewegung oder dieser besonderen Ruhe zu bestimmen. Ich antworte darauf, daß das, was uns veranlaßt, in demselben Zustand zu bleiben oder dieselbe Handlung fortzusetzen, einzig und allein die Befriedigung ist, die beides uns gegenwärtig gewährt, während umgekehrt das Motiv, das uns antreibt, unseren Zustand zu ändern, stets eine gewisse Unruhe ist.

Theoph. Diese Unruhe ist, wie ich schon im vorigen Kapitel gezeigt habe, nicht immer ein Mißvergnügen, wie die ruhige Stimmung, in der man sich befindet, nicht immer eine Befriedigung oder ein Vergnügen ist. Oft veranlaßt uns eine unmerkliche Perzeption, die man nicht klar und deutlich unterscheiden und entwirren kann, uns eher nach der einen als nach der anderen Seite zu neigen, ohne daß man sich darüber Rechenschaft ablegen kann.

§ 30. Philal. Der Wille und das Verlangen dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Jemand hat das Verlangen, von der Gicht befreit zu werden, da er aber begreift, daß die Entfernung dieses Schmerzes die Übertragung eines gefährlichen Krankheitsstoffes in einen edleren Teil verursachen kann, so wird sein Wille sich zu keiner Handlung bestimmen lassen, die dazu dienen kann, diesen Schmerz zu entfernen.

Theoph. Das Verlangen ist, im Vergleich mit dem vollen Wollen, nur eine Art Willensanwandlung: man möchte z. B. wollen, wenn man nicht, falls man das, was man will, erlangt, ein viel größeres Übel zu fürchten oder falls man darauf verzichtet, ein viel größeres Gut zu hoffen hätte. Man kann indessen sagen, daß der Mensch mit einem gewissen Grad des Willens von der Gicht befreit sein will, daß dieser Grad aber nicht bis zur entscheidend letzten Anstrengung reicht. Diese Art Willen nennt man Velleität, insofern sie eine gewisse Unvollkommenheit oder Kraftlosigkeit in sich schließt.

§ 31. Philal. Man muß indessen bemerken, daß dasjenige, was den Willen zum Handeln bestimmt, nicht, wie man gewöhnlich annimmt, das größte Gut ist, sondern vielmehr irgendeine gerade vorhandene Unruhe, und zwar gewöhnlich die, die am dringendsten ist. Diese kann man Verlangen nennen, womit tatsächlich eine Unruhe des Geistes bezeichnet wird, die durch die Entbehrung eines abwesenden Gutes verursacht wird; abgesehen von dem Verlangen, vom Schmerze befreit zu werden. Nicht jedes abwesende Gut erzeugt einen Schmerz, der dem Grade der in ihm liegenden oder von uns vorausgesetzten Vortrefflichkeit gemäß ist, während jeder Schmerz ein Verlangen verursacht, das ihm genau entspricht: denn die Abwesenheit eines Gutes ist nicht immer ein Übel, wie es die Anwesenheit des Schmerzes ist. Dies ist der Grund, warum man ein abwesendes Gut ohne Schmerz betrachten und ins Auge fassen kann; in dem Maße aber, als das Verlangen erregt wird, herrscht auch Unruhe. – § 32. Wer sollte nicht beim Verlangen das empfunden haben, was der Weise von der Hoffnung sagt (Sprüche Salom. XIII, 12): »Die Hoffnung, die da verziehet, ängstigt das Herz?« Rahel ruft aus (1. Buch Mos. XXX, 1): »Schaffe mir Kinder, oder ich sterbe!« – § 34. Wenn der Mensch in dem Zustande, in welchem er sich findet, vollständig befriedigt ist, oder wenn er vollkommen von aller Unruhe frei ist, was kann ihm dann noch für ein Wille bleiben, als der, in diesem Zustande zu verharren? So hat der weise Urheber unseres Wesens die Beschwerlichkeit des Hungers und Durstes und der anderen natürlichen Triebe in die Menschen gepflanzt, um ihren Willen zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung ihres Geschlechtes aufzuregen und zu bestimmen. »Es ist besser freien, denn Brunst leiden,« sagt St. Paulus (1. Kor. VII, 9). So wahr ist es, daß die gegenwärtige Empfindung eines kleinen ungestillten Triebes mehr Gewalt über uns hat, als der Reiz der größten Lust, wenn man sie von fern betrachtet.

§ 35. Allerdings ist der Grundsatz, daß das Gute, und zwar das größte Gut den Willen bestimme, ein so allgemein angenommener, daß ich mich gar nicht darüber wundere, ihn sonst als unzweifelhaft vorausgesetzt zu haben. Nach einer gründlichen Untersuchung jedoch fühle ich mich zu dem Schlusse gezwungen, daß das Gute und das größte Gut, selbst wenn es als solches beurteilt und anerkannt wird, unseren Willen nicht bestimmt, außer sofern in uns zugleich ein Verlangen entsteht, das seiner Vortrefflichkeit angemessen ist und sofern dies Verlangen uns in Unruhe darüber versetzt, daß wir jenes Gut entbehren müssen. Setzen wir den Fall, ein Mensch sei von dem Nutzen der Tugend so sehr überzeugt, daß er einsieht, sie sei für jeden notwendig, der etwas Großes in dieser Welt sich vorsetzt oder in der anderen glücklich zu sein hofft: so wird sich doch dieser Mensch, wenn ihn nach der Gerechtigkeit nicht hungert und dürstet, kraft seines Willens niemals zu irgendeiner Handlung bestimmen, die ihm zur Verfolgung dieses vortrefflichen Gutes dient, vielmehr wird irgendeine andere Unruhe, die ihm in die Quere kommt, seinen Willen zu anderen Dingen fortreißen. Setzen wir auf der anderen Seite den Fall, jemand, der dem Trunke ergeben ist, erwäge, daß er durch die Lebensweise, die er führt, seine Gesundheit zerstöre und sein Vermögen vergeude, daß er sich vor der Welt entehre, sich Krankheiten zuziehe und endlich so sehr in Armut versinken werde, um nicht einmal seiner festgewurzelten Leidenschaft des Trunkes mehr nachhangen zu können. Trotz alledem führt ihn die Unruhe, die er darüber empfindet, von seinen Zechbrüdern entfernt sein zu sollen, zur gewohnten Stunde wieder ins Wirtshaus zurück, obgleich er dann den Verlust seiner Gesundheit und seines Vermögens, ja vielleicht sogar den des Glückes im anderen Leben vor Augen hat – eines Glückes, das er an und für sich gewiß nicht als ein an sich unbedeutendes Gut betrachten kann, das vielmehr nach seinem eigenen Geständnis weit vortrefflicher, als das Vergnügen zu trinken und das leere Geschwätz einer Gesellschaft von Trinkern ist. Nicht also, weil er sein Augenmerk nicht auf das höchste Gut richtet, beharrt er in seinem unordentlichen Leben (denn er versteht die Vortrefflichkeit jenes und erkennt sie an, so daß er während der Zeit, die zwischen den Stunden des Trinkens verstreicht, den Vorsatz faßt, der Verfolgung dieses höchsten Gutes nachzuleben), vielmehr hat dieses Gut, das er für weit vortrefflicher als das des Trinkens anerkennt, wenn erst die Unruhe, das gewohnte Vergnügen zu entbehren, ihn wieder quält, keine Gewalt mehr über seinen Geist, und diese augenblickliche Unruhe bestimmt seinen Willen zur gewohnten Handlung, indem sie kraft des stärkeren Eindrucks, den sie macht, bei der ersten Gelegenheit das Übergewicht erhält, – wenngleich er sich gleichzeitig wie durch geheime Gelübde selbst angelobt, nicht mehr dasselbe zu tun und sich einbildet, dies werde das letztemal sein, daß er gegen sein höchstes Interesse handelt. So muß er denn von Zeit zu Zeit bekennen:

Video meliora proboque,
Deteriora sequor!

ich sehe das Bessere und billige es, folge aber dem Schlechteren Ovid, Metamorphosen, Buch VII. 20 f. (Sch.).. Dieser Spruch, den man als wahr kennt und der nur zu sehr durch beständige Erfahrung bestätigt wird, ist aus diesem Gesichtspunkt, vielleicht aber aus keinem anderen, leicht zu begreifen.

Theoph. In diesen Betrachtungen liegt etwas Richtiges und Wohlbegründetes. Ich möchte indessen nicht, daß man sich dadurch zu dem Glauben verleiten ließe, man müsse darum jene alten Grundsätze aufgeben, daß der Wille dem größten Gute folgt oder das größte Übel, das er empfindet, vermeidet. Der Umstand, daß man den wahren Gütern so wenig nachtrachtet, kommt zum guten Teile daher, daß bei all denjenigen Dingen und Vorgängen, die nur eine geringe sinnliche Wirksamkeit besitzen, unsere Gedanken zumeist sozusagen taub sind (auf Latein nenne ich sie cogitationes caecas – blinde Gedanken), d. h. leer von Anschauung und Empfindung, und in der bloßen Anwendung von Zeichen bestehen. Dies ist z. B. bei denen der Fall, die irgendwelche Aufgaben der analytischen Geometrie rein rechnerisch behandeln, ohne die geometrischen Figuren, um die es sich handelt, anders als nur zeitweise zu betrachten, und ähnlich wie mit den arithmetischen oder algebraischen Zeichen geht es hier gewöhnlich mit den Worten. Man denkt oft in Worten, fast ohne den Gegenstand selbst im Geiste zu haben. Nun übt eine derartige Erkenntnis keine starke Wirkung aus: vielmehr bedarf es der lebendigen Anschauung, um uns fortzureißen. Zumeist aber denken die Menschen nur in dieser Weise an Gott, an die Tugend, an die Glückseligkeit: sie reden und denken ohne bestimmt ausgeprägte Ideen. Nicht als ob sie solche nicht haben könnten – denn sie liegen ja in ihrem Geiste –, sondern weil sie sich nicht die Mühe geben, die Analyse weit genug zu treiben. So machen sie sich bisweilen Vorstellungen von einem abwesenden Gut oder Übel, die aber nur sehr schwach sind: kein Wunder also, daß sie keinen Eindruck machen. Wenn wir daher das Schlechtere vorziehen, so geschieht es, weil wir das Gute, das in ihm enthalten ist, empfinden, ohne das Übel in ihm oder das Gute, das in seinem Gegenteil liegt, zu fühlen. Wir nehmen an und glauben, oder vielmehr wir wiederholen im Vertrauen auf andere, oder höchstens im Vertrauen auf eigene, frühere Vernunfterwägungen, deren wir uns entsinnen, daß das größere Gut auf der besseren Seite, oder das größere Übel auf der entgegengesetzten Seite, liege. Fassen wir diese Vernunftgründe aber nicht fest ins Auge, so sind unsere Gedanken und Räsonnements, die sich hier dem Gefühl entgegenstellen, eine Art von Psittacismus »Psittacisme« – von psittacus, Papagei – ein Denken in bloßen Wortzeichen oder sonstigen leeren Symbolen, ohne gegenwärtige Einsicht in ihre Bedeutung., der im Augenblicke für den Geist nichts ausmacht; und wenn wir nicht Maßregeln zur Abhilfe ergreifen, so sind sie wie im Winde verflogen, was ich schon oben bemerkt habe (B. I. K. 2 § 11). Die schönsten Vorschriften der Moral nebst den besten Klugheitsregeln wirken nur auf eine Seele, die für sie empfänglich ist (entweder unmittelbar oder, da dies nicht immer möglich ist, wenigstens mittelbar, wie ich bald zeigen werde) und die nicht für das Gegenteil empfänglicher ist. Cicero sagt irgendwo sehr gut, daß, wenn unsere Augen die Schönheit der Tugend sehen könnten, wir sie mit Inbrunst lieben würden Die von Leibniz gemeinte Stelle scheint die aus der Schrift Ciceros, de Finibus II, c. 16, § 52 zu sein, wo freilich nicht von der Tugend im allgemeinen, sondern von der Weisheit im besonderen die Rede ist. (Oculorum, inquit Plato, est in nobis sensus acerrimus quibus sapientiam non cernimus. Quam illa ardentes amores excitaret sui, si videretur) Cf. Platon, Phaedrus 260 D (Sch.).: aber da weder dies noch etwas Gleichwertiges geschieht, so muß man sich nicht wundern, wenn in dem Kampfe zwischen Fleisch und Geist der Geist so oft unterliegt, weil er von seinen Vorzügen keinen Gebrauch macht. Dieser Kampf ist nichts anderes als der Widerstreit der verschiedenen Strebungen, die aus den verworrenen und aus den deutlichen Gedanken entstehen. Die verworrenen Gedanken werden oft klar erfaßt, während unsere deutlichen Gedanken zumeist nur potentiell klar sind: sie könnten es sein, wenn wir uns die Mühe geben wollten, in den Sinn der Worte oder Zeichen einzudringen, aber da man dies aus Nachlässigkeit oder wegen der Kürze der Zeit unterläßt, so setzt man lebhaften Empfindungen bloße Worte oder doch nur schwache Bilder entgegen. Ich habe einen in der Kirche und im Staate hervorragenden Mann gekannt, der sich infolge von Krankheit zur Einhaltung einer bestimmten Diät entschlossen hatte, aber er gestand, daß er dem Geruche von Fleischspeisen, die man an seinem Zimmer vorbei anderen auftrug, nicht habe widerstehen können. Das ist ohne Zweifel eine schmähliche Schwäche, aber so sind die Menschen nun einmal! Wenn indessen der Geist sich seiner Vorteile recht bedienen wollte, so würde er den entschiedensten Sieg davontragen. Den Beginn muß die Erziehung machen, die in der Art geregelt werden sollte, daß man die wahren Güter und die wahren Übel, so viel als möglich, fühlbar macht, indem man die für die Erläuterung dieser Begriffe passendsten Umstände hervorhebt. Ein Erwachsener hingegen, der keine solche treffliche Erziehung erhalten hat, muß, lieber spät als niemals, beginnen, erleuchtete und vernünftige Vergnügungen zu suchen, um sie der Lust der Sinne, die verworren aber eindrucksvoll ist, entgegenzusetzen. Auch ist in der Tat die göttliche Gnade selbst eine Lust, die mit Erleuchtung verknüpft ist. Wenn also ein Mensch gute Regungen hat, so muß er sich für die Zukunft Gesetze und Regeln machen, sie mit Strenge durchführen und sich den Umständen, welche ihn verderben könnten, auf einmal oder allmählich, je nach der Natur der Sache, entziehen. Eine Reise, die eigens zu diesem Zwecke unternommen wird, kann einen Verliebten heilen, und von einem Umgang, der uns in irgendeiner schlechten Neigung bestärkt, können wir uns zurückziehen. Der Jesuitengeneral Franz von Borgia, welcher schließlich kanonisiert worden ist, war gewohnt, als er noch in der großen Welt lebte, stark zu zechen; nach und nach aber, als er sich zurückzuziehen gedachte, gewöhnte er sich an Mäßigkeit, indem er täglich einen Tropfen Wachs in den Pokal tröpfelte, den er zu leeren gewohnt war. Gefährlichen sinnlichen Vergnügungen wird man irgendein anderes unschuldiges sinnliches Vergnügen, wie Ackerbau oder Gärtnerei, entgegensetzen: man wird den Müßiggang fliehen, wird Merkwürdigkeiten der Natur und der Kunst sammeln, Experimente und Untersuchungen anstellen, sich zu irgendeiner Beschäftigung, der man sich nicht entziehen darf, verpflichten, wenn man keine hat, oder irgendeine nützliche und angenehme Unterhaltung oder Lektüre suchen. Mit einem Worte: man muß die guten Regungen als Gottes Stimme, die uns ruft, nutzen, um wirksame Entschlüsse zu fassen. Und da man die Begriffe der wahren Güter und der wahren Übel nicht immer bis zur wirksamen Erfassung der Lust und des Schmerzes, den beides in sich faßt, zergliedern kann, so muß man es sich ein für allemal zum Gesetz machen, auf die Schlüsse der gesunden Vernunft zu achten und ihnen, nachdem man sie einmal begriffen hat, zu folgen, selbst wenn man sich ihrer in der Folge in der Regel nur in tauben Gedanken, die von allen sinnlichen Reizen entblößt sind, bewußt werden sollte. Dadurch wird man endlich die Herrschaft über die Leidenschaften, wie über die unmerklichen Neigungen oder Antriebe gewinnen, indem man die Fertigkeit erlangt, gemäß der Vernunft zu handeln, die die Tugend angenehm und gleichsam natürlich machen wird. Aber es handelt sich hier nicht darum, moralische Vorschriften oder geistliche Ratschläge zur Ausübung wahrer Frömmigkeit zu geben; es genügt, durch Betrachtung der Vorgänge in unserer Seele die Quelle unserer Schwächen zu entdecken, deren Erkenntnis zu gleicher Zeit das Heilmittel gegen sie gewährt.

§ 36. Philal. Nur die gegenwärtige Unruhe, die uns bedrängt, wirkt auf den Willen und bestimmt ihn auf natürliche Weise in der Richtung auf jenes Glück, nach dem wir alle in allen unseren Handlungen streben, – weil jeder den Schmerz und die uneasiness (d. h. die Unruhe oder besser die Beschwerlichkeit, die uns nicht zum Gefühl des Behagens kommen läßt) als Dinge betrachtet, die mit der Glückseligkeit unverträglich sind. Ein geringer Schmerz reicht hin, alles Vergnügen, das wir genießen, zu verderben. Folglich wird, sobald wir irgendeinen Schmerz fühlen, das nächste Ziel, das unser Wille sich sogleich setzt, stets die Entfernung dieses Schmerzes sein: denn in ihr besteht der erste Schritt zum Glück.

Theoph. Wenn Sie Ihre uneasiness oder Unruhe als eine wahre Unlust ansehen, so gebe ich nicht zu, daß sie die alleinige Triebfeder sei. Diese liegt vielmehr zumeist in jenen schwachen unmerklichen Perzeptionen, die man unmerkliche unbewußte Schmerzen nennen könnte, wenn der Begriff des Schmerzes nicht den Begriff der Merklichkeit einschlösse. Diese kleinen Antriebe sind beständig darauf gerichtet, kleine Hemmungen aus dem Wege zu räumen, woran unsere Natur, ohne daß man daran denkt, arbeitet. Hierin besteht in Wahrheit jene Unruhe, die man empfindet, ohne sie klar zu erkennen, und die sowohl in den Leidenschaften, als auch dann, wenn wir am ruhigsten erscheinen, den Grund unserer Tätigkeit ausmacht. Denn wir sind niemals ohne jegliche Tätigkeit und Bewegung, was nur daher kommt, daß die Natur immer darauf hinarbeitet, sich in einen befriedigenderen Zustand zu versetzen. Dies bestimmt uns denn auch, vor jeder bewußten Erwägung, in den Fällen, die uns die gleichgültigsten scheinen: denn wir sind niemals vollkommen im Gleichgewicht und können uns nie genau in der Mitte zwischen zwei Fällen befinden. Wenn nun diese Elemente des Schmerzes (die mitunter, wenn sie zu sehr anwachsen, in wirklichen Schmerz oder wirkliche Unlust ausarten) wahre Schmerzen wären, so würden wir stets elend sein, wenn wir das Gute, das wir suchen, mit Unruhe und Eifer verfolgten. In Wahrheit aber gilt gerade das Gegenteil: denn wie ich bereits erwähnt habe (§ 6 des vorigen Kapitels), ist die Anhäufung dieser kleinen beständigen Erfolge der Natur, die sich mehr und mehr in die Lage, die ihr genehm ist, versetzt, indem sie auf das Gute hinzielt und sich an seinem Bilde erfreut, oder indem sie das Gefühl des Schmerzes vermindert, selbst schon eine beträchtliche Lust und oft mehr wert, als der Genuß des Gutes selbst. Weit entfernt also, daß man diese Unruhe als etwas mit dem Glück Unverträgliches betrachten müsse, finde ich vielmehr, daß sie zum Glück der erschaffenen Wesen wesentlich ist; denn dies besteht niemals in einem vollkommenen Besitze, der sie unempfindlich und gleichsam stumpfsinnig machen würde, sondern in einem beständigen ununterbrochenen Fortschritt zu größeren Gütern, der unfehlbar von einem beständigen Verlangen, oder wenigstens von einer immerwährenden Unruhe begleitet sein muß, die jedoch, in dem Sinne, wie ich es oben erklärt habe, niemals so weit geht, beschwerlich zu fallen, sondern sich auf jene teilweise unmerklichen Elemente oder Rudimente des Schmerzes beschränkt, welche nichtsdestoweniger hinreichen, als Antrieb zu dienen und den Willen zu erregen; wie dies z. B. bei einem Gesunden mit dem Appetit der Fall ist, wenn er nicht so beschwerlich wird, daß er uns ungeduldig macht und durch eine zu starke Hingabe an die Vorstellung dessen, was uns fehlt, plagt. Diese schwachen oder starken Begehrungen nennt man in den Schulen motus primo primi und sie sind in Wahrheit die ersten Schritte, vermöge deren uns die Natur nicht sowohl auf das Glück als auf die Lust hinleitet; denn man hat hierbei immer nur die Gegenwart im Auge. Erfahrung und Vernunft aber lehren diese Begehrungen regeln und sie derart mäßigen, daß sie zum Glück führen können. Ich habe hiervon schon etwas gesagt (Bd. I, K. 2, § 3). Die Begehrungen gleichen dem Streben eines Steins, der sich dem Mittelpunkt der Erde immer auf dem geradesten, aber nicht immer auf dem besten Wege zubewegt, da er nicht voraussehen kann, daß er Felsen auf seinem Wege treffen werde, an denen er zerschellen muß, während er sich seinem Ziele mehr genähert haben würde, wenn er Geist und Voraussicht genug besessen hätte, um einen Umweg zu machen. So stürzen auch wir bisweilen, indem wir geraden Weges auf eine gegenwärtige Lust losgehen, in den Abgrund des Elends. Daher hält uns die Vernunft die Bilder größerer zukünftiger Güter oder Übel entgegen und befestigt in uns den Entschluß und die Gewohnheit, zu überlegen, ehe wir handeln, und dann dem zu folgen, was wir als das Beste erkannt haben, selbst dann, wenn die Gründe unserer Entschlüsse unserem Geiste nicht mehr in sinnlicher Frische gegenwärtig sind, sondern fast nur noch in schwachen Bildern, ja selbst in tauben Gedanken bestehen sollten, die uns nur Worte oder Zeichen ohne tatsächliche anschauliche Erfüllung geben. Demnach liegt alles in der Mahnung: » Bedenke es wohl!« und » Sei eingedenk!«, deren erste uns auffordert, uns Gesetze zu machen, während die zweite uns daran erinnert, sie auch dann zu befolgen, wenn man nicht mehr an den Grund denkt, aus dem sie entstanden sind. Indessen ist es gut, an ihn soviel als möglich zu denken, um dadurch die Seele mit einer vernünftigen Freude und einer erleuchteten Lust zu erfüllen.

§ 37. Philal. Diese Vorsichtsmaßregeln sind ohne Zweifel um so nötiger, als die Vorstellung eines abwesenden Gutes der Empfindung von Unruhe und Unlust, von der wir gerade belästigt werden, nicht so weit das Gleichgewicht halten kann, daß jenes Gut in uns irgendein Verlangen erweckt. Wieviel Leute gibt es nicht, denen man die unaussprechlichen Freuden des Paradieses in lebhaften Bildern darstellt, die sie für möglich und wahrscheinlich anerkennen, und die sich gleichwohl gern mit der Glückseligkeit, die sie in dieser Welt genießen, begnügen. Denn da die Unruhe ihrer gegenwärtigen Wünsche die Oberhand behält und sich der Lust dieses Lebens mit Ungestüm zuwendet, so wird ihr Wille hierdurch bestimmt, diese Lust zu suchen; – und solange er dies tut, sind sie gegen die Güter des anderen Lebens ganz unempfindlich.

Theoph. Zum Teil kommt dies daher, daß die Menschen oft kaum wirklich überzeugt sind und daß, was sie auch sagen mögen, im Grunde ihrer Seele eine verborgene Ungläubigkeit herrscht: denn sie haben die sicheren Beweisgründe für die Unsterblichkeit der Seele, die der Gerechtigkeit Gottes würdig und der Grundpfeiler der wahren Religion ist, niemals begriffen, oder erinnern sich nicht mehr, sie begriffen zu haben, das eine oder das andere aber ist notwendig, wenn man überzeugt sein soll. Nur wenige begreifen auch nur die Möglichkeit eines zukünftigen Lebens, wie die wahre Religion, ja selbst die wahre Vernunft es lehren, geschweige daß sie seine Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen, seine Gewißheit begriffen. Alles, was sie darüber denken, ist nur Psittazismus, oder es sind grobsinnliche, eitle Bilder nach der Art der Mohammedaner, die doch diesen Bildern selbst wenig Glauben beimessen; denn sie machen keineswegs einen so starken Eindruck auf sie, wie dies der Sage nach bei den Kriegern des Assassinenfürsten, des Herrn der Berge, der Fall war. Diese brachte man im tiefen Schlafe an einen Ort voller Herrlichkeiten, so daß sie sich im Paradies des Mohammed wähnten und hier empfingen sie durch vermeintliche Engel oder Heilige Lehren nach dem Wunsche ihres Fürsten, worauf sie wieder eingeschläfert und an den früheren Ort zurückgebracht wurden: dies gab ihnen alsdann die Kühnheit, alles zu unternehmen, sogar Angriffe auf das Leben der Fürsten, welche ihrem Herrn feind waren. Ich weiß nicht, ob man diesem Herrn vom Berge, oder dem Alten vom Berge, wie man ihn nennt, nicht unrecht getan hat; denn man kann eben nicht viele bedeutende Fürsten nennen, die er hätte töten lassen, wenngleich die englischen Geschichtschreiber, um König Richard I. von der Ermordung eines Grafen oder Fürsten von Palästina freizusprechen, einen Brief jenes Alten vom Berge anführen, in welchem er gesteht, daß er ihn wegen einer Beleidigung, die er ihm zugefügt, habe töten lassen Diese Geschichte bezieht sich auf die Ermordung des Markgrafen Conrad, eines tapferen Gegners Saladins (Vgl. G. Weil, Geschichte der Chalifen, Band III, S. 423; Wilken, Geschichte der Kreuzzüge V, 485 ff.) (Sch.).. Wie es sich indes hiermit auch verhalten mag: so wollte doch vielleicht dieser Fürst der Assassinen, in großem Eifer für seine Religion, seinen Leuten eine vorteilhafte Vorstellung vom Paradiese einflößen, die ihnen stets gegenwärtig sein und niemals zu einem bloßen tauben Gedanken werden sollte, ohne zu verlangen, daß sie glauben müßten, sie seien wirklich im Paradies gewesen. Aber gesetzt, daß er selbst dies vorgegeben habe, so dürfte man sich nicht darüber wundern, daß dieser fromme Betrug mehr Wirkung gehabt habe als die Wahrheit, wenn man sie nicht in der rechten Weise gebraucht. Gleichwohl würde nichts stärker sein als die Wahrheit, wenn man sich bestrebte, sie recht zu erkennen und zur Geltung zu bringen, und ohne Zweifel ließe sich ein Weg finden, auf dem man die Menschen kräftig zu ihr hinführen könnte. Wenn ich bedenke, was Ehrsucht oder Geiz bei allen denen vermögen, die sich einmal einer derartigen Lebensführung, die doch aller sinnlich-gegenwärtigen Reize fast völlig bar ist, überlassen haben, so verzweifle ich an nichts und behaupte, daß die Tugend, die ja so viel echte Güter mit sich führt, eine unendlich größere Wirkung haben würde, wenn irgendeine glückliche Umwälzung der Menschheit sie einmal in Aufnahme und gleichsam in Mode bringen würde. Ganz gewiß könnte man die jungen Leute daran gewöhnen, in der Übung der Tugend ihre größte Lust zu suchen, und auch die Erwachsenen könnten es sich zur Regel und Gewohnheit machen, ihnen hierin zu folgen. Sie würden sich hierdurch so stark zu ihr hingezogen fühlen und, wenn sie einmal von ihr abwendig gemacht würden, eine solche Unruhe empfinden, wie ein Trunkenbold sie empfindet, wenn er daran verhindert ist, ins Wirtshaus zu gehen. Ich füge diese Betrachtungen über die Möglichkeit, ja über die Leichtigkeit, gegen unsere Übel anzukämpfen, gern hinzu, um nicht dazu beizutragen, die Menschen durch die bloße Darlegung unserer Schwächen in der Verfolgung der wahren Güter mutlos zu machen.

§ 39. Philal. Fast alles kommt darauf an, daß man das Verlangen nach den wahren Gütern beständig erweckt. Denn selten geschieht es, daß eine freiwillige Handlung in uns zustande kommt, ohne von irgendeinem Verlangen begleitet zu sein; darum werden der Wille und das Verlangen so oft miteinander verwechselt. Indessen darf man auch jene Unruhe, welche ein Bestandteil oder wenigstens eine Folge der meisten Leidenschaften ist, hierbei nicht gänzlich von der Betrachtung ausschließen; denn Haß, Furcht, Zorn, Neid und Scham bergen in sich je eine besondere, ihnen eigentümliche Unruhe, vermöge deren sie auf den Willen wirken. Daß irgendeine dieser Leidenschaften für sich allein vorkommt, bezweifle ich; wie ich auch kaum glaube, daß sich irgendeine Leidenschaft finden ließe, die nicht vom Verlangen begleitet wäre. Übrigens bin ich sicher, daß überall dort, wo eine Unruhe besteht, auch ein Verlangen besteht. Da ferner die Ewigkeit nicht an den gegenwärtigen Moment gebunden ist, so richten wir unseren Geist, wie groß auch die Lust sein mag, die wir gegenwärtig genießen, über das Jetzt hinaus, und das Verlangen, das durch diese Vorwegnahme der Zukunft erregt wird, zieht den Willen stets nach sich: so daß mitten in der Freude selbst, das Verlangen, die Lust fortzusetzen, oder die Furcht, ihrer beraubt zu werden, die Tätigkeit unterhalten, von der die gegenwärtige Lust abhängt. Wenn jedoch eine größere Unruhe Macht über unseren Geist gewinnt, so bestimmt sie ihn auch sogleich zu einer neuen Tätigkeit und die gegenwärtige Lust wird hintangesetzt.

Theoph. Verschiedene Perzeptionen und Neigungen wirken zusammen, um einen vollkommenen Willensakt, der das Ergebnis ihres Widerstreites ist, hervorzubringen. Es gibt darunter solche, die für sich allein nicht wahrzunehmen sind, deren Anhäufung aber eine Unruhe erzeugt, die uns, ohne daß man den Grund davon sieht, vorwärts treibt; es gibt andere, die in ihrer Vereinigung den Willen auf einen bestimmten Gegenstand lenken oder ihn von diesem abwenden, und dies ist dann Verlangen oder Furcht, die gleichfalls von einer Unruhe begleitet sind, wobei diese jedoch nicht immer bis zu Lust oder Unlust geht. Endlich gibt es Antriebe, die tatsächlich von Lust und Schmerz begleitet sind, und alle diese Perzeptionen sind entweder neue sinnliche Empfindungen oder Phantasiebilder, die eine frühere sinnliche Empfindung zurückgelassen hat und die mit Wiedererinnerung verbunden sein können oder nicht. Indem durch diese Bilder die Reize der früheren Empfindungen sich erneuern, erneuern sich auch, je nach der Lebhaftigkeit der Einbildungskraft die alten Antriebe. Und aus allen diesen Antrieben ergibt sich endlich die obsiegende Kraftäußerung, die den vollen Willen ausmacht. Indessen werden auch die Akte des Verlangens und die Strebungen, die man in sich gewahr wird, oft Willensakte genannt, wenn auch nicht volle, mögen sie nun das Übergewicht erhalten und uns zum Handeln bringen oder nicht. Daraus läßt sich leicht schließen, daß der Willensakt ohne Verlangen und ohne Abkehr nicht bestehen kann, denn so, glaube ich, kann man das Gegenteil des Verlangens nennen. Die Unruhe verbindet sich nicht bloß mit jenen Leidenschaften, die uns beschwerlich fallen (wie Haß, Furcht, Zorn, Neid oder Scham), sondern auch mit den entgegengesetzten, wie mit der Liebe, der Hoffnung, der Zuneigung und dem Stolz. Man kann sagen, daß überall, wo Verlangen ist, auch Unruhe sei; aber das Umgekehrte gilt nicht immer, weil man oft in Unruhe ist, ohne zu wissen, was man will, und in diesem Falle noch kein ausgebildetes Verlangen besteht.

§ 40. Philal. Gewöhnlich bestimmt die stärkste Unruhe, von der man sich im gegebenen Augenblick befreien zu können glaubt, den Willen zur Handlung.

Theoph. Da die endgültige Entscheidung von dem Ausschlag der Wage abhängt, so kann es, glaube ich, geschehen, daß die stärkste Unruhe nicht das Übergewicht erhält, denn wenn sie auch jeder der entgegengesetzten Strebungen, wenn man diese einzeln nimmt, überlegen wäre, so können diese sie doch in ihrer Gesamtheit übertreffen. Der Geist kann sich sogar des Kunstgriffs der Dichotomien bedienen, um bald der einen Seite, bald der anderen die Vorherrschaft zu geben, wie man in einer Versammlung, je nach der Art und Ordnung der Fragen, irgendeiner Partei das Übergewicht durch die Stimmenmehrheit verschaffen kann. Allerdings muß der Geist hierfür schon im voraus seine Vorkehrungen treffen; denn im Augenblick des Kampfes ist es nicht mehr Zeit, derartige Kunstgriffe anzuwenden. Alles, was auf uns alsdann Eindruck macht, drückt auf die Wage und trägt, fast wie in der Mechanik, dazu bei, eine Resultante der Bewegung zu bestimmen, die sich ohne eine schleunige Abwehr nicht aufhalten läßt.

Fertur equis auriga nec audit currus habenas Vergil Georgica I, 514 (Sch.)..

§ 41. Philal. Fragt man außerdem, was denn das Verlangen errege, so antworten wir: das Glück und weiter nichts. Glück und Unglück sind Namen für zwei Gegensätze, deren letzte Grenzen uns unbekannt sind. Diese Grenzen sind das, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und das Herz des Menschen niemals begriffen hat. Aber wir erhalten (von einzelnen Graden des Glücks und Unglücks) in unserem Inneren lebhafte Eindrücke durch verschiedene Arten von Befriedigung und Freude, von Qual und Verdruß, die ich der Kürze wegen unter dem Namen der Lust und des Schmerzes zusammenfasse. Diese kommen dem Geiste ebensowohl als dem Körper zu: oder vielmehr sie gehören, genauer zu reden, nur dem Geiste an, wenngleich sie ihren Ursprung bald im Geiste, gelegentlich bestimmter Gedanken, bald im Körper, gelegentlich bestimmter Modifikationen der Bewegung nehmen.

§ 42. So ist das Glück, wenn man es in seinem ganzen Umfang nimmt, die größte Lust, deren wir fähig sind, und das Unglück, in demselben Sinne, der größte Schmerz, den wir fühlen können. Der unterste Grad dessen, was man Glück nennen kann, wäre ein Zustand, wo man, von jedem Schmerze frei, ein solches Maß gegenwärtiger Lust genießt, daß man mit einem geringeren nicht zufrieden sein könnte. Ein Gut nennen wir, was geeignet ist, in uns Lust hervorzubringen, ein Übel, was geeignet ist, in uns Schmerz hervorzubringen. Indessen wenden wir diese Bezeichnung oft nicht an, wenn ein solches Gut oder Übel sich mit einem größeren Gute oder größeren Übel in Wettstreit befindet.

Theoph. Ich weiß nicht, ob ein Maximum der Lust möglich ist, vielmehr möchte ich glauben, daß die Lust bis ins Unendliche wachsen kann, denn wir wissen nicht, wie weit unsere Erkenntnis und unsere Organisation innerhalb der Ewigkeit, die uns erwartet, gelangen können. Ich möchte also annehmen, daß das Glück eine dauerhafte Lust sei, was ohne ein beständiges Fortschreiten zu immer neuer Lust nicht stattfinden kann. So wird von zweien, von denen der eine unvergleichlich schneller und durch größere Lust als der andere fortschreitet, ein jeder in sich selbst glücklich sein, obwohl ihr Glück sehr ungleich ist. Das Glück ist also, sozusagen, ein Weg von Lust zu Lust, und die Lust ist nur ein Schritt und eine Annäherung zum Glück – und zwar der kürzeste Schritt, der sich nach Maßgabe der jedesmaligen Eindrücke machen läßt, aber, wie ich gegen das Ende des § 36 gesagt habe, nicht immer der beste. Man kann, indem man dem kürzesten Weg folgen will, den wahren Weg verfehlen: wie der Stein, wenn er sich in gerader Linie bewegt, nur zu bald auf Hindernisse stoßen kann, die ihn daran hemmen, sich dem Mittelpunkt zu nähern. Wir erkennen hieraus, daß die Vernunft und der Wille es sind, die uns zum Glücke hinleiten, während Empfindung und Begierde uns nur der Lust entgegenführen. Obgleich nun die Lust, so wenig wie das Licht oder die Farbe, eine Nominaldefinition zuläßt, so läßt sie doch wie sie eine genetische Definition zu; und ich glaube, daß die Lust im Grunde genommen ein Gefühl der Vollkommenheit und der Schmerz ein Gefühl der Unvollkommenheit ist, vorausgesetzt, daß beides so weit merklich ist, daß man es gewahr werden kann. Denn die kleinen unmerklichen Perzeptionen irgendeiner Vollkommenheit und Unvollkommenheit, die gleichsam die Elemente von Lust und Schmerz sind, und von denen ich schon so oft gesprochen habe, bilden die Triebe und Neigungen, aber noch nicht die Leidenschaften selbst. So gibt es unmerkliche Neigungen, die man nicht gewahr wird; es gibt merkliche, deren Dasein und deren Gegenstand man kennt, deren Bildung uns aber nicht zum Bewußtsein kommt, und dies sind die verworrenen Neigungen, die wir dem Körper zuschreiben, obgleich ihnen stets etwas Geistiges entspricht; endlich gibt es deutliche Neigungen, die aus der Vernunft stammen und deren Stärke und Bildung uns zum Bewußtsein kommt; und die Freuden dieser Art, die man in der Erkenntnis und in der Erzeugung von Ordnung und Harmonie findet, sind die schätzbarsten. Man hat recht, wenn man sagt, daß im allgemeinen alle diese Neigungen und Leidenschaften, diese Freuden und Schmerzen nur dem Geiste oder der Seele angehören; ich möchte sogar hinzufügen, daß, wenn man die Dinge in metaphysischer Strenge nimmt, ihr Ursprung in der Seele selbst liegt, daß man aber nichtsdestoweniger ein Recht hat, zu sagen, die verworrenen Gedanken kämen vom Körper her, weil man, um sie irgendwie deutlich und erklärbar zu machen, seine Betrachtung auf den Körper und nicht auf die Seele richten muß. Ein Gut ist das, was zur Lust dient oder beiträgt, wie ein Übel das, was zum Schmerz beiträgt. Doch kann das, was wir ein Gut nennen, im Kampf mit einem größeren Gut tatsächlich ein Übel werden, indem es uns nämlich dieses größeren Guts beraubte, und insofern zu dem Schmerze beitrüge, der hieraus entstehen müßte.

§ 47. Philal. Die Seele hat die Macht, die Befriedigung mancher Begierden aufzuschieben, und besitzt folglich die Freiheit, sie nacheinander zu betrachten und miteinander zu vergleichen. Darin besteht die Freiheit des Menschen und das was wir (freilich meines Erachtens nach sehr ungenau) freie Willkür nennen. Der schlechte Gebrauch, den wir von ihr machen, ist die Ursache aller der verschiedenen Verirrungen, Irrtümer und Fehler, in die wir verfallen, wenn wir unsere Willensentscheidung zu schnell oder zu langsam treffen.

Theoph. Die Befriedigung unserer Begierde wird aufgeschoben oder unterlassen, wenn diese Begierde nicht stark genug ist, um uns in Bewegung zu setzen und die Mühe oder Unbequemlichkeit bei ihrer Befriedigung zu überwinden: eine Mühe, die mitunter nur in einer unmerklichen Trägheit oder Schlaffheit besteht, die uns unvermerkt zurückhält und die sich besonders bei Menschen von weichlicher Erziehung oder phlegmatischem Temperament, wie auch bei solchen zeigt, die durch das Alter oder durch ihre Mißerfolge entmutigt sind. Aber auch wenn das Verlangen an sich stark genug ist, um uns, wenn ihm nichts in den Weg tritt, in Bewegung zu setzen, so kann es doch durch entgegengesetzte Neigungen aufgehalten werden, mögen sie nun in einem bloßen Hange bestehen, der gleichsam das Element oder der Anfang des Verlangens ist, oder mögen sie bis zum Verlangen selber gehen. Da sich indessen diese einander widerstreitenden Neigungen, Triebe und Begierden schon in der Seele vorfinden müssen, so hat sie sie nicht in ihrer Macht und könnte ihnen daher nicht auf freie und spontane Weise, unter der Mithilfe der Vernunft, Widerstand leisten, wenn sie nicht noch ein anderes Mittel besäße: nämlich dem Geist eine andere Richtung zu geben. Wie soll man es aber anfangen, dies gerade dann, wenn es nötig ist, zu tun? denn dies ist gerade der entscheidende Punkt, vor allem, wenn man von einer starken Leidenschaft erfüllt ist. Der Geist muß also im voraus gerüstet sein und schon eine gewisse Fertigkeit darin erlangt haben, von einem Gedanken zu einem anderen fortzuschreiten, damit er sich nicht bei einem gefährlichen und schlüpfrigen Schritt allzu lange aufhält. Daher ist es gut, sich im allgemeinen daran zu gewöhnen, an gewisse Dinge gleichsam nur im Vorübergehen zu denken, um sich seine geistige Freiheit besser zu bewahren. Das Beste aber ist, methodisch vorzugehen und sich in einen Gedankengang einzuleben, der einen vernunftgemäßen Zusammenhang besitzt, nicht bloß einen solchen, den der Zufall (d. h. die unmerklichen und zufälligen Eindrücke) gestiftet haben. Darum ist es gut, sich daran zu gewöhnen, sich von Zeit zu Zeit zu sammeln, sich über den gegenwärtigen Tumult der Eindrücke zu erheben, sich gleichsam von der Stelle, wo man sich gerade befindet, zu entfernen und sich zu sagen: Dic cur hic? respice finem! wie steht es denn eigentlich? kommen wir zur Sache, schreiten wir zur Tat! Die Menschen hätten oft jemand nötig, der das Amt hätte, sie zu unterbrechen und zu ihrer Pflicht zurückzurufen, wie Philipp, der Vater Alexanders des Großen, einen solchen Ratgeber besaß. Wer ihn aber nicht besitzt, der muß sich die Fähigkeit aneignen, dieses Amt für sich selber zu versehen. Denn sind wir einmal imstande, die Wirkung unserer Begierden und Leidenschaften aufzuhalten, d. h. die Handlung aufzuschieben, so können wir auch Mittel finden, diese Leidenschaften, sei es durch entgegengesetzte Begierden und Neigungen, sei es durch Abwendung von ihnen, d. h. durch Beschäftigungen anderer Art, zu bekämpfen. Kraft dieser Methoden und Kunstgriffe werden wir gleichsam Herren unserer selbst und können uns mit der Zeit dazu bringen, so zu denken und zu handeln, wie wir es wünschen und wie die Vernunft es uns gebietet. Indessen geschieht auch dies immer auf ganz bestimmte Weise und niemals ohne Grund oder etwa kraft des phantastischen Prinzips einer vollkommenen Indifferenz oder eines völligen Gleichgewichts, das manche als das Wesen der Freiheit ansehen, als könnte man sich ohne Grund, ja gegen jeden Grund bestimmen und geradezu gegen alles Übergewicht der Eindrücke und Neigungen angehen. Ohne Grund, sage ich, d. h. ohne andere entgegenwirkende Neigungen, oder ohne daß man zuvor die Fähigkeit erworben hätte, den Geist abzulenken oder ohne irgendein anderes verständliches Mittel solcher Art. Sonst müßte man seine Zuflucht wieder in Chimären suchen, wie es die bloßen Vermögen oder die verborgenen Eigenschaften der Scholastiker sind, die weder Sinn noch Verstand haben.

§ 48. Philal. Auch ich bin der Ansicht, daß der Wille durch die Inhalte der Perzeption und des Verstandes in einer begrifflich faßbaren Weise bestimmt werde. Daß wir gemäß dem letzten Ergebnis einer ernstlichen Prüfung wollen und handeln, ist eher eine Vollkommenheit als ein Mangel unserer Natur. Unsere Freiheit wird hierdurch so wenig vernichtet oder verkürzt, daß sie gerade hierin vielmehr am vollkommensten und vorteilhaftesten erscheint. Und je mehr wir uns von dieser Art, uns zu bestimmen, entfernen, desto näher sind wir dem Unglück und der Knechtschaft. Schreibt man dem Geist eine vollständige und absolute Indifferenz zu, die durch das letzte Urteil, das er über Gut und Böse fällt, nicht bestimmt werden kann, so versetzt man ihn in einen sehr unvollkommenen Zustand.

Theoph. Alles das ist ganz nach meinem Sinne und zeigt, daß der Geist nicht völlig und nicht unmittelbar die Macht besitzt, seinen Begierden Halt zu gebieten, denn sonst würde er, so sorgfältig er auch alles prüfen würde und so gute Gründe oder wirksame Empfindungen er auch besitzen möchte, dennoch niemals bestimmt sein, sondern stets unentschlossen bleiben und ewig zwischen Furcht und Hoffnung schwanken. Es muß also etwas geben, was ihn schließlich bestimmt, und daher kann er sich seinen Begierden nur indirekt widersetzen, indem er sich im voraus die Waffen bereitet, durch die er sie, wie ich eben erklärt habe, wenn es nottut, bekämpfen kann.

Philal. Immerhin besitzt doch ein Mensch die Freiheit, seine Hand auf den Kopf zu legen oder sie in Ruhe zu lassen. Er ist hinsichtlich dieser beiden Handlungen vollständig gleichgültig, und es wäre eine Unvollkommenheit in ihm, wenn dieses Vermögen ihm fehlte.

Theoph. Genau zu sprechen, ist man in bezug auf zwei Entscheidungen, die man zu treffen hat, niemals völlig gleichgültig: z. B. wenn es sich darum handelt, sich nach rechts oder links zu wenden, oder, wie bei Trimalchion, den rechten oder linken Fuß vorzustrecken In der »cena Trimalchionis«, einem satirischen Roman des Petronius.. Denn wir tun das eine oder das andere ohne daran zu denken, und dies ist ein Zeichen dafür, daß ein Zusammenwirken innerer Anlagen und äußerer Eindrücke, wenngleich beides unmerklich ist, uns zu der Entscheidung, die wir fällen, bestimmt. Doch ist das Übergewicht nur gering, so daß es sich praktisch so verhält, als ob wir in dieser Hinsicht gleichgültig wären, denn der geringste sinnliche Reiz, der sich uns darbietet, ist imstande, uns ohne Schwierigkeit zu dem einen statt zum anderen zu bestimmen; denn mag es auch eine kleine Mühe sein, den Arm zu erheben, um die Hand auf den Kopf zu legen, so ist sie doch so gering, daß wir sie ohne Schwierigkeit überwinden; sonst gestehe ich, würde es eine große Unvollkommenheit sein, wenn der Mensch hierin weniger gleichgültig wäre und ihm das Vermögen fehlte, sich mit Leichtigkeit dazu zu bestimmen, den Arm zu heben oder nicht zu heben.

Philal. Eine nicht minder große Unvollkommenheit aber wäre es, wenn er dieselbe Gleichgültigkeit in allen Fällen besäße, wie z. B. wenn er Kopf oder Augen vor einem Schlage schützen wollte, von dem er sich bedroht sähe, d. h. wenn er auch in diesem Falle die Bewegung ebenso leicht unterließe, wie jene anderen, von denen wir gesprochen haben, und denen gegenüber er sich fast gleichgültig verhält: denn dies hätte zur Folge, daß er sich im Notfalle nicht schnell und kräftig genug zu ihr entschließen würde. Also ist die Bestimmtheit uns nützlich und sehr oft notwendig, und wären wir bei den verschiedenartigsten Anlässen nur wenig bestimmt und gegen die Gründe, die aus dem Gedanken des Guten oder Bösen stammen, gleichsam unempfindlich, so könnten wir keine tatsächliche Entscheidung treffen. Würden wir aber durch etwas anderes bestimmt werden, als durch das letzte Ergebnis; das wir, gemäß unserem Urteil über Gut und Böse einer Handlung, in unserem eigenen Geiste festgestellt haben: so würden wir nicht frei sein.

Theoph. Das ist vollständig wahr, und wer eine andere Freiheit sucht, weiß nicht, was er will.

§ 49. Philal. Die höheren Wesen, die eine vollkommene Glückseligkeit genießen, werden stärker als wir zur Wahl des Guten bestimmt, und wir haben gleichwohl keinen Grund, uns vorzustellen, daß sie weniger frei seien als wir.

Theoph. Deswegen sagen die Theologen, daß diese seligen Wesen im Guten befestigt und von jeder Gefahr des Falles frei sind.

Philal. Wenn es armen endlichen Geschöpfen, wie wir es sind, geziemte, ein Urteil darüber zu fällen, was eine unendliche Weisheit und Güte tun könnte, so glaube ich sogar, daß wir sagen könnten, daß Gott selbst nichts anderes als das Gute wählen kann und daß somit die Freiheit dieses allmächtigen Wesens nicht hindert, daß es durch das Beste bestimmt wird.

Theoph. Ich bin von dieser Wahrheit dergestalt überzeugt, daß ich glaube, wir können sie ohne Scheu als gesichert behaupten, so armselige und beschränkte Kreaturen wir immer sein mögen, ja wir würden sogar sehr unrecht tun, an ihr zu zweifeln, denn eben dadurch würden wir seiner Weisheit, seiner Güte und seinen anderen unendlichen Vollkommenheiten Abbruch tun. Indessen darf diese Wahl, so sehr der Wille hier auch bestimmt ist, doch nicht im absoluten Sinne und der Strenge nach notwendig genannt werden, denn das Übergewicht des Guten neigt, sofern es bemerkt wird, den Willen nach einer bestimmten Seite, ohne ihn doch zu nötigen, wenngleich, alles in Betracht gezogen, diese Hinneigung bestimmend ist und niemals ihre Wirkung verfehlt.

§ 50. Philal. Durch die Vernunft zum Besten bestimmt werden, heißt am freisten sein. Wer würde deswegen geistesschwach sein wollen, weil ein Geistesschwacher durch weise Überlegungen weniger bestimmt wird als ein Mensch von gesundem Geiste? Wenn die Freiheit darin besteht, das Joch der Vernunft abzuschütteln, so sind die Narren und Blödsinnigen allein frei; aber ich glaube nicht, daß jemand aus Liebe zu einer solchen Freiheit ein Narr werden möchte, den ausgenommen, welcher es schon ist.

Theoph. Es gibt heutzutage Leute, welche es für geistreich halten, gegen die Vernunft zu predigen und sie als eine unbequeme Pedantin zu behandeln. Ich sehe kleine Broschüren, die von allen möglichen Nichtigkeiten handeln und die sich damit groß tun, ja ich sehe bisweilen Verse, die zu schön sind, um zu so falschen Gedanken gebraucht zu werden. Wenn diejenigen, die die Vernunft verspotten, im Ernste redeten, so wäre das in der Tat eine neue, den vergangenen Jahrhunderten unbekannte Verirrung. Gegen die Vernunft sprechen, heißt gegen die Wahrheit sprechen, denn die Vernunft ist eine Verkettung von Wahrheiten. Es heißt gegen sich selbst und gegen sein eigenes Wohl sprechen, da der Hauptzweck der Vernunft darin besteht, dies zu erkennen und ihm nachzuleben.

§ 51. Philal. Wie also die höchste Vollkommenheit eines vernünftigen Wesens darin besteht, sich sorgfältig und beständig der Verfolgung seines wahren Glückes zu widmen, so ist die Sorgfalt, die wir anwenden müssen, um nicht eine eingebildete Glückseligkeit für eine wirkliche zu nehmen, der Grund unserer Freiheit. Je mehr wir unseren Willen auf die unwandelbare Verfolgung des Glückes im allgemeinen richten, das den beständigen Gegenstand aller unserer Begierden ausmacht, desto mehr wird er von der Notwendigkeit entbunden, sich durch eine einzelne Begierde, die auf ein besonderes Gut geht, bestimmen zu lassen, bevor wir untersucht haben, ob es sich auf unser wahres Glück bezieht oder ihm zuwiderläuft.

Theoph. Das wahre Glück sollte immer der Gegenstand unseres Verlangens sein, aber man muß zweifeln, ob dies wirklich der Fall ist: denn oft denkt man nicht daran, und ich habe schon mehr als einmal bemerkt, daß der Trieb – sofern er nicht durch die Vernunft gelenkt wird, – auf die gegenwärtige Lust, nicht aber auf das Glück, d. h. auf die dauernde Lust geht, mag er auch danach streben, sie dauerhaft zu machen. (Siehe §§ 36 und 41.)

§ 53. Philal. Wenn irgendeine außerordentliche Störung, wie z. B. der Schmerz einer grausamen Tortur, sich unserer Seele ganz bemächtigt, so besitzen wir über unseren Geist keine genügende Gewalt mehr. Um indessen unsere Leidenschaften so viel als möglich zu mäßigen, müssen wir unseren Geist daran gewöhnen, daß er den Geschmack für das wirkliche Gute und Böse in sich ausbildet und nicht zugeben, daß ein vortreffliches und bedeutendes Gut unserem Geiste entgehe, ohne daß es in ihm einen gewissen Geschmack zurückgelassen, und eine Begierde in uns erweckt hat, die seiner Vortrefflichkeit gemäß ist, derart, daß die Abwesenheit dieses Gutes, oder die Furcht, es zu verlieren, wenn wir es genießen, uns in Unruhe versetzt.

Theoph. Dies kommt ganz mit den Bemerkungen überein, welche ich bei den §§ 31-35 gemacht habe, und mit dem, was ich mehr als einmal über die Lust, die mit Erkenntnis verbunden ist, gesagt habe. Man erkennt hieraus, wie diese Lust vervollkommnet, ohne uns, wie die verworrenen Lustgefühle der Sinne, der Gefahr einer größeren Unvollkommenheit auszusetzen. Vor diesen letzteren muß man sich hüten, besonders wenn man nicht aus Erfahrung weiß, daß man sich ihnen ohne Gefahr überlassen kann.

Philal. Niemand sage hier, daß er seine Leidenschaften nicht beherrschen, noch verhindern könne, daß sie losbrechen und ihn zum Handeln zwingen; denn was er in Gegenwart eines Fürsten oder irgendeines Großen tun kann, das kann er auch, wenn er will, falls er allein oder in Gottes Gegenwart ist.

Theoph. Diese Bemerkung ist sehr gut und verdient, daß man oft darüber nachdenke.

§ 54. Philal. Indessen beweist die verschiedene Wahl, die von Menschen in dieser Welt getroffen wird, daß ein und dasselbe Ding nicht für jeden von ihnen gleich gut ist. Wenn die Interessen der Menschen sich nicht über dies Leben hinaus erstreckten, so würde die Ursache dieser Verschiedenheit – vermöge deren sich die einen z. B. dem Luxus und der Schwelgerei hingeben, während die anderen die Mäßigkeit der Wollust vorziehen – einzig darin liegen, daß sie ihr Glück in verschiedene Dinge setzen.

Theoph. Auch jetzt liegt hierin die eigentliche Ursache, wenngleich alle das zukünftige Leben als gemeinsamen Gegenstand, vor Augen haben oder haben sollten. Allerdings würde die Betrachtung des wahren Glückes, selbst dieses Lebens, für sich allein hinreichen, um die Tugend den Lüsten, die uns von ihr entfernen, vorzuziehen; doch wäre in diesem Falle die Verpflichtung nicht so stark und entscheidend. Auch ist es richtig, daß der Geschmack der Menschen verschieden ist, und man sagt, über den Geschmack dürfe man nicht streiten. Aber da es sich hierbei nur um verworrene Perzeptionen handelt, so darf man sich ihnen nur bei solchen Dingen hingeben, die man, als sittlich gleichgültig und unschädlich erprobt hat: denn wenn jemand an Giften Geschmack fände, die ihn töten oder zugrunde richten müssen, so wäre es lächerlich zu sagen, man dürfe ihm das Recht seines Geschmacks nicht bestreiten.

§ 55. Philal. Wenn es jenseits des Grabes nichts zu hoffen gibt, so ist ohne Zweifel der Schluß sehr richtig: Lasset uns essen und trinken, laßt uns alles genießen, was uns Freude macht, denn morgen sind wir tot.

Theoph. Meiner Meinung nach läßt sich über diesen Schluß noch manches sagen. Aristoteles und die Stoiker und mehrere andere alte Philosophen waren anderer Ansicht, und ich glaube in der Tat, daß sie recht hatten. Wenn es auch nichts jenseits dieses Lebens gäbe, so würde dennoch die Ruhe der Seele und die Gesundheit des Körpers darum nichtsdestoweniger den Lüsten, die ihnen entgegenwirken, vorzuziehen sein. Daß ein Gut nicht immer dauern wird, ist kein Grund, es gering zu achten. Ich gestehe aber, daß es Fälle gibt, in denen sich nicht beweisen läßt, daß das Ehrenvollste zugleich auch das Nützlichste ist. Also ist es allein die Rücksicht auf Gott und die Unsterblichkeit, die die Verpflichtungen zur Tugend und zur Gerechtigkeit absolut unaufheblich macht Näheres hierüber in der Einleitung zum »Codex juris gentium diplomaticus«, § XIII, Dutens IV, P. 3, S. 296 f..

§ 58. Philal. Mir scheint, daß das gegenwärtige Urteil über Gut und Schlimm, das wir im einzelnen Falle fällen, stets das richtige ist. Was das gegenwärtige Glück oder das gegenwärtige Unglück betrifft, wenn also die Reflexion nicht weitergeht und alle Folgen gänzlich beiseite gesetzt werden, so wählt der Mensch niemals falsch.

Theoph. Das heißt, wenn alles sich auf diesen einen gegenwärtigen Augenblick beschränkte, so gäbe es keinen Grund, die Lust, die sich darbietet, zurückzuweisen. In der Tat habe ich schon bemerkt, daß jede Lust ein Gefühl der Vollkommenheit ist. Aber es gibt gewisse Vollkommenheiten, die größere Unvollkommenheiten nach sich ziehen. Wenn sich jemand z. B. sein ganzes Leben damit beschäftigte, Erbsen gegen Nadeln zu werfen, um zu lernen, ihre Öhre nicht zu verfehlen, wie der Mann, dem Alexander der Große zur Belohnung einen ganzen Scheffel Erbsen geben ließ, so würde dieser Mensch zwar zu einer gewissen Vollkommenheit gelangen, die aber von sehr geringer Bedeutung wäre und nicht verdiente, mit so vielen anderen sehr nötigen Vollkommenheiten, die er darüber vernachlässigt hatte, in Vergleich gestellt zu werden. So muß denn die Vollkommenheit, die sich in gewissen momentanen Lustgefühlen findet, vor allem der Fürsorge für jene Vollkommenheiten weichen, die unentbehrlich sind, wenn man nicht ins Unglück geraten soll: d. h. in jenen Zustand, wo man von einer Unvollkommenheit in eine andere, von einem Schmerz in einen anderen verfällt. Gäbe es dagegen nur die Gegenwart, so müßte man sich mit der Vollkommenheit genügen lassen, die sich in ihr gerade darbietet, d. h. mit der gegenwärtigen Lust.

§ 62. Philal. Niemand würde sich selbst freiwillig ins Unglück stürzen, wenn er nicht durch falsche Urteile dazu gebracht würde. Ich rede hier nicht von den Täuschungen, welche die Folgen eines unausweichlichen Irrtums sind und kaum den Namen falscher Urteile verdienen, sondern von jenen Urteilen, die wir nach dem Geständnis, das wir uns im eigenen Innern machen müssen, als falsch bezeichnen. – § 63. Zuerst also irrt die Seele, wenn wir die gegenwärtige Lust oder Unlust mit einer zukünftigen Lust oder Unlust vergleichen, denn wir schätzen beide je nach dem verschiedenen Abstand, in dem sie sich von uns befinden: einem verschwenderischen Erben ähnlich, der um eines augenblicklichen geringen Besitzes willen einer großen Erbschaft, die ihm nicht entgehen könnte, entsagen würde. Jeder muß die Falschheit dieses Urteils anerkennen, denn die Zukunft wird zur Gegenwart werden und alsdann denselben Vorteil der nächsten Nähe haben. Wenn in dem Augenblick, in dem der Mensch das Glas zur Hand nimmt, die Lust des Trinkens mit den Kopf- und Magenschmerzen begleitet wäre, die sich in wenigen Stunden einstellen werden, so würde er den Wein nicht an die Lippen führen. Wenn ein so kleiner Zeitunterschied eine solche Täuschung hervorbringen kann, so wird ein größerer Abstand eine um so stärkere Wirkung üben.

Theoph. Die Entfernung des Ortes und der Zeit wirken hier in mancher Hinsicht übereinstimmend: mit dem Unterschiede jedoch, daß die sichtbaren Dinge ihre Wirksamkeit auf das Auge ungefähr nach dem Verhältnis ihrer Entfernung verringern, während dies von den zukünftigen Gegenständen, welche auf die Phantasie und den Geist wirken, nicht in gleicher Weise gilt. Die Lichtstrahlen sind gerade Linien, die sich nach einem gleichmäßigen Verhältnis entfernen, aber es gibt auch krumme Linien, die in einer gewissen Entfernung mit der Geraden zusammenzufallen scheinen und sich nicht mehr sichtbar von ihr unterscheiden, wie die Asymptoten, deren Unterschied von der geraden Linie dem Anscheine nach verschwindet, obgleich sie in Wirklichkeit von ihr für immer getrennt bleiben. Ja es zeigt sich, daß die Dinge sich schließlich nicht im Verhältnis zu ihrer wachsenden Entfernung verkleinern, denn ihre Erscheinung verschwindet bald gänzlich, wenn auch die Entfernung keine unendliche ist. Ebenso vermag eine kleine zeitliche Entfernung die Zukunft gänzlich unserem Blicke zu entziehen, ganz wie wenn der Gegenstand verschwunden wäre. Oft bleibt von ihm im Geiste nur das Wort zurück und jene Art tauber und unwirksamer Gedanken, von denen ich bereits gesprochen habe, wenn man nicht durch Methode und Übung die richtige Vorsorge getroffen hat.

Philal. Ich spreche hier nicht von jener Art falschen Urteils, vermöge dessen das Abwesende im menschlichen Geiste nicht nur verringert, sondern gänzlich vernichtet wird, indem man alles genießt, was man im gegenwärtigen Moment erreichen kann, und meint, daß sich kein Übel hieraus ergeben werde.

Theoph. Wenn die Erwartung des künftigen Guten oder Bösen vernichtet wird, weil man den Schluß, den man hierauf aus den gegenwärtigen Umständen ziehen kann, leugnet oder in Zweifel zieht, so liegt hierin ein falsches Urteil von anderer Art; im übrigen ist jedoch der Irrtum, durch den das Gefühl für die Zukunft in uns vernichtet wird, mit dem bereits erwähnten falschen Urteil einerlei, das in einer zu schwachen Vorstellung der Zukunft, die man nur wenig oder gar nicht beachtet, seinen Grund hat. Man könnte übrigens hier vielleicht zwischen schlechtem Geschmack und falschem Urteil unterscheiden, denn oft zieht man nicht einmal in Frage, ob das zukünftige Gut vorgezogen werden müsse, und handelt nur nach dem Eindruck, ohne sich auf eine Prüfung einzulassen. Denkt man aber daran, so setzt man entweder die Erwägung nicht lange genug fort, und geht über die Frage, die man aufgeworfen hat, kurz hinweg, ohne sie weiterzuführen, oder aber man treibt die Prüfung weiter und zieht endlich einen bestimmten Schluß. In beiden Fällen bereuen wir nachher bisweilen, in stärkerem oder schwächerem Maße, was wir getan haben; – während sich mitunter freilich auch keinerlei formido oppositi oder keinerlei Bedenklichkeit einstellt, weil der Geist sich entweder von dem Gegenstand völlig abwendet oder durch Vorurteile irregeleitet ist.

§ 64. Philal. Die beschränkte Fassungskraft unseres Geistes ist die Ursache der falschen Urteile, die wir bei der Vergleichung der Güter und Übel fällen. Wir können nicht gut zweierlei Lust zugleich genießen, und noch weniger können wir zu einer Zeit, wo wir vom Schmerz überwältigt sind, irgendeine Lust genießen. Ein Tropfen Bitterkeit, der dem Becher beigemischt ist, hindert uns, seine Süßigkeit zu schmecken. Das Übel, das man gerade fühlt, ist immer das ärgste; man ruft: Lieber jeden anderen Schmerz als diesen!

Theoph. In alledem besteht, je nach dem Temperament des Menschen, je nach der Stärke dessen, was man empfindet und je nach den Gewohnheiten, die man angenommen hat, ein großer Unterschied. Ein Mensch, der die Gicht hat, kann nichtsdestoweniger, weil ihm ein großes Vermögen zufällt, Freude empfinden, und ein Mensch, der in allen Vergnügungen schwimmt und behaglich auf seinen Gütern leben könnte, kann wegen einer Ungnade bei Hofe in Trauer versinken. Denn Freude und Traurigkeit entstehen aus der Resultante oder dem Übergewicht der Lust oder des Schmerzes, wenn beides miteinander gemischt auftritt. Leander achtete die Beschwerlichkeit und die Gefahr einer nächtlichen Schwimmfahrt durch das Meer gering, da die Reize der schönen Hero ihn anfeuerten. Es gibt Leute, die wegen irgendeiner Krankheit oder eines Gebrechens weder essen noch trinken, noch andere Begierden befriedigen können, ohne dabei starke Schmerzen zu empfinden und die dennoch diese Triebe selbst über die Grenzen des Notwendigen und Richtigen hinaus befriedigen. Andere wieder sind so weichlich oder so verzärtelt, daß sie die Vergnügungen, mit denen irgendein Schmerz, ein Unbehagen oder eine Beschwerlichkeit verbunden ist, von sich stoßen. Es gibt Menschen, die sich über die augenblicklichen mittelmäßigen Schmerz- und Lustgefühle ganz hinwegsetzen und fast nur aus Furcht oder Hoffnung handeln; andere dagegen sind so verweichlicht, daß sie sich über das kleinste Ungemach beklagen oder fast wie die Kinder der kleinsten sinnlichen Lust des Augenblicks nacheilen. Solchen Menschen erscheint der momentane Schmerz oder die momentane Lust immer als größte; sie sind wie unbedachtsame Prediger oder Lobredner, bei denen das Sprichwort gilt: Der Heilige, den sie loben, ist immer der größte Heilige des Paradieses. So groß indessen die Mannigfaltigkeit unter den Menschen ist, so handeln sie doch alle nur ihren gegenwärtigen Perzeptionen gemäß, und, wenn die Zukunft auf sie einen Eindruck macht, so geschieht dies entweder durch das Bild, das sie sich im Geist von ihr entwerfen, oder kraft des Entschlusses, den sie gefaßt und der Gewohnheit, die sie angenommen haben, ihr gemäß zu handeln: selbst auf ein bloßes Wort oder anderes willkürliches Zeichen hin, und ohne ein Bild oder ein natürliches Zeichen von ihr zu besitzen. Denn einem einmal gefaßten Entschluß, und vor allem einer Gewohnheit, können sie nicht zuwider handeln, ohne hierbei Unruhe und eine Art Verdruß zu empfinden.

§ 65. Philal. Die Menschen sind sehr geneigt, die zukünftige Lust in ihren Gedanken zu vermindern und zu glauben, daß sie, wenn man es auf die Probe ankommen ließe, der Hoffnung, die man auf sie setzt und der Meinung, die man allgemein von ihr hat, vielleicht nicht entsprechen würde. Denn sie haben durch eigene Erfahrung oft gefunden, daß nicht nur die Lust, die andere übermäßig gepriesen haben, sehr wenig nach ihrem Geschmack war, sondern daß auch manches, was ihnen selbst zu einer Zeit viel Lust verursacht hat, sie zu einer anderen abgestoßen und ihnen mißfallen hat.

Theoph. So pflegen die Lüstlinge zu urteilen, während die Ehrgeizigen und Habsüchtigen in bezug auf Ehren und Reichtümer gewöhnlich ganz anders denken, obgleich sie von diesen Gütern, wenn sie sie besitzen, nur einen mäßigen und oft sogar sehr geringen Gebrauch machen, da sie stets darauf bedacht sind, weiter zu eilen. Wie mir scheint, ist es eine schöne Erfindung der schöpferischen Natur, daß sie dem Menschen so viel Empfindung für etwas gegeben hat, was auf die Sinne so wenig Eindruck macht; und besäßen die Menschen nicht die Fähigkeit zum Ehrgeiz oder zur Habsucht, so würde es, wie die menschliche Natur nun einmal gegenwärtig beschaffen ist, schwer halten, daß sie genug Tugend und Vernunft erlangten, um an ihrer Vollkommenheit zu arbeiten, obwohl die Lüste des Augenblicks sie von ihr abwendig machen.

§ 66. Philal. Was diejenigen Dinge betrifft, die in ihren Folgen und durch ihre Fähigkeit, uns Gutes oder Böses zu verschaffen, gut oder böse sind, so urteilen wir über sie auf verschiedene Weise: denn entweder glauben wir nicht, daß das Übel, das aus ihnen entspringen kann, wirklich so groß sei, als es tatsächlich der Fall ist, oder wir halten zwar die Folge an und für sich für wichtig, sehen es aber nicht als sicher an, daß es nicht auch anders kommen könne, oder daß nicht wenigstens die Folge sich durch irgendwelche Mittel – sei es durch Fleiß, durch Geschicklichkeit, durch eine Änderung des Verhaltens oder durch Reue – abwenden lassen werde.

Theoph. Versteht man unter der Wichtigkeit der Folge das, was aus der Handlung erfolgt, das heißt die Größe des Gutes oder Übels, das sie im Gefolge haben kann, so verfällt man damit, wie mir scheint, in die zuvor erwähnte Art des falschen Urteils: daß man sich nämlich das zukünftige Gut oder Übel nicht richtig vorstellt. So bleibt für jetzt nur die zweite Art des falschen Urteils übrig, daß nämlich das Eintreten der Folge in Zweifel gezogen wird.

Philal. Es würde leicht sein, im einzelnen zu zeigen, daß alle die Ausflüchte, von denen eben die Rede war, vernunftwidrige Urteile sind, jedoch begnüge ich mich im allgemeinen, zu bemerken, daß es geradezu gegen die Vernunft handeln heißt, wenn man ein größeres Gut gegen ein kleineres aufs Spiel setzt (oder sich dem Unglück aussetzt, um ein kleineres Gut zu erwerben und ein kleines Übel zu vermeiden), und zwar auf unsichere Vermutungen hin, und ehe man eine gehörige Prüfung angestellt hat.

Theoph. Da es zwei heterogene (miteinander unvergleichliche) Betrachtungsweisen sind, die Größe [der Gewißheit] der Folge und die Größe [der Bedeutung] dessen, was erfolgt, abzuschätzen Die in Klammern eingeschlossenen Worte sind des besseren Verständnisses wegen aus dem englischen Original von Lockes Essay hinzugefügt., so sind die Moralisten, indem sie versuchten, beides zu vergleichen, oft in Verwirrung geraten, wie dies bei denen zutage tritt, die von der Probabilität gehandelt haben. Die Wahrheit ist, daß hierbei – wie auch in anderen Schätzungen, in denen es sich um disparate und heterogene Elemente handelt, die sozusagen nicht derselben Dimension angehören – die Größe dessen, worum es sich handelt, im zusammengesetzten Verhältnis zu beiden Schätzungen steht und einem Rechteck gleicht, das man sowohl seiner Länge wie seiner Breite nach betrachten kann. Was nun die Größe [der Gewißheit] der Folge und die Grade der Probabilität betrifft, so fehlt uns noch jener Teil der Logik, der ihre Schätzung lehren soll. So haben denn die meisten Kasuisten, welche über die Probabilität geschrieben haben, nicht einmal deren Wesen begriffen, indem sie sie mit Aristoteles auf die Autorität gründeten, statt sie, wie es richtig gewesen wäre, auf die Wahrscheinlichkeit zu gründen: denn die Autorität bildet nur einen Teil der Gründe, die die Wahrscheinlichkeit ausmachen.

§ 67. Philal. Hier einige der gewöhnlichen Ursachen dieses falschen Urteils. Die erste ist die Unwissenheit, die zweite die Unachtsamkeit, wenn ein Mensch es unterläßt, selbst auf das zu merken, was er weiß. Es ist dies eine verstellte augenblickliche Unwissenheit, die das Urteil ebensosehr wie den Willen irreleitet.

Theoph. Es ist stets eine augenblickliche, aber nicht immer eine bloß verstellte Unwissenheit: denn man denkt nicht immer zur rechten Zeit an das, was man weiß und das man sich ins Gedächtnis zurückrufen sollte, wenn man völlig darüber Herr wäre. Die verstellte Unwissenheit ist, in der Zeit, in der man sie vorgibt, immer mit einer gewissen Achtsamkeit verbunden, während später bei ihr allerdings Unachtsamkeit einzutreten pflegt. Die Kunst, sich dessen, was man weiß, sobald man es braucht, zu bedienen, wäre eine der wichtigsten, wenn sie erfunden wäre, aber ich sehe noch nicht, daß man bis jetzt auch nur daran gedacht habe, ihre Elemente festzustellen; denn die Gedächtniskunst, über welche so viel Autoren geschrieben haben, ist etwas ganz anderes.

Philal. Wenn man also in Verworrenheit und Hast nur auf einer Seite die Posten summiert, und verschiedene Summen, die in die Rechnung eingehen müssen, aus Nachlässigkeit außer acht läßt, so bringt solch eine Übereilung nicht weniger falsche Urteile, als eine völlige Unwissenheit, hervor.

Theoph. Wenn es sich um das Abwägen der Gründe handelt, so ist in der Tat, wenn man richtig hierbei verfahren will, viel erforderlich und es geht damit beinahe so, wie mit den Rechnungsbüchern der Kaufleute. Denn da darf man keine Summe auslassen, man muß jede Summe für sich richtig berechnen, die Posten richtig ordnen und sie endlich genau zusammenziehen. Aber man pflegt dabei mehrere wichtige Punkte zu versäumen: sei es, daß man überhaupt an sie nicht denkt, sei es, daß man über sie leicht hinweggeht, – oder man gibt nicht jedem Posten seinen wahren Wert, gleich jenem Buchhalter, der die Kolumnen jeder Seite mit Sorgfalt berechnete, der aber die einzelnen Summen jeder Linie, ehe er sie in die Kolumne setzte, sehr falsch berechnete, um damit die Revisoren zu täuschen, die besonders auf das, was in den Kolumnen steht, zu achten pflegen. Schließlich kann man sich, auch wenn man auf alles andere gut acht gehabt hat, noch beim Zusammenziehen der Summen der Kolumnen, ja sogar in der Schlußrechnung, in der die Summe aller Summen erscheint, irren. So müßten wir also, um die Kunst der Berechnung der Folgen richtig anzuwenden, noch die Kunst der Besinnung und die der Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten, und ferner die Erkenntnis des Wertes der Güter und Übel besitzen; und nach dem allem hätten wir auch noch Aufmerksamkeit und Geduld nötig, um bis zum Abschluß zu gelangen. Kurz, es bedarf eines festen und unveränderlichen Entschlusses, um das, was man sich einmal vorgesetzt, auszuführen, und Kunstgriffe, Methoden, besonderer Gesetze und durchgebildeter Fertigkeiten, um ihn auch in der Folge aufrechtzuerhalten, wenn die Erwägungen, um derentwillen er gefaßt wurde, dem Geiste nicht mehr gegenwärtig sind. In dem wichtigsten Punkt freilich, der summam rerum, nämlich Glück und Unglück betrifft, hat man, Gott sei Dank, nicht so viel Kenntnisse, Hilfen und Kunstgriffe nötig, wie man wohl haben müßte, um in einem Staats- oder Kriegsrat, in einem Gerichtshof, bei einer ärztlichen Konsultation, in einer theologischen oder historischen Kontroverse oder bei einem mathematischen und mechanischen Problem richtig zu urteilen; dafür braucht man aber in dem, was jenen Hauptpunkt, Glück und Tugend betrifft, mehr Festigkeit und Fertigkeit, um immer gute Entschlüsse zu fassen und ihnen zu folgen. Zum wahren Glück genügt, mit einem Worte, ein geringeres Maß von Erkenntnis mit mehr gutem Willen, so daß der größte Idiot ebenso leicht dazu gelangen kann als der Gelehrteste und Gescheiteste.

Philal. Man sieht also, daß der Verstand ohne Freiheit von keinem Nutzen sein und die Freiheit ohne Verstand nichts bedeuten würde. Wenn ein Mensch zu erkennen vermöchte, was ihm wohltun oder schaden kann, ohne imstande zu sein, einen Schritt zu tun, um sich dem einen zu nähern oder sich von dem anderen zu entfernen, würde er dann um der Gabe dieses Blickes willen besser daran sein? Er würde sogar unglücklicher sein, denn er würde unnützerweise nach dem Guten schmachten und das Übel, das er als unvermeidlich erkennen würde, fürchten: und inwiefern ist denn jemand, der die Freiheit besitzt, inmitten vollständiger Dunkelheit hierhin und dorthin zu laufen, besser daran, als wenn er vom Winde hin und her geworfen würde?

Theoph. Seine Laune fände hierbei etwas mehr Befriedigung, aber er würde dennoch nicht besser imstande sein, das Gute zu finden und das Üble zu vermeiden.

§ 68. Philal. Eine andere Quelle des falschen Urteils! Zufrieden mit der ersten Lust, die uns entgegenkommt oder die die Gewohnheit uns angenehm gemacht hat, sehen wir nicht weiter um uns. Dies ist also eine neue Veranlassung für die Menschen, falsch zu urteilen, indem sie etwas als nicht notwendig zu ihrem Glück gehörig ansehen, was in der Tat dazu gehört.

Theoph. Diese Art falschen Urteils scheint mir unter der vorherigen Art, daß man sich nämlich hinsichtlich der Folgen täuscht, begriffen zu sein.

§ 69. Philal. Zu untersuchen ist noch, ob es in der Macht eines Menschen steht, das Angenehme oder Unangenehme, das irgendeine besondere Handlung begleitet, zu verändern. Es ist in mehreren Fällen möglich. Die Menschen können und müssen ihren Gaumen verbessern und ihm Geschmack beibringen. Und auch den Geschmack der Seele kann man verändern. Gehörige Prüfung, Übung, Fleiß, Gewohnheit haben diese Wirkung. Man gewöhnt sich an den Tabak, und findet ihn infolge der Gewohnheit zuletzt angenehm. Ebenso steht es mit der Tugend: die Gewohnheiten haben großen Reiz, und man kann sich nicht ohne Unruhe von ihnen trennen. Vielleicht wird man die Behauptung, daß die Menschen es dahin bringen können, daß Dinge oder Handlungen ihnen mehr oder weniger angenehm seien, als ein Paradoxon betrachten: so sehr vernachlässigt man diese Pflicht.

Theoph. Dasselbe habe ich schon oben bemerkt im § 37 gegen Ende und § 47 auch gegen Ende. Man kann machen, daß man etwas will, und sich seinen Geschmack bilden.

§ 70. Philal. Die Moral, die auf echten Grundlagen ruht, kann nur zur Tugend bestimmen; es genügt, daß ein ewiges Glück und ein ewiges Unglück nach diesem Leben möglich seien. Man muß zugeben, daß ein gutes Leben, verbunden mit der Erwartung einer möglichen ewigen Glückseligkeit, einem schlimmen Leben vorzuziehen ist, in das sich die Furcht vor einem entsetzlichen Elend oder zum mindesten die schreckliche und unsichere Hoffnung, vernichtet zu werden, mischt. Alles dies ist von der äußersten Klarheit, selbst wenn die Rechtschaffenen in dieser Welt nur Übel zu erdulden hätten und die Bösen in ihr eine beständige Glückseligkeit genössen, was doch für gewöhnlich keineswegs der Fall ist. Denn wenn man alles wohl erwägt, so haben sie, glaube ich, selbst in diesem Leben den schlimmsten Teil.

Theoph. So würde also, wenn es auch nichts jenseits des Grabes gäbe, das Leben eines Epikureers nicht das vernunftgemäßeste sein. Ich freue mich, daß Sie auf diese Weise Ihre früheren entgegengesetzten Äußerungen [§ 55] berichtigen.

Philal. Wer würde närrisch genug sein, sich bei ruhigem Nachdenken dazu zu entschließen, sich der Gefahr, möglicherweise für ewig unglücklich zu werden, auszusetzen, – so daß der einzige für ihn günstige Fall das reine Nichts wäre –, statt das Leben eines rechtschaffenen Mannes zu wählen, der nichts anderes als die Vernichtung zu fürchten, dagegen eine ewige Glückseligkeit zu hoffen hat? Ich habe vermieden, von der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit eines künftigen Lebens zu reden, weil ich hier keine andere Absicht hege, als die Falschheit des Urteils zu zeigen, deren sich jeder seinen eigenen Grundsätzen nach schuldig bekennen muß.

Theoph. Die Bösen sind sehr geneigt zu glauben, daß ein anderes Leben unmöglich ist. Aber sie haben dafür keinen anderen Grund, als daß man sich auf dasjenige beschränken müsse, was man durch die Sinne erfährt, und daß ihres Wissens noch niemand aus der anderen Welt zurückgekommen sei. Es gab eine Zeit, wo man nach demselben Grundsatz die Antipoden hätte verwerfen können, indem man sich rein auf den Standpunkt der populären Begriffe, statt auf den der Mathematik stellte, und man hätte hierzu nicht minder Grund gehabt, als man jetzt etwa haben kann, das andere Leben zu verwerfen, weil man bei den Vorstellungen der sinnlichen Einbildungskraft verharrt und die wahre Metaphysik nicht mit ihnen verbindet. Denn es gibt drei Stufen der Begriffe oder Ideen, populäre, mathematische und metaphysische Begriffe. Die Begriffe der einen Art reichten nicht hin, um den Glauben an die Antipoden hervorzurufen; die Begriffe der ersten und zweiten Art reichen noch nicht hin, um den Gedanken an die andere Welt zu erzeugen. Doch begründen sie allerdings bereits günstige Vermutungen: und wenn die zweite Art der Begriffe das Dasein der Antipoden auch vor dem Erfahrungsbeweis, den wir jetzt besitzen, sicherstellte (ich spreche hier nicht von dem Dasein der Bewohner, sondern lediglich von ihrem Wohnort, – denn diesen zum mindesten vermochten die Geographen und Astronomen aus der Kenntnis der Rundung der Erde zu erschließen), so gibt uns die letzte Klasse der Begriffe nicht minder Gewißheit über ein anderes Leben, schon hier und ehe man es aus eigener Anschauung kennt.

§ 72. Philal. Kommen wir jetzt auf die Macht zurück, die eigentlich den allgemeinen Gegenstand dieses Kapitels bildet, da die Freiheit nur eine Spezies derselben, aber freilich eine der wichtigsten, ausmacht. Um von der Macht bestimmtere Vorstellungen zu gewinnen, wird es nicht unpassend oder unnütz sein, sich eine genauere Kenntnis dessen, was man Tätigkeit nennt, zu verschaffen. Ich habe zu Anfang unserer Unterhaltung über die Macht gesagt, daß es nur zwei Arten von Tätigkeit gibt, von denen wir eine Vorstellung haben, nämlich Bewegung und Denken.

Theoph. Ich glaube, man könnte einen allgemeineren Ausdruck als den des Denkens gebrauchen, nämlich den der Perzeption, indem man das Denken nur den Geistern zuschreibt, während die Perzeption allen Entelechien zukommt. Doch will ich niemand die Freiheit streitig machen, den Ausdruck Denken in derselben Allgemeinheit zu nehmen. Und ich selbst mag es mitunter getan haben, ohne darauf zu achten.

Philal. Obwohl man nun diesen beiden Dingen den Namen Tätigkeit gibt, wird man doch finden, daß er auf sie nicht immer vollkommen paßt, und daß es gewisse Fälle gibt, in denen man vielmehr von einem Zustand des Leidens sprechen muß. In diesen Fällen empfängt die Substanz, in der die Bewegung oder das Denken vor sich geht, den Eindruck, durch den ihr die Tätigkeit mitgeteilt wird, lediglich von außen, und ist hierbei nur insofern tätig, als sie die Fähigkeit besitzt, diesen Eindruck aufzunehmen: dies aber ist nur eine passive Macht. Mitunter dagegen setzt sich die Substanz oder das wirkende Wesen auch durch seine eigene Macht in Tätigkeit, und dies ist eigentlich eine tätige Macht.

Theoph. Ich habe schon gesagt, daß, wenn man das Wort Tätigkeit in metaphysischer Strenge nimmt, – nämlich für diejenigen Vorgänge, die in der Substanz auf spontane Weise und aus ihrem eigenen Innern heraus geschehen – alles was im eigentlichen Sinne eine Substanz ist, auch tätig ist; denn nächst Gott kommt ihr alles von ihr selbst, da es unmöglich ist, daß eine erschaffene Substanz auf die andere Einfluß hat. Verstehen wir aber unter Tätigkeit einen Ausfluß der Vollkommenheit und unter Leiden das Gegenteil, so gibt es in den wirklichen Substanzen nur dann Tätigkeit, wenn ihre Perzeption (denn diese lege ich allen bei) sich entwickelt und deutlicher wird, wie ein Leiden nur dann besteht, wenn sie verworrener wird, so daß in den der Lust und des Schmerzes fähigen Substanzen jede Handlung eine Beförderung der Lust und jedes Leiden eine Beförderung des Schmerzes ist. Was die Bewegung anbetrifft, so ist sie nur eine reale Erscheinung, weil die Materie und die Masse, der die Bewegung zukommt, nicht im eigentlichen Sinn eine Substanz ist. Indessen bietet die Bewegung das Bild einer echten Tätigkeit dar, wie auch die Masse ein Bild der Substanz ist: und in dieser Hinsicht kann man sagen, daß der Körper tätig ist, wenn in seiner Veränderung Spontaneität herrscht, daß er dagegen leidend ist, wenn er durch einen anderen getrieben oder aufgehalten wird: wie man, wenn es sich um das echte Tun und Leiden einer echten Substanz handelt, eine Veränderung, in welcher sie ihrer Vollkommenheit zustrebt, als Tätigkeit bezeichnen und ihr selbst zuschreiben kann, während man eine Veränderung, die im entgegengesetzten Sinne erfolgt, als Leiden auffassen und einer fremden Ursache zuschreiben kann, wenngleich diese nicht die unmittelbare Ursache des Geschehens ist: denn in dem ersten Falle bietet die Substanz selbst, in dem zweiten Falle dagegen die äußeren Dinge den Grund dar, kraft dessen wir die Veränderung auf verständliche Weise erklären können Zu dieser Bestimmung der Begriffe des Leidens und der Tätigkeit vgl. das »Nouveau Système de la nature et de la communication des substances« (1695) (Band II, S. 270 f.).. Ich spreche den Körpern nur ein Bild der Substanz und der Tätigkeit zu, weil alles, was aus Teilen zusammengesetzt ist, im strengen Sinne so wenig als eine Substanz gelten kann, wie eine Herde; indessen kann man sagen, daß auch hier eine gewisse Substantialität besteht, daß aber jene Einheit, kraft deren der Gegenstand einen Gegenstand ausmacht, hier lediglich aus dem Denken stammt Vgl. hierzu bes. den Briefwechsel mit Arnauld, Band II S. 222 ff..

Philal. Ich hatte geglaubt, daß das Vermögen, Ideen oder Gedanken durch die Wirksamkeit einer fremden Substanz zu erhalten, das Vermögen zu denken genannt werde, obgleich es im Grunde nur ein passives Vermögen, oder eine einfache Fähigkeit ist, insofern man von den Reflexionen und inneren Vorgängen absieht, die das aufgenommene Bild stets begleiten: denn der Ausdruck in der Seele ist derartig, wie er in einem lebendigen Spiegel wäre. Dagegen ist unser Vermögen, nichtgegenwärtige Ideen nach Belieben wieder zurückzurufen und diejenigen, bei denen es uns angemessen erscheint, zu vergleichen, in Wahrheit ein aktives Vermögen.

Theoph. Dies stimmt auch mit den Begriffen, die ich soeben festgestellt habe, sofern hierbei ein Übergang zu einem vollkommeneren Zustand stattfindet. Indessen möchte ich glauben, daß auch die sinnlichen Empfindungen eine Tätigkeit in sich schließen, sofern sie uns zu deutlichen Perzeptionen verhelfen und uns hierdurch Gelegenheit verschaffen, Bemerkungen anzustellen und gleichsam uns selbst zu entwickeln.

§ 73. Philal. Man wird jetzt, glaube ich, die ursprünglichen und originalen Vorstellungen auf folgende kleine Anzahl zurückführen können: die Ausdehnung, die Widerstandsfähigkeit, die Beweglichkeit (d. h. das leidende Vermögen oder die Fähigkeit, bewegt zu werden), [die wir aus der sinnlichen Wahrnehmung der Körper schöpfen; das Vermögen zu denken und das aktive Bewegungsvermögen, das wir] auf dem Wege der Reflexion aus unserem Geiste gewinnen, endlich das Dasein, die Dauer und die Zahl, welche wir auf beiden Wegen, auf dem Wege der sinnlichen Empfindung sowohl wie auf dem der Reflexion erhalten Die in Klammern eingeschlossenen Worte finden sich nicht im Leibnizischen Text; sie sind hier, da sie zum Verständnis unentbehrlich sind, aus dem Locke'schen Original ergänzt worden.. Auf Grund dieser Ideen könnten wir, wenn ich mich nicht täusche, das Wesen der Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche und aller unserer anderen Ideen erklären, wenn unsere Fähigkeiten ausreichten, um die verschiedenen Bewegungen der kleinen Körper, die diese sinnlichen Empfindungen erzeugen, deutlich gewahr zu werden.

Theoph. Die Wahrheit zu sagen, glaube ich, daß die Ideen, die man hier ursprüngliche und originale nennt, diese Bezeichnung in ihrer Mehrzahl nicht völlig verdienen, da sie meiner Ansicht nach einer weiteren Auflösung fähig sind; indessen tadle ich Sie nicht, sich auf sie beschränkt und die Analyse nicht weitergetrieben zu haben. Wenn übrigens hierdurch ihre Zahl verringert werden könnte, so ließe sie sich auch vermehren, indem man andere noch ursprünglichere oder doch ebenso ursprüngliche Ideen hinzufügte. Was ihre Anordnung anbetrifft, so möchte ich glauben, daß in der analytischen Ordnung die Existenz allen übrigen Ideen, die Zahl der Ausdehnung, die Dauer der Motivität oder Beweglichkeit, vorausgehen muß, obgleich diese analytische Ordnung gewöhnlich nicht mit der Ordnung zusammenfällt, in der wir auf irgendeine äußere Gelegenheit hin, an diese Ideen denken. – Die Sinne liefern uns den Stoff zum Nachdenken, und wir könnten gar nicht einmal an das Denken denken, wenn wir nicht zugleich an etwas anderes dächten, nämlich an die besonderen Inhalte, die die Sinne uns liefern. Auch bin ich überzeugt, daß die Seelen und geschaffenen Geister niemals ohne Organe und niemals ohne sinnliche Empfindungen sind, denn ohne (sinnliche) Zeichen vermögen sie nicht zu denken. Diejenigen, die eine völlige Loslösung der Seele vom Körper und in der losgelösten Seele Arten des Denkens angenommen haben, die durch nichts im Umkreise unserer Erkenntnis erklärbar sind und nicht allein unserer gegenwärtigen Erfahrung, sondern, was noch weit mehr ist, der allgemeinen Ordnung der Dinge widerstreiten, haben denen, die sich starke Geister dünken, in die Hände gearbeitet und vielen die schönsten und größten Wahrheiten verdächtig gemacht, da sie sich hierdurch mancher guter Beweismittel für diese Wahrheiten, die diese Ordnung der Dinge uns liefert, beraubt haben S. ob. S. 16 ff..


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