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Kapitel XIV.
Von der Dauer und ihren einfachen Modi.

§ 10. Philal. Der Ausdehnung entspricht die Dauer. Und einen Teil der Dauer, in dem wir keine Abfolge von Ideen bemerken, nennen wir einen Augenblick.

Theoph. Diese Definition des Augenblicks muß, wie ich glaube, von seinem populären Begriff verstanden werden, wie die, die man gemeinhin vom Punkt gibt. Denn streng genommen sind Punkt und Augenblick keine Teile von Raum und Zeit, wie sie selbst auch keine Teile haben. Beides sind nur Grenzen.

§ 16. Philal. Nicht die Bewegung, sondern eine beständige Folge von Ideen ist es, was uns die Idee der Dauer gibt.

Theoph. Eine Folge von Perzeptionen erweckt in uns die Idee der Dauer, macht aber nicht ihren Inhalt aus. Unsere Perzeptionen weisen niemals eine so konstante und regelmäßige Folge auf, wie es der Idee der Zeit entspricht, die ein gleichförmiges, einfaches Kontinuum ist, wie eine gerade Linie. Der Wechsel der Perzeptionen gibt uns Gelegenheit, an die Zeit zu denken, und man mißt sie durch gleichförmige Veränderungen: aber selbst wenn es nichts Gleichförmiges in der Natur gäbe, so bliebe doch die Zeit immer bestimmt, wie auch der Ort, wenn es keinen festen oder unbeweglichen Körper gäbe, darum nicht weniger bestimmt sein würde. Denn da man die Gesetze der ungleichförmigen Bewegungen kennt, so kann man sie stets auf gedachte gleichförmige Bewegungen zurückführen und auf diese Weise das Ergebnis der Vereinigung einer Mehrheit untereinander verschiedener Bewegungen vorausbestimmen. In diesem Sinne ist denn auch die Zeit das Maß der Bewegung, d. h. die gleichförmige Bewegung ist das Maß der ungleichförmigen.

§ 21. Philal. Man kann nicht sicher erkennen, daß zwei Zeitteile an Dauer einander gleich sind; und man muß gestehen, daß die Beobachtungen nur auf das Ungefähre gehen können. Nach genauer Untersuchung hat man entdeckt, daß in den täglichen Sonnenumläufen tatsächlich eine Unregelmäßigkeit besteht und wir wissen nicht, ob nicht die jährlichen Umläufe ebenfalls ungleich sind.

Theoph. Der Pendel hat die Ungleichheit der Tage von einem Mittag zum anderen sinnlich bemerkbar und sichtbar gemacht: solem dicere falsum audet. Man kannte allerdings diese Ungleichheit schon und wußte, daß sie ihre Regeln habe. Was den jährlichen Umlauf anbetrifft, der die Ungleichheiten der Sonnentage ausgleicht, so könnte er in der Folgezeit wechseln. Die Umdrehung der Erde um ihre Achse, die man nach der gewöhnlichen Anschauung dem Primum mobile Das »Primum mobile« ist nach der Grundanschauung der aristotelisch-mittelalterlichen Astronomie die äußerste Sphäre des Himmels, die dem göttlichen »ersten Beweger« am nächsten steht und, von ihm in Umschwung versetzt, ihre Bewegung den niederen Sphären mitteilt. In der modernen Copernikanischen Lehre ist dieser Umschwung der Fixsternsphäre durch die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Achse ersetzt. zuschreibt, ist bis jetzt unser bestes Maß, und die verschiedenartigen Uhren dienen dazu, dieses Maß in Teile zu zerlegen. Indessen kann selbst diese tägliche Umwälzung der Erde im Laufe der Zeit eine Veränderung erfahren und man könnte dies bemerken, wenn eine Pyramide lange genug dauern könnte, oder wenn man deren wieder neue baute, indem man auf dieser Pyramide die Länge der Pendel aufzeichnete, die jetzt während dieser Umdrehung eine bekannte Zahl von Schwingungen ausführen. Auch ließe sich diese Veränderung einigermaßen daran erkennen, daß man die Umdrehung der Erde mit anderen, wie z. B. mit dem Umlauf der Jupitertrabanten vergliche; denn es ist nicht wahrscheinlich, daß, wenn beide Umläufe sich verändern, die Änderung stets proportional sein würde.

Philal. Unser Zeitmaß würde genauer sein, wenn man einen vergangenen Tag aufbewahren könnte, um ihn mit den künftigen Tagen zu vergleichen, wie man die räumlichen Maße aufbewahrt.

Theoph. Statt dessen sind wir aber darauf anwiesen, die Körper aufzubewahren und zu beobachten, die ihre Bewegungen in einer ungefähr gleichen Zeit vollziehen. Auch werden wir nicht behaupten können, daß ein räumliches Maß, wie z. B. eine Elle, die man in Holz oder Metall aufbewahrt, vollkommen dieselbe bleibe.

§ 22. Philal. Da nun alle Menschen ersichtlich die Zeit durch die Bewegung der Himmelskörper messen, so ist es sehr seltsam, daß man nichtsdestoweniger die Zeit als Maß der Bewegung definiert Als die »Zahl der Bewegung« (ἀριθμὸς κινήσεως) wird die Zeit von Aristoteles und in der Scholastik, aber auch noch von Descartes definiert (Princ. philos. I, 57: »cum tempus a duratione generaliter sumpta distinguimus dicimusque esse numerum motus, est tantum modus cogitandi«)..

Theoph. Ich sagte eben (§ 16), wie das verstanden werden muß. Allerdings sagt Aristoteles, daß die Zeit die Zahl und nicht das Maß der Bewegung ist. Man kann in der Tat behaupten, daß die Dauer durch die Zahl der periodischen, gleichen Bewegungen erkannt wird, von denen die eine anfängt, wenn die andere schließt, z. B. durch so und so viel Umläufe der Erde oder der Gestirne.

§ 24. Philal. Diese Umläufe kann man jedoch auch antizipieren: sagt man z. B., daß Abraham im Jahre 2712 der Julianischen Periode geboren wurde, so ist dies ebenso verständlich, als wenn man vom Beginn der Welt an rechnen wollte, auch wenn man annimmt, daß die Julianische Periode mehrere hundert Jahre früher begonnen hat, als es Tage, Nächte oder Jahre gegeben hat, die durch einen Umlauf der Sonne bezeichnet wurden Unter der »Julianischen Periode«, die zuerst von Joseph Scaliger als Zeitmaß eingeführt wurde, versteht man einen Zeitraum von 7980 Jahren (nach Jahren des julianischen Kalenders gezählt). – Im Leibnizischen Text findet sich hier übrigens ein sinnstörender Fehler, der auch in die Übersetzung Schaarschmidts übergegangen ist; es ist zu lesen: »c'est parler aussi intelligiblement« statt »inintelligiblement«; wie sich aus dem Vergleich mit Lockes Essay (II, 14, § 25) mit Gewissheit ergibt..

Theoph. Diese Leere, welche man in der Zeit denken kann, zeigt wie die des Raumes, daß Zeit und Raum ebensogut auf das Mögliche als auf das Wirkliche gehen Vgl. hierzu den Briefwechsel mit Clarke (drittes Schreiben, § 4; fünftes Schreiben, § 106) Band I, S. 134 und 206.. Übrigens ist von allen chronologischen Methoden die Methode, die Jahre vom Anfang der Welt an zu zählen, die ungeeignetste, wäre es auch nur wegen des starken Widerspruchs zwischen der Septuaginta und dem hebräischen Texte, anderer Gründe nicht zu gedenken.

§ 26. Philal. Man kann den Anfang der Bewegung denken, obgleich man einen Anfang der Dauer, wenn man diese in ihrem ganzen Umfang nimmt, nicht begreifen kann. Ebenso kann man dem Körper, nicht aber dem Raum Grenzen setzen.

Theoph. Der Grund hierfür liegt darin, daß, wie ich eben bemerkt habe, die Zeit und der Raum Möglichkeiten bezeichnen, die weiter greifen als die Annahme wirklicher Existenzen. Zeit und Raum haben die Natur ewiger Wahrheiten, die sich in gleicher Weise auf das Mögliche wie auf das Wirkliche beziehen.

§ 27. Philal. In der Tat stammt die Idee der Zeit und die der Ewigkeit aus derselben Quelle, denn wir können in unserem Geiste bestimmte Längen der Zeitdauer, soviel es uns gefällt, immer wieder aneinanderfügen.

Theoph. Um jedoch hieraus den Begriff der Ewigkeit zu gewinnen, muß noch der Gedanke hinzutreten, daß stets derselbe Grund, weiter fortzuschreiten, bestehen bleibt. Diese Erwägung der Gründe vollendet erst den Begriff der unendlichen oder der unbestimmten Weite des möglichen Fortschreitens. Die Sinne allein können also für die Bildung dieser Begriffe nicht genügen. Und im Grunde kann man sagen, daß die Idee des Absoluten der Idee der Schranken, die wir hinzufügen, in der Natur der Dinge vorausgeht; aber wir bemerken die erstere nur, indem wir mit dem beginnen, was beschränkt ist und uns in die Sinne fällt S. Leibniz' Bemerkungen zu Lockes Kritik der Prinzipien des Malebranche (Gerh. VI, 577): »Malebranche behauptet, daß die Idee des Unendlichen der des Endlichen vorausgehe; Locke wendet ein, daß ein Kind die Idee einer Zahl oder die eines Vierecks früher als die des Unendlichen besitzt. Er hat recht, sofern er unter den Ideen sinnliche Bilder versteht; versteht er sie aber als die Grundlagen der Begriffe, so wird er finden, daß im Continuum der Begriff eines Ausgedehnten schlechthin, im absoluten Sinne, dem Begriff eines Ausgedehnten, in dem irgendeine Modifikation oder Beschränkung hinzugefügt ist, vorausgeht.«.


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