Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XXV Und dann war es Abend geworden . . .

Langsam begann das neue Leben des anderen Tages sich um Gert Liffers zu regen. Er hatte das Bett nicht berührt, hatte die lange Nacht durchwacht und fröstelnd den Morgen erwartet, der ebenso dunstig und trüb wie der vorhergehende hinter der Sankt Nikolaikirche hervorkam und über die Dächer sich legte. Es war ihm so, als wenn er noch immer in Finsternis säße, und in dieser Finsternis stürmten die Gedanken mit erdrückender Wucht auf ihn ein. Wie Todesahnung kam es über ihn. Er dachte an seine Jugend, an sein Ringen und Streben, und er sah, daß alles vergebens gewesen. – Eine lähmende Angst räkelte sich über ihn hin. Scham, Verzweiflung, Reue fielen wie glühende Tropfen auf seine verwundete Seele. Seine eigene Schuld wuchs ins Ungeheuerliche, Mit hungrigen Augen suchte er der Gegenwart ein versöhnendes Bild abzuringen. Aber keine befreiende Schau tat sich auf. Er sah nur ein dunkles Tor, durch das er hindurchmußte. Und hinter dem Tor lag ein schmaler Weg, der ins Nebelhafte, ins ewige Schweigen hineinführte. Wie gerne hätte er diesen Pfad des Vergessens betreten! Ja – wenn er allein gewesen!

Was hinderte ihn daran, sein jämmerliches Dasein wie ein nichtiges Gut von sich zu werfen? – Das Schicksal hatte sich ihm gegenüber nicht gescheut, gründliche und fanatische Arbeit zu machen. Mit lange vorbereiteten, aber um so schärferen Schlägen hatte es seines Amtes gewaltet. Alles in ihm war zerstört und in die Brüche gegangen. Also warum noch die Sucht und das widersinnige Streben, sich an ein Ding zu klammern, das für ihn seinen Wert verloren hatte? Er scheute den Tod nicht. Er war ihm willkommen, denn in seiner Umarmung konnte er Vergessen holen – und Ruhe und Frieden. Gern wäre er von hinnen gegangen, allein sein Leben gehörte nicht ihm mehr, nicht ihm allein mehr. Ein zweites, ebenso schuldbewußtes, war damit verknüpft, und wenn er sein eigenes ablegen wollte, dann mußte auch das andere folgen . . .

Wie unter einer wuchtigen Marter fuhr er zusammen.

Eine ungeheure Last drückte ihn nieder. Mit einem verzweifelten Laut umspannte er die hämmernden Schläfen. Er hörte ein dumpfes, weltfernes Brausen. Es lag weit hinter dem dunklen Tor, durch das er hindurchmußte – und das Brausen kam näher. Er lachte grimmig auf. Es war ein entsetzliches Lachen, das plötzlich abbrach. Über ihm schlug die Brandung eines verfehlten Lebens zusammen.

Morgen war der Tag des Gerichtes . . .

Er sah Josias noch immer vor sich: den hageren Menschen mit dem abgetragenen Sonntagsrock, dem verwehten Haar und dem versimpelten Geist – und doch mit dem furchtbaren Ernst und der vernichtenden Offenbarung in den leuchtenden Augen.

»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden vor Gott und den Menschen . . . Nicht . . .?!« fuhr Gert Liffers aus dumpfer Betäubung. »Auch dann nicht,« keuchte er mit verhaltenem Atem, »wenn es gilt, zwei gehetzte Menschenleben vor der Zerstörung zu retten?!«

Was kümmerte es überhaupt Welt und Gericht, wenn er meineidig würde?! – Eine Verkettung von Leidenschaft und Schuld hatte ihn und sie bis an den Abgrund getrieben. Sie hatten gesündigt – aber waren sie deshalb so ganz erbärmlich gewesen?! – Hatten sie nicht ebenso gut wie die übrigen Menschen ein Anrecht darauf, sich endlich wiederzufinden, aber rein vor der Welt und unberührt von ihrem verletzenden Geifer?! – und gebot hier nicht eine zwingende Kraft, eine neue Schuld auf die alte zu kleben, um ein geliebtes Weib vor der Schande zu retten?!

Und sie –- was würde sie selber beginnen?! – Würde sie ihre Leidenschaft gestehn, unter der sie gehandelt, und sich kreuzigen lassen von dem lüsternen Behagen einer erbarmungslosen und gehässigen Menge?!

»Niemals!« gab er sich selber die Antwort. »Die fürchterliche Qual hebt ihr den Arm und streckt ihr die Finger . . .«

»Hund, Du . . .!« rief eine verzweifelte Stimme. »Genau wie Du zum Verbrecher – wird sie zur Verbrecherin werden, und wie Dir, wächst auch ihr die Schwurhand dereinst aus dem Grabe . . . und Du bist doppelt schuldig geworden.«

Eine unsichtbare Gewalt schlug ihm die Tatze in die gemarterte Seele. Er griff sich mit der Faust an die Stirne.

»Also bleibt nur das dunkle Tor für uns beide,« sagte er mit zuckenden Lippen.

Ein Leuchten ging über sein verzehrtes Gesicht. Er wollte keine Seelen verkaufen, um ein Glück zu gewinnen, das nur ein vermeintliches war und auf tönernen Füßen umherging. Für ihn hatte das dunkle Tor seine Schrecken verloren, und für sie würde es noch seine Schrecken verlieren, denn jenseits der Pforte leuchtete das verheißungsvolle Licht der Erlösung, das ihr verfehltes Leben zu klären vermochte. Wer würde sie richten?! – Die Welt nicht mehr; sie konnte es nicht – und Gott ist barmherzig. – – –

Langsam reihte sich Stunde an Stunde. Die Leute steckten die Köpfe zusammen. Die Ereignisse, die sich im Verlaufe der letzten Wochen allmählich verflüchtigt hatten, waren durch das Bekanntwerden des nahe bevorstehenden Erbschaftsprozesses wieder näher gerückt und lebekräftig geworden, und die im Testament bedachten, aber jählings aus ihrem süßen Traum gerüttelten Menschen sorgten dafür, daß die zu ihren Gunsten sprechenden Einzelheiten sich wurzelecht und bodenständig erhielten, um die öffentliche Meinung kirre zu machen und für sich zu gewinnen. Für die pikanten Zutaten arbeiteten Sophie und der unbefleckte Empfänger: sie in starrer Herzlosigkeit, und er mit wehleidigem Gesicht, salbungsvoller Betonung und unter Anrufung Gottvaters, des Sohnes, des heiligen Geistes und des aloysianischen Jünglings, dessen Andeutungen er sein ganzes Wissen verdankte. Heute war das Interesse besonders rege geworden, denn morgen ging's ja nach Kleve. Nur wenige, wie Petrus Nagel, der Viehweidshöfer, der Herr Notar Johann Peter Gerechtsam und andere hielten sich dem Gerede fern und hatten ihre eigene Ansicht. Selbst Madam Mömmes litt bei der Hochflut der umlaufenden Gerüchte unter skeptischen Anwandlungen. Sie war irre an ihrer besten Freundin geworden. Das Unerbittliche und Grapsige im Wesen der Langen, das sich vornehmlich in den letzten Wochen bekundet, hatte sie stutzig gemacht, und als am Nachmittag die Babbeltjes-Lena bei ihr vorsprach, gab sie dieser gegenüber denn auch klipp und klar zu verstehn, daß die Frau Notariatssekretärin nicht besonders nobel gehandelt habe.

»Ich will Frau Aleit absolutemang nich verdefendieren,« meinte sie mit einer gewissen Bitterkeit in der Stimme, »aber sie, was die Lange is, sie könnte doch so'n bischen Rücksicht nehmen un das arme Fraumensch nich so gottserbärmlich in die Ungelegenheiten hineinziehn. Sie reißt ihr ja die Kleider vom Leibe un stellt sie splinterfasernackig vor die Augen der Menschheit. Das is mir zu scharnierlich, meine beste Frau Lena, un dabei tut sie ja immer, als habe sie unsern lieben Herrgott für sich alleine in Pachtung genommen. Aber so is das bei vielen christkatholischen Menschen: sie halten die fünf Gebote der Kirche un kehren die zehn Gebote des Herrn aus ihrem Herzenstempel heraus, als wären sie man Abfallgemüse un faule Kartoffelschalen. Das habe ich schon lange gemorken – un das gefällt mir nich an unserer bisherigen Freundin.«

»Allens was recht is,« konstatierte die Alte mit ihrem frischen Gesichtchen, »sie macht ja 'nen delikaten Kaffee un piekfeine Waffeln, aberst ich gebe Ihr Recht: sie will allens haben un kennt keine Nächstenliebe – un deshalb estimiere ich sie für 'ne fiese Monarchin, un wenn sie nächstens an meine Theke vorbeikommt, dann halte ich über meine Leckertäten die Hände, sonst fingert sie mich noch die besten Babbelatjes herunter – un das brauche ich mir nich gefallen zu lassen.«

Und damit ging sie, um gleich darauf Frau ten Hompel mitzuteilen, daß Madam Mömmes doch nicht so wäre, wie sie wohl aussähe, auf zwei Schultern trüge und die höchstehrenwerte Frau Notariatssekretärin in Grund und Boden verfluche, und gab der Erwägung anheim, ob die plötzliche Sympathie für Aleit van Laak, die sie bei Lisbeth herausgefühlt habe, vielleicht ihren wechselseitigen Liebhabereien entspränge.

»Aber warum denn?!« erstaunte sich die behäbige Bäckersfrau.

»Sehr einfach,« dozierte die Babbeltjes-Lena. »Beide haben ihre festen Verhältnisse. Die eine mit dem Deichgräf un, was Madam Mömmes is, mit dem ägyptischen Joseph. – Aberst so is das immer im menschlichen Leben gewesen: gleiche Kulörchen – gleiche Likörchen, oder wie wir das anders benennen: Büksken en Börstken – een Körstken.«

»Schon möglich,« bestätigte Frau ten Hompel, »und nu möchte Sie wohl gerne, daß ich Ihr so'n kleines Anisettchen spendierte?«

»Silke, salke, sente –
Der da gibt Präsente!«

stimmte die Babbeltjes-Lena zu, wischte sich über das blanke Gesichtchen und ließ sich in die Gute Stube nötigen, um dort so ein ganz minimales Schnäpschen hinter ihren gehäkelten Seelenwärmer zu gießen.

Und Madam Mömmes?! – Arglos saß sie mit ihrem Strickstrumpf vor der Haustür und sah wie der Deichgräf vorbeiging.

»Der geht nach dem Fingerhutshof,« meinte sie in tiefer Betrachtung. Etwas wie Mitleid regte sich im Busen der würdigen Dame.

»Heute rot – un morgen vor die Assisen in Kleve,« sagte sie tonlos, schüttelte traurig den Kopf und sah in den Abend hinaus, der bereits in den gegenüberliegenden Fenstern blinkte und sich anschickte, langsam über die müde Erde zu kriechen. Nur kurze Zeit hatte die untergehende Sonne am tiefen Horizont gestanden. Dunstige Schleier deckten sie wieder zu, bevor sie noch schlafen gegangen. –

Jenseits des Fingerhutshofes rauschten die Kornfelder durch den sinkenden Abend. Es war alles so deutlich! – Die einzelnen Ährenstimmchen drangen bis in das stille Gehöft, wo sich Ignaz Kerkhoff damit beschäftigte, Geschirr und Schäschen zu säubern, in dem morgen seine Herrin nach Kleve und vor das zuständige Gericht fahren sollte.

Ignaz hatte seine eigenen Gedanken beim Putzen. Die Arbeit ging ihm schwer von den Händen. Fast widerwillig fügten sich die einzelnen Geschirrteile den klobigen Fingern. Als er fertig geworden, querte Gert Liffers den Hof, fragte nach Aleit und ging ins Herrenhaus, um nach wenigen Minuten wieder mit ihr ins Freie zu treten. Beide gingen den Wiesen zu, wo bereits die Nebel stiegen und alte Weidenköpfe bei den Wassergräben gespensterten

Mit einem gewissen Unbehagen sah ihnen der Knecht nach.

»Merkwürdig wie so alles gekommen!« knurrte er die Worte in sich hinein. »Threschen ist tot, der Baas ist tot, und nu soll sie sich selber noch auf ihrem eigenen Grund und Boden festschwören. Kapier' es, wer's will, ich kann's nicht kapieren.«

Schwerfällig wiewackte er dem Pferdestall zu, leitete den Rotschimmel heraus, den er für die morgige Fahrt bestimmt hatte, und bearbeitete ihn mit Kartätsche und Striegel. Unruhig wieherte das Tier in Richtung des Weges, der am Totenwasser vorbeiführte.

»Glaub's schon, glaub's schon!« strich er mit der Hand über die Kruppe des Pferdes, »hast es ja auch nicht pläsierlich auf Erden. Bist mit dem Baas ins Vorwerk gefahren, warst mit dabei, als sie Threschen begruben – und morgen . . .«

Ignaz schluckte die letzten Worte herunter. »Aber – Gottverdorie noch mal! – es düstert und donndert. Mit 'ner Wagenrunge sollte man der ganzen Erbschaftspackage die Schädel verkloppen.« Er stieß einen tierischen Laut aus und striegelte weiter. – – – – –


Immer intensiver rauschten die Ährenfelder herüber; die Stimmen des Abends waren lebendig geworden. Eine warme, treibende Sehnsucht lag ob der Erde gebreitet – und wie zwei Schatten gingen Gert und Aleit durch die dampfenden Wiesen.

Er hatte den Arm um ihre Hüfte geschlungen; ihre Hände hingen lässig herab. Sie glich einer Kranken bei klarem Verstande, die mit dem Leben abgeschlossen hatte, und nicht begreifen konnte, warum sie immer noch lebte. Gert sprach in abgerissenen Sätzen auf sie ein. Sie hörte kaum, was er sagte und folgte willenlos, wohin er sie führte. Jetzt blieben sie stehn und schmiegten sich eng aneinander. Das weltferne Rauschen verlor sich; die Stimmen des Abends verzitterten allgemach, als wollten sie die Andacht der beiden einsamen Menschen nicht stören.

So standen sie lange. Die große Stille, die sie umgab, war noch fühlbarer geworden. Nichts als der keuchende Atem des Mannes ließ sich vernehmen. Langsam fuhr er sich mit der Hand über die Stirne, als wolle er die fürchterlichen Gedanken, die in ihm waren, verscheuchen. Sie fühlte die brennenden Augen, die über ihr standen.

»Was hast Du?« fuhr sie schaudernd zusammen.

»Denke an morgen.«

»An morgen – wo sie mich kreuzigen wollen . . .«

Sie stieß einen gellenden Schrei aus und umschlang ihn so plötzlich, daß ihm der Atem versagte. Alles stand vor ihr in entsetzlicher Klarheit: das Vergangene und die kommenden Tage.

Das Schluchzen – das herzzerreißende Schluchzen, das kein Ende nehmen wollte . . .!

Sie preßte sich an ihn, als fürchte sie, ihn zum letztenmal im Leben so umarmen zu dürfen. Zitternd tastete sie nach seinem Gesicht, zog es nieder und küßte mit verzehrenden Lippen.

»Gert, ich kann ja nicht anders – erbarme Dich meiner . . .

Da bog er ihren Kopf zurück und sah ihr ins Auge.

Große Tränen standen in ihren ersterbenden Blicken.

»Und Du willst nicht hingehn?« fragte er mit zerrissenen Lauten.

»Ja – ich will hingehn.«

»Mit mir?«

»Ja – mit Dir will ich hingehn,«

»Und da willst Du vor Gott und Deinem Gewissen . . .

Entsetzt sah sie ihn an, und ein wehes Staunen, das ihm die Seele durchschnitt, ging über ihr Antlitz,

»Ich meine, ob Du vor Gott und Deinem Gewissen . . .

»Gert, aber die Menschen . . .

Er hörte die Angst durch ihre zitternde Stimme,

»Alles zerstört und vernichtet,« stammelte sie aus gemartertem Herzen, nicht wissend mehr, was sie eigentlich sagte und wollte. »Wie sie mich ansehen – die furchtbaren Menschen! – Wie sie auf mich zeigen mit ihren schmutzigen Händen! – Bin ich denn wirklich so verdammenswert und schuldig geworden?! – Ja, ich will hingehn; aber ich steige nicht den Kalvarienberg hinauf – und das Station um Station und Stufe für Stufe.«

»Du willst nicht?«

»Nein – ich lasse mich nicht kreuzigen.«

Beide Hände stemmte sie gegen seine Brust, als wollte sie sich seinen Armen entwinden.

»Laß mich los, oder rette mich vor der gierigen Schande! – Sie greift nach mir, sie lacht über mich, sie will mich haben – die Schande . . .

»Aber Du mußt.«

»Was?!« keuchte sie mit verhaltenem Aufschrei.

Eine fürchterliche Ahnung war in ihr.

»Gert – also das ist Deine ganze Liebe gewesen . . .

Mit einem dumpfen Laut war er ihr zu Füßen gefallen, umklammerte sie und wimmerte leise.

»Verzeih mir, verzeih mir . . .

»Du,« sagte sie mit tränenerstickter Stimme, »ich hatte geglaubt, Deine Liebe könnte Berge versetzen – und nun muß ich sehn, daß es Dir an Mut gebricht, das zu erretten und das zu erlösen, was Du in Schande gebracht hast. – Gert, das ist nicht die wahre Liebe gewesen.«

»Weib . . .!« kam es von seinen zuckenden Lippen.

Sie schüttelte wie mit stillem Vorwurf den Kopf und wußte: die Gegenwart hatte ihr nichts mehr zu bieten, das Vergangene war furchtbar gewesen und was kommen würde . . . Krampfhaft beugte sich ihr Oberkörper nach rückwärts.

»Gert,« meinte sie ohne jede Erregung, ohne Klangfarbe in der ruhigen Stimme, »Du hast alles genommen, was ich zu vergeben hatte – alles, und nun willst Du kommen und den hungrigen Menschen sagen: Seht, das ist das Weib, das sein Bestes vertan hat. – Nun hat sich erfüllt, was sich erfüllen mußte, denn alles auf dieser Erde drängt nach Vergeltung. Aber daß Du mich so gering einschätzest und nicht einmal den Mut hast . . . Ich kann es verstehen – aber es ist nicht die wahre Liebe gewesen.«

»Sie ist es!«

Wie im Wahnsinn war er vom Boden gefahren und hatte sie an sich gezogen.

»Ich will ja alles, ich tue ja alles! Ich will büßen – gutmachen – ich will Dich erretten . . .

Seine hervorgestoßenen Worte erstickten unter Tränen und Schluchzen.

»Du . . .

»Nein – Du wirst nicht gekreuzigt! – Du gehst nicht den Kalvarienberg hinauf – Stufe für Stufe . . .! – Ich will Dich erlösen« . . .

»Gert . . .

Ein Leuchten flog über ihr Gesicht. Die Lippen brannten; sie waren fiebrig geworden. Sie warf sich in seinen Armen herum und umklammerte ihn, als gälte es, ihn nicht mehr zu lassen.

»O – Du – Du – Du . . .

Nichts mehr in stiller Runde, als nur das Schluchzen zweier Menschen, die in verzweifelter Qual mit ungewissen Empfindungen rangen.

Und sie küßten sich, als wollten sie in ihrem Rausche vergehen.

»Und wir fahren noch heute nach Kleve – in sofortiger Stunde,« keuchte er zwischen ihren verzehrenden Küssen.

»Warum?« flüsterte sie in seiner Umarmung.

»Weil wir zusammen fahren, und ich nicht will, daß die Leute Dich sehen. Du kennst doch die gierigen Menschen.«

»Wie gut Du bist.«

»Willst Du?«

»Noch heute?«

»Ja – es muß sein.«

Sie stemmte sich gegen ihn, denn es war ihr so, als wenn eine unsichtbare Hand sie berührte.

»Was hast Du vor?!« rief sie mit flammenden Blicken.

»Dich erlösen,« sagte er mit erkünstelter Ruhe.

Da schmiegte sie lächelnd den Kopf an seine Brust, als hätte sie nun endlich den ersehnten Frieden gefunden.

Und wieder begannen die Ährenfelder zu rauschen, und wieder wurden die Stimmen des Abends lebendig, die in den Wassern gurgelten und in den betauten Halmen Zwiesprache hielten. –

Und sie gingen durch die Wiesen zurück, in denen sich die Nebel wie ein zartes Webewerk ausgelegt hatten, und dann durch den Garten, wo die Kartäusernelken dufteten, wo die Feuerbohnen blühten wie damals im kleinen Magistergarten, als sie beide noch Kinder gewesen.

Gert hatte Order gegeben.

»Merkwürdig,« sagte Ignaz Kerkhoff. Die Sache wollte nicht in seinen borkenrissigen Schädel hinein; er ging aber doch und schirrte den Rotschimmel.

Aleit befand sich bereits in ihrem Zimmer, um sich fertig zu machen; Gert war draußen geblieben. Alles Zeitmaß schien ihm abhanden gekommen. Er wußte nicht: waren es Minuten oder Stunden gewesen, seitdem er sich von ihr getrennt hatte. Seine Unruhe verstieg sich ins Ungeheuerliche. Er wagte es nicht, sich vom Flecke zu rühren; er schauderte vor seinen eigenen Schritten.

»Jedes Menschen Geschick muß sich erfüllen,« murmelte er vor sich hin, »dem einen früher, dem anderen später – aber es kommt totensicher gegangen. Vielen schlägt es zum Sieg aus. Ich bin nicht Sieger geblieben und verlasse den Kampfplatz.«

Er hatte fast mechanisch gesprochen und sah dem irren Schein der Laterne nach, der sich zwischen den Ställen bewegte. Verschüchtert gingen einzelne Mägde vorüber. Ab und zu ließ sich ein vages Klirren der Halfterketten vernehmen. Sonst war es still auf dem Hofe.

Der frische Duft des jungen Heues drang aus den Wiesen herauf und erfüllte alles mit seinen Aromen.

Regungslos standen die Bäume. Hinter ihren dunklen Massen breitete sich ein kaum wahrnehmbarer Schein aus. Der Mond schien im Aufstieg begriffen und sich mit schwachem Licht durch die dunstigen Schleier zu drängen.

Gert Liffers stand noch immer auf der nämlichen Stelle. Er hörte und sah nicht, was um ihn vorging, doch als es ihm allmählich klar wurde, als er sich vergegenwärtigte, was eigentlich kommen sollte, und daß die Stunde des Abschieds bevorstand, da erbebte er vor tiefem Weh, schlug sich die geballte Faust vor die Stirn und weinte bitterlich.

Die Minuten wurden zu Ewigkeiten und wollten kein Ende mehr nehmen – und dennoch war kaum eine Viertelstunde vergangen, als Ignaz mit dem bespannten Gefährt vor der Tür hielt, und zwei Wagenlaternen ihr grelles, abgegrenztes Licht über den Hof warfen.

Fast gleichzeitig war Aleit erschienen.

Sie schreckte auf und sah sich um.

»Mir ist es so, als wenn eine Orgel ginge.«

Sie glaubte wirklich einen brausenden Ton zu vernehmen.

»Das macht das Korn,« sagte Ignaz, »das der Wind gegen den Himmel bläst. Aber in vierzehn Tagen liegt's schon.«

Zögernd bestieg sie das Schäschen.

»Und es duftet so süßlich . . .«

»Das tut das Heu auf der Priesterkoppel,« entgegnete Ignaz und tätschelte die Flanken des Pferdes, das immer unruhiger wurde.

Gert hatte neben ihr Platz genommen und die Zügel ergriffen.

»Los!« gebot er mit herrischer Stimme.

»Immer rechts halten!« rief ihnen Ignaz noch nach.

Sie hörten es nicht mehr und kariolten bereits über den sandigen Weg, der vom Hof aus ins Freie führte und sich im feinen Nebel verlor.

»Vorwärts!«

Stieren Auges sah Gert in die ungewisse Ferne.

Ängstlich duckte sich Aleit an den Geliebten.

»Siehst Du dahinten . . .

»Was denn?«

»Wie das blinkert und blenkert!«

»Der Kolk . . .?!« rief sie schmerzlich.

»Ja – den hat der Dammbruch geschaffen.«

»Und da bist Du gekommen . . .«

»Bin ich gekommen, zu Dir – und wir waren allein und sind glücklich gewesen.«

»Gert . . .

»Aleit . . .

»Ach, Du – Du – Du . . .

Mit beiden Händen hatte er jetzt die Zügel ergriffen.

Er fuhr totensicher.

Da schlang sie beide Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.

»Ach, Gert – so mit Dir durchs Leben zu fahren . . .«

»Schön – was . . .?!«

»Ach, so schön – so schön . . .

»Und Du gehst mit mir, wohin ich auch gehe?«

»Wohin Du auch gehn wirst.«

»Überall?«

»Überall! – Mache mit mir was Du willst – nur lieben sollst Du mich immer und ewig.«

»Immer und ewig! – Küsse mich, Aleit.«

»Ach, Du . . .

Das Totenwasser leuchtete auf, und am Wasser – stand da nicht jemand, der wie gestern abend die Bibel emporhielt?!

»Vorwärts!«

»Rechts mußt Du fahren!«

»Nein – links; wir fahren zusammen!«

»Was tust Du?!«

»Dich erlösen . . .

»Gert . . .

Er hörte nicht mehr – aufrecht stand er und riß den Gaul in die Tiefe.

»Erfüllt . . .

Dann toste das Wasser . . .

Und über den Deich fort, weit, weit – war es nicht so, als wenn der Deichvogel riefe?!

Kaum hörbar, undeutlich, verschwommen klang es herüber: »Kiwi! – Kiwi! – Kiwi!«

Der Wind verwehte die Stimme.

Über der Tiefe war es ruhig geworden – so ruhig wie die stillen Menschen da unten.

* * *

Jetzt endlich, nach aussichtslosem Ringen, nachdem die armen Herzen nicht mehr wollten, wurde ihnen das Ersehnte. Auf der weiten Erde, die doch so groß und so schön ist und so voller Blumen, konnte es ihnen nicht werden, so eifrig sie es auch gesucht haben mochten. – Ein stiller Winkel, nicht größer wie zehn Schuh im Geviert und mit Gras überwachsen, gab es ihnen.

Jetzt liegen sie dicht nebeneinander. Requiescant in pace. –

Am Totenwasser steht schon seit langem ein einfaches Holzkreuz.

Die Jahre gingen – und die Windmühlen mahlten wie immer, die Menschen hantierten wie sonst, und die Wiesen schneiten ein und grünten dann wieder. Es nahm alles seinen geregelten Fortgang; der Lebende hat recht, die Toten werden vergessen, und die Erinnerung an die beiden unglücklichen Menschen rückte in nebelige Ferne; man dachte kaum noch an sie, als wären sie niemals mit ihrem Leid und ihrem Schmerz und ihrer großen und heißen Liebe gewesen. Aber der Viehweidshöfer vergaß nicht.

Und die Wasser kamen alljährlich und gingen alljährlich; allein sie nahmen keinen Sturmschritt mehr über die Niederung, sie verheerten nicht mehr und schreckten nicht mehr. Das mächtige Werk, das Gert Liffers seiner Heimat gegeben, gebot ihnen, so zu gehen, wie die Menschen es wollten und nicht mehr, wie sie selber es gerne getan hätten.

Das Land hatte Ruhe, und der Viehweidshöfer ließ sich vom Schulmeister im benachbarten Wissel einen steifen Papierbogen beschreiben, tat ihn unter Glas und Rahmen und hing ihn in seine Beste Stube auf, daß alle es sehen konnten, die ihn in seinen alten Tagen besuchten. Auf dem Bogen stand aber also geschrieben: »Gert Liffers, so hier Deichgräf gewesen, zum steten Andenken. Achtet und ehret den Mann, denn er ging durch Licht, wir aber gingen durch Wirrnis, da wir nicht hörten und sahen,«

Auch der Deichvogel vergaß nicht.

Jeden Tag geht er ans Totenwasser, wo das einfache Holzkreuz sich aufhebt. Regungslos steht er dann zwischen den Wiesen. Ein verwehter Schmerz spielt um seine verschrumpfelten Lippen: »Armer Gert, arme Aleit! – keiner weiß was, aber eins ist gewiß: Ihr habt nicht falsch auf die Bibel geschworen.«

Und dann treten ihm Tränen in die Augen, und er betet für beide.

Ich habe ihn öfters gesehen, wie er da stand und während der Dämmerung in den stillen Himmel hineinwuchs. Und ich mußte auch an die armen Menschen denken, die im Leben den Frieden nicht finden konnten in der eigenen Heimat.

Und dann war es Abend geworden – ein Abend am Niederrhein.

 


 


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