Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XIII.
Von den einfachen Modi und zunächst von denen des Raumes.

§ 3. Philal. Der Raum, wenn er hinsichtlich der Länge, welche zwei Körper trennt, betrachtet wird, heißt Entfernung; hinsichtlich der Länge, Breite und Tiefe kann man ihn Kapazität nennen.

Theoph. Um genauer zu sprechen, so ist die Entfernung zweier in räumlicher Lage befindlichen Dinge, mag es sich um Punkte oder ausgedehnte Dinge handeln, die Länge der kürzesten Linie, die man von dem einen zum andern ziehen kann. Diese Entfernung kann entweder absolut verstanden werden oder relativ zu einer bestimmten Figur, die die beiden Elemente, deren Abstand man mißt, in sich enthält. So gibt z. B. die gerade Linie die absolute Entfernung zwischen zwei Punkten an; liegen aber diese beiden Punkte auf derselben Kugeloberfläche, so wird ihre Entfernung auf dieser Oberfläche durch den kürzeren Abschnitt des größten Kreises, den man von dem einen Punkte zum andern ziehen kann, bezeichnet. Zu erwähnen ist auch, daß Entfernung nicht bloß zwischen zwei Körpern, sondern auch zwischen Flächen, Linien und Punkten stattfindet. Was die Kapazität oder vielmehr den Zwischenraum zwischen zwei Körpern oder zwei ausgedehnten Dingen oder zwischen einem ausgedehnten Ding und einem Punkt betrifft, so wird er durch die Gesamtheit aller kürzesten Linien dargestellt, die sich zwischen den Punkten des einen und denen des anderen Gebildes ziehen lassen. Dieser Zwischenraum ist dreidimensional, außer wenn die beiden Gegenstände in derselben Fläche liegen und auch die kürzesten Linien zwischen den Punkten beider in diese Fläche fallen oder auf ihr ausdrücklich angenommen werden müssen.

§ 4. Philal. Neben den natürlichen Entfernungen haben die Menschen in ihrem Geiste auch die Ideen bestimmter Längen, z. B. die Länge eines Zolles oder Fußes, festgesetzt.

Theoph. Das ist nicht möglich: denn die Idee einer genau bestimmten Länge läßt sich nicht fixieren. Was ein Zoll oder ein Fuß ist, läßt sich rein geistig nicht begreifen: vielmehr kann man die Bedeutung dieser Namen nur durch wirkliche Maße bewahren, die man als unveränderlich annimmt und an denen man sie stets wiederfinden kann Vgl. hierzu die Begriffsbestimmung der »Quantität« in den »Initia rerum mathematicarum metaphysica«, Band I, S. 55.. Darum hat der englische Mathematiker Greave sich zur Erhaltung unserer Maße der ägyptischen Pyramiden bedienen wollen, die schon lange gedauert haben und sicherlich noch eine Zeit dauern werden, indem er, um der Nachwelt diese Maße zu übermitteln, das Verhältnis feststellte, das sie zu bestimmten Längen auf einer dieser Pyramiden haben. Allerdings können, wie man seit kurzem gefunden, die Pendel dazu dienen, die Maße zu verewigen ( mensuris rerum ad posteros transmittendis), wie die Herren Huygens, Mouton und Buratini, weiland Münzmeister von Polen, gezeigt haben, indem sie das Verhältnis unserer Längenmaße zur Länge eines Pendels berechneten, das genau eine Sekunde lang, d. h. den 86,400sten Teil einer Umdrehung des Fixsternhimmels oder eines astronomischen Tages, schwingt, worüber Buratini eine besondere Schrift abgefaßt hat, welche ich im Manuskript gesehen habe Vgl. Huyghens' Horologium oscillatorium sive de motu pendulorum ad horologia aptato demonstrationes geometricae. Paris 1673.. Aber bei diesem Pendelmaß findet noch die Unvollkommenheit statt, daß man sich auf gewisse Länder beschränken muß, denn unter dem Äquator bedürfen die Pendel, um die gleiche Zeit zu schwingen, geringerer Länge. Auch muß man ferner die beständige Gleichheit des wirklichen Fundamentalmaßes, d. h. der Tagesdauer oder der Dauer einer Achsendrehung der Erde voraussetzen, ja sogar die Konstanz der Ursache der Schwere, von anderen Umständen nicht zu reden.

§5. Philal. Indem wir bemerken, daß die Begrenzung der Körper entweder in geraden Linien besteht, die bestimmte Winkel bilden, oder in krummen Linien, an denen man keine Winkel bemerkt, bilden wir uns die Idee der Figur.

Theoph. Eine ebene Figur wird durch eine oder mehrere Linien begrenzt, aber die Figur eines Körpers kann ohne bestimmte Linien begrenzt werden, wie z. B. die einer Kugel. Eine einzige gerade Linie oder ebene Fläche kann keinen Raum einschließen und keine Figur ausmachen. Aber eine einzige Linie kann eine ebene Figur einschließen, z. B. der Kreis, das Oval, ebenso wie eine einzige krumme Oberfläche eine körperliche Figur umschließen kann, wie die Kugel oder das Sphaeroid. Indessen können nicht nur mehrere gerade Linien oder ebene Oberflächen, sondern auch mehrere krumme Linien oder krumme Oberflächen zusammentreffen, ja sogar miteinander Winkel bilden, wenn die eine nicht die Tangente der anderen ist. Es ist nicht leicht, von der Figur im allgemeinen, nach dem Gebrauch der Geometer, die Definition zu geben. Sagt man, sie sei ein begrenztes Ausgedehntes, so wäre dies zu allgemein, denn eine gerade Linie z. B. ist auch, wenn sie an beiden Enden begrenzt ist, keine Figur, und selbst zwei gerade Linien können nicht eine solche bilden. Sagt man, sie sei ein Ausgedehntes, das durch ein anderes Ausgedehntes begrenzt wird, so ist dies nicht allgemein genug, denn die gesamte Kugeloberfläche ist eine Figur, und dennoch ist sie nicht durch irgendein Ausgedehntes begrenzt. Schließlich kann man sagen, daß die Figur ein begrenztes Ausgedehntes sei, in welchem es unendlich viel Wege von einem Punkte zum anderen gibt. Diese Erklärung begreift die begrenzten Oberflächen ohne Grenzlinien in sich, die die vorhergehende Definition nicht umfaßte und schließt die bloßen Linien aus, weil es von einem Punkte zum anderen bei einer Linie nur einen Weg oder doch nur eine bestimmte Anzahl von Wegen gibt. Aber noch besser wird es sein, zu sagen, daß die Figur ein begrenztes Ausgedehntes sei, das einen ausgedehnten Schnitt zuläßt oder aber das Breite hat, ein Ausdruck, von dem man bis jetzt auch noch keine Definition gegeben hatte Näheres in den »Initia rerum mathematicarum metaphysica«, Band I, S. 57 ff..

§ 6. Philal. Wenigstens sind alle Figuren nichts anderes als einfache Modi des Raumes.

Theoph. Die einfachen Modi wiederholen, nach Ihrer Erklärung, immer nur dieselbe Idee, aber bei den Figuren findet keineswegs immer eine solche Wiederholung des nämlichen statt. Die krummen sind von den geraden Linien und untereinander sehr verschieden. Somit weiß ich nicht, wie die Definition des einfachen Modus hier paßt.

§7. Philal. Man muß unsere Definitionen nicht allzu streng nehmen. Gehen wir aber von der Figur auf den Ort über. Wenn wir alle Schachfiguren auf denselben Feldern des Schachbrettes wiederfinden, wo wir sie gelassen haben, so sagen wir, daß sie alle an derselben Stelle sind, obgleich das Schachbrett selbst versetzt sein mag. Wir sagen, daß das Schachbrett an demselben Orte steht, falls es an derselben Stelle der Kajüte des Schiffes bleibt, wenn auch das Schiff weitergesegelt ist. Schließlich sagt man, daß das Schiff am selben Orte ist, wenn seine Entfernung hinsichtlich der benachbarten Teile des Landes sich nicht verändert, wenngleich die Erde sich vielleicht gedreht hat.

Theoph. Der Ort ist entweder ein besonderer, wenn man ihn mit Rücksicht auf bestimmte Körper betrachtet; oder ein allgemeiner, wenn er sich auf das Ganze bezieht, bei dem alle Änderungen, auf welchen Körper sie sich auch beziehen mögen, in Rechnung gezogen werden. Und wenn es auch nichts Feststehendes in der Welt gäbe, so wäre der Ort eines jeden Dinges nichtsdestoweniger kraft der Vernunft bestimmbar, wenn es möglich wäre, alle Veränderungen zu verzeichnen, oder wenn das Gedächtnis eines Geschöpfes dies zu leisten vermöchte: wie man von den Arabern erzählt, daß sie aus dem Gedächtnis und im Reiten Schach spielen. Auch was wir nicht festzustellen vermögen, ist doch darum in der Wahrheit der Dinge nicht minder bestimmt.

§ 15. Philal. Wenn mich jemand fragt, was der Raum ist, so bin ich bereit, ihm das zu sagen, wenn er mir erst sagt, was die Ausdehnung ist.

Theoph. Ich wünschte, ich könnte eine ebenso genaue Erklärung des Fiebers oder irgendeiner anderen Krankheit geben, als man sie meiner Ansicht nach vom Raum geben kann. Die Ausdehnung ist die Abstraktion des Ausgedehnten: das Ausgedehnte aber ist ein Stetiges, dessen Teile koexistent oder zugleich da sind Vgl. Band I, S. 340 f. (Kritik der philosophischen Prinzipien des Malebranche): »Die Ausdehnung ist ein Abstraktum, denn sie setzt ein Etwas voraus, das ausgedehnt ist. Sie bedarf, genau wie die Dauer, eines Subjekts, auf das sie sich bezieht. Sie setzt weiterhin in diesem Subjekte selbst eine andere ursprüngliche Eigenschaft, sie setzt eine Qualität, ein Attribut, eine Natur dieses Subjekts voraus, die sich ausbreitet, ausdehnt und kontinuierlich fortsetzt.« Zur näheren Erklärung vgl. noch Band I, S. 146, 331, [Anm. 96 und 273], II, 344 f..

§ 17. Philal. Wenn man fragt, ob der Raum ohne Körper Substanz oder Akzidenz ist, so antworte ich ohne Zögern, daß ich davon nichts weiß.

Theoph. Ich muß fürchten, der Eitelkeit beschuldigt zu werden, wenn ich etwas bestimmen will, was Sie nicht zu wissen gestehen. Aber man kann mit Grund annehmen, daß Sie davon mehr wissen, als Sie sagen oder glauben. Einige haben geglaubt, daß Gott der Ort der Dinge ist Vgl. hierzu Leibniz' »Remarques sur le sentiment du P. Malebranche qui porte que nous voyons tout en Dieu, concernant l'examen que Mr. Locke en a fait« (1708, Gerh. VI, 574 ff.), in denen Malebranches Satz, daß Gott der »Ort der Geister«, wie der Raum der »Ort der Körper« sei – mit den Einschränkungen, die sich aus Leibniz' Fassung des Raumbegriffs ergeben – gegen Locke verteidigt wird.. Dieser Ansicht waren, wenn ich nicht irre, Lessius und Guericke; aber dann enthält der Ort etwas mehr, als wir dem Raum zuschreiben, dem wir jede Tätigkeit abzusprechen pflegen. Nimmt man ihn auf diese Weise, so ist er ebensowenig eine Substanz, wie die Zeit es ist; auch kann er, wenn er Teile hat, nicht Gott sein. Er ist eine Beziehung, eine Ordnung, nicht allein für die wirklichen, sondern auch für die möglichen Dinge, wenn man diese betrachtet, als ob sie existierten. Aber seine Wahrheit und Realität ist, wie alle ewigen Wahrheiten, in Gott begründet Die näheren Bestimmungen finden sich in Leibniz' Briefwechsel mit Clarke (bes. drittes Schreiben, § 4 und fünftes Schreiben, § 104 f.; Band I, 134 und 205) über Leibniz' Verhältnis zu den spiritualistischen Raumlehren s. die Einleitung: Band I, S. 113 ff..

Philal. Ich stehe Ihrer Ansicht nicht fern, und Sie kennen den Spruch des h. Paulus, daß wir in Gott leben, weben und sind. So kann man, je nach dem Gesichtspunkt, unter dem man die Frage betrachtet, sagen, daß der Raum Gott sei, oder auch, daß er nur eine Ordnung oder Relation sei.

Theoph. Das Beste wird also sein zu sagen, daß der Raum eine Ordnung, Gott aber deren Quelle ist.

§ 19. Philal. Um jedoch zu wissen, ob der Raum eine Substanz ist, müßte man wissen, worin die Natur der Substanz im allgemeinen besteht. Aber das hat seine Schwierigkeit. Wenn Gott, die endlichen Geister und die Körper in gleicher Weise an ein und derselben Natur der Substanz teilhaben, folgt daraus nicht, daß sie nur als verschiedene Modifikationen dieser Substanz sich voneinander unterscheiden?

Theoph. Wenn diese Folgerung gälte, so würde auch daraus folgen, daß Gott, die endlichen Geister und die Körper, da sie gemeinschaftlich an ein und derselben Natur des Seins teilnehmen, nur als verschiedene Modifikation dieses Seins sich voneinander unterscheiden.

§ 19. Philal. Diejenigen, die zuerst darauf gekommen sind, die Akzidenzien als eine Art realer Wesen zu betrachten, die eines Dinges bedürfen, dem sie anhaften, sahen sich gezwungen, das Wort Substanz zu erfinden, um den Akzidenzien als Stütze zu dienen.

Theoph. Glauben Sie also, daß die Akzidenzien ohne Substanz bestehen können? Oder wollen Sie, daß sie keine realen Wesen sein sollen? Es scheint, daß Sie sich ohne Grund Schwierigkeiten machen; auch habe ich schon bemerkt, daß die Substanzen oder Concreta eher als die Akzidenzien oder Abstracta begriffen werden.

Philal. Die Worte Substanz und Akzidenz sind meiner Ansicht nach in der Philosophie von geringem Nutzen.

Theoph. Ich gestehe, anderer Meinung zu sein und glaube, daß die Betrachtung der Substanz einer der bedeutendsten und fruchtbarsten Punkte der Philosophie ist.

§21. Philal. Wir haben jetzt das Problem der Substanz nur gelegentlich berührt, indem wir fragten, ob der Raum eine Substanz sei. Aber es genügt uns hier, daß er kein Körper ist. Auch wird niemand wagen, den Körper unendlich zu machen, wie den Raum.

Theoph. Descartes und seine Anhänger haben gleichwohl erklärt, daß die Materie keine Schranken besitzt, indem sie die Welt für unbestimmbar groß erklärten, dergestalt, daß es uns nicht möglich sei, äußerste Grenzen an ihr zu begreifen. Sie haben auch den Ausdruck des Unendlichen mit einigem Grunde in den des unbestimmbar Großen verändert, denn es gibt in der Welt niemals ein unendliches Ganze, obgleich es stets bis ins Unendliche immer größere Ganze gibt Vgl. Descartes' Brief an« Henry More vom 5. Februar 1649 (Oeuvres, ed. Adam Tannéry, V, 274): »Gott allein ist es, den ich als positiv unendlich erkenne; von allem übrigen aber, wie von der Ausdehnung der Welt, der Zahl der Teile, in die die Materie teilbar ist und dgl. gestehe ich, nicht zu wissen, ob es unendlich sei oder nicht; ich weiß nur, daß ich in ihm keine Grenze erkenne und nenne es daher in Rücksicht auf mich unbestimmt groß (indefinitum).«. Sogar das Universum kann nicht für ein Ganzes gelten, wie ich anderswo gezeigt habe S. Leibniz' »Réflexions sur l'essai de l'entendement humain de Mr. Locke« (1696) (Gerh. V, 17), zuerst veröffentlicht in Lockes Epistolae, London 1708, vgl. hierzu bes. Bd. II, S. 364, 366, 368 ff..

Philal. Diejenigen, welche die Materie und das Ausgedehnte für ein und dasselbe nehmen, behaupten, daß die inneren Wände eines leeren hohlen Körpers sich berühren müßten. Indessen genügt der Raum, der sich zwischen zwei Körpern befindet, um ihre gegenseitige Berührung zu verhindern.

Theoph. Ich bin Ihrer Meinung, denn obwohl ich keinen leeren Raum zugebe, unterscheide ich doch die Materie von der Ausdehnung und gestehe daher, daß auch, wenn es in einer Kugel einen leeren Raum gäbe, die entgegengesetzten Pole ihrer Höhlung sich doch nicht berühren würden. Ich glaube aber, daß dieser Fall kraft der göttlichen Vollkommenheit ausgeschlossen ist.

§ 23. Philal. Es scheint indes, daß die Bewegung den leeren Raum beweist. Denn denkt man den Körper geteilt und seinen kleinsten Teil so groß wie ein Senfkorn, so muß es einen leeren Raum von der Größe eines Senfkornes geben, damit die Teile des Körpers Platz zu freier Bewegung haben. Ebenso muß es sich verhalten, wenn man annimmt, daß die Teile der Materie hundertmillionenmal kleiner sind.

Theoph. Wenn die Welt voll harter Körperchen wäre, die weder nachgeben noch sich teilen könnten, wie man die Atome beschreibt, so würde es allerdings unmöglich sein, daß Bewegung stattfände. Aber es gibt in Wahrheit keine ursprüngliche Härte; vielmehr ist der flüssige Zustand das Ursprüngliche und die Körper teilen sich nach Bedürfnis, weil es nichts gibt, das sie daran hindern könnte Näheres im Brief an Huyghens vom 16./26. Sept. 1692; Band. II, S. 39 ff.. Dieser Umstand raubt dem Argument, kraft dessen man von der Bewegung auf den leeren Raum schließt, jede Bedeutung.


 << zurück weiter >>