Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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V Bilder

Eine angenehme Kühle ging über die niederrheinische Stadt hin. Sie wehte von den nahegelegenen Wiesen und den spiegelglatten Wasserkolken herüber. Und dann: man wußte nicht, woher die plötzliche Stille kam, aber sie war da, sie schien so überraschend gekommen wie die Fledermäuse, die zuerst ohne jedes Geräusch den Armenhof und dann die alten Ziegelmauern des Rathauses umkreisten, sich drehten und schwenkten und nach fliegendem Nachtgetier durch die verschiedenen Straßen revierten.

Durch die hohen Linden vor dem Hause des öffentlichen Notars Johann Peter Gerechtsam gaukelte noch das letzte Gelb des ersterbenden Abends. Lautlos rieselten die überständigen Blüten der Lindenbäume zu Boden. Unter ihnen überzog sich die Erde mit einer rahmweißen Decke. Die Luft war ruhig; kein Blatt hatte den Mut, auch nur in Flüsterlauten mit seinem Nachbar zu plaudern. – Eine stille, eigentümliche Wehmut, wie sie sich zu gewissen Zeiten mit der dortigen Landschaft verbindet, lag auch heute über der kleinen Stadt, die schon längst ihr Tagewerk abgetan hatte und nunmehr sich anschickte, friedlich und ruhig in die Schattenwelt des Traumes hinüberzuduseln.

Es mochte gegen neun Uhr sein.

Nur hin und wieder flämmelte ein Licht aus den geöffneten Fenstern. Die lauliche Frische hatte alle nach draußen gelockt – und nun saßen sie da: Handwerker und Ellenkrämer, Gastwirte und sonstige Leute, erzählten sich die Tagesneuigkeiten, politisierten, besprachen die Notlage, die unbedingt eintreten mußte, wenn das Projekt der Eisenbahnlinie zwischen Wesel und Boxtel nicht perfekt werden sollte, und schätzten den Verdienst ab, den sie im Laufe der heutigen Geschäftsstunden eingeheimst hatten. Die meisten saßen hemdärmelig, hatten ihre Tuchmützen nach hinten gerückt und ließen sich von dem Rauch ihrer Kalkpfeifen umspielen. –

Auf der einen Schmalseite des Großen Marktes erhoben sich zwei stattliche Kugelakazien. Hinter ihnen duckte sich ein proper gehaltenes Häuschen. Seitwärts der doppelschlägigen Tür befand sich ein Auslegefenster. Hanfseile, zu dicken Würsten übereinander gerollt, Gurten aus Flachswerg, Sackband in allen nur möglichen Sorten, Bindfadenknäuel, Zugstränge und farbige Schnüre standen oder hingen einträchtig hinter den Scheiben, deren Breite kaum genügte, all' diese Dinge in die rechte Beleuchtung zu stellen.

Eine brennende Petroleumlampe mit grünem Blechschirm schwebte über der geräumigen Theke, hinter welcher sich ein schon betagtes Männchen damit vergnügte, den tägigen Erlös des Geschäftes nach Münzsorten zu ordnen und diversen hölzernen Schalen einzuverleiben. Trotz seines Alters und der rotgrauen Haare, die den Hinterkopf nur spärlich und sardellenartig bedeckten, schob sich dennoch aus der bärtigen Halskrause ein recht pfiffiges Gesicht vor, das in seiner Verschlagenheit unwillkürlich an die Physiognomie eines Fuchses erinnerte. Es war Sommerzeit – allein, was wollte das für Krispinus van Bommel besagen?! – Die Hitze hatte allerdings nachgelassen; von fünfundzwanzig Grad im Schatten war das Thermometer auf achtzehn gefallen – und dennoch: Krispinus van Bommel fröstelte immer. In einen etwas schäbigen Wintermantel gehüllt, ließ er die fettigen Geldstücke durch die dünnen Finger gleiten, ordnete pflichtgemäß seine Silber-, Nickel- und Kupferbrigaden, hoppelte fröstelnd auf den Füßen herum und ließ die Münzen in die bereit gestellten Holzbecken hüpfen.

»Een en twentig, twee en twentig, drie en twentig . . .« zählte der Alte. Er schien heute mit einem guten Tag abgeschlossen zu haben, denn die Sache fluschte man so; die Arbeit wollte kein Ende nehmen, und immer selbstgefälliger ging ihm die Manipulation des Geldsortierens von den Fingern herunter. Man sah es ihm an: Krispinus van Bommel war bewandert in derlei Geschäften.

»Acht en negentig, negen en negentig – hondert! – Stimmt!« sagte der Zähler, verschloß die Kasse und drehte die Petroleumlampe herunter; dann griff er nach seinem niedrigen Filzhut, blieb noch, bis der Docht mit einem ängstlichen Puffen verlöschte – und begab sich nach draußen. Mit seiner haspeligen Hand, die immer nach etwas zu tasten schien, zog er die niedrige Tür hinter sich zu, setzte sich auf die seitwärts der Schwelle stehende Holzbank und schlug die dürren Beinchen übereinander.

Jenseits des gewalmten Rathausdaches zuckte in diesem Augenblick eine bläuliche Helle. Fast gleichzeitig leuchteten die gegenüberliegenden Häusergiebel an ihren höchsten Spitzen auf und ließen das auf ihnen haftende Licht immer tiefer herabgleiten. Von hier aus kroch es langsam über den Boden, spielte um Krispinus van Bommel und bedeckte schließlich den Marktplatz. Der einsame Mann schreckte unwillkürlich zusammen. Es kam ihm draußen so kalt vor. Was konnte man hier in der kühlen Nacht nicht alles bekommen: Schnupfen, Heufieber – und die verteufelte Grippe! – und er war doch nicht mehr wie in früheren Jahren, wo er als junger Mann auf der Reepschlägerei stand und so kräftig mit den starken Schiffstauen hantierte, daß die lustigen Weibsbilder sich höchlichst darüber verwunderten, was er für ein begehrenswerter und munterer Kerl sei. Damals hätte er nur zugreifen brauchen; an jedem Finger bammelte ihm so ein kerniges Weibsstück: rote und braune und solche, die Haare wie Roggenstroh hatten. Er scharwenzte auch mit ihnen herum, ließ auf Kirmes manch lustigen Heller springen, hatte auch sonst seine Heimlichkeiten, die niemand etwas angingen – aber heiraten, wirklich heiraten vor Standesbeamten und Pfarrer . . .! – Krispinus hatte doch auch seine Bibel gelesen; er hielt es mit dem Apostel Paulus, der der Überlieferung gemäß ein äußerst vernünftiger Herr gewesen sein mußte, und dieserhalb meditierte er damals auch im Sinne desselben: »Ein angetrautes Weib schenkt Kinder und Flöhe, Kinder und Flöhe bringen Sorgen zuwege, und Sorgen machen den feinsten Beutel zunichte – also fort mit Trauring und Weib und Kaninchenstall!« – und dementsprechend hatte er auch gehandelt, hatte stets sein pfiffiges Fuchsgesicht aufgesetzt und war bis auf den heutigen Tag ledig geblieben. –

Klar und deutlich trug die Stille des Abends die abgemessenen Schläge der Rathausuhr herüber. Dreimal holte der Klöppel zum Schlag aus.

»Schon ein Viertel nach neun,« sagte der Alte, erhob sich, zog die Schöße seines Paletots enger zusammen und gedachte, wieder in seinen düsteren Hausflur zu schlüpfen, als er ein helles Lichtchen bemerkte, das etliche Schuh hoch über dem Pflaster schwebte und in schneller Gangart auf ihn zusteuerte. Ein markanter Schein tänzelte als Spitzenreiter über den Boden.

»Das ist ja . . .! – He, Freundchen! – Freundchen!« schrie der Alte mit seiner krähenden Stimme.

»Ah, schönen guten Abend, Mynheer van Bommel!« rief ihm Petrus Nagel entgegen, bremste ein wenig und sprang dann mit einem kecken Salto mortale und seiner brennenden Pfefferrohrpfeife vom Fahrrad.

»Zackerzucker – wohin denn so spät noch?!«

»Nach Schweinem – so 'n kleines Karambolagepartiechen verlieren!«

»He, Freundchen! – Freundchen! – bei Ihm scheinen auch die Taler nicht alle zu werden?!«

»Dazu langt es noch immer; man kann doch die Speziestaler nicht knappen!«

»Schlechte Zeiten, miserablichte Zeiten . . .

»Und dabei sitzt Er in der Wolle bis über die Ohren. – Immer das alte Lamento!«

Der Spezereihändler war näher getreten.

»So im Vertrauen, van Bommel: sei Er mit von der Partie. Sein Herr Neffe ist auch da.«

»Der Barthes . . .?!«

»Natürlich – auch Knippscheer, der Herr Sekretarius Knippscheer will kommen! – Und wenn der Donnerjü zur Partie invitiert – dann geht das nicht anders: holla, Markör, 'ne Bouteille ›Schwart Water‹! – Hals muß sie geben.«

»Auch zwei – auch drei!« krähte der Alte und rieb fröstelnd die Hände zusammen.

»Also . . .

»Ich komme.«

»Bong!« lachte der Spezereiwarenhändler, schwang sich wieder mit seinem Pfefferrohr in den Sattel und strampelte weiter.

»Bis später!« rief er zurück.

»Bis später,« sagte Krispinus und folgte langsamen Fußes dem eiligen Lichtschein, der hopsend die breite Kesselstraße entlang fuhr. Vor ihm lief sein eigner Schatten. Grinsend sah ihm der Mond nach. Er machte genau so ein Fuchsgesicht wie der einsame Schleicher.

Die helle Rüböllaterne über dem Aushängeschild ›Zum goldenen Anker‹, in welchem Karl Schweinem schon seit vielen Jahren eine rentable Ausspannung und Wirtschaft betrieb, winkte aus der Ferne herüber. Vor der Tür hielt ein offenes Schäschen, vor dem ein Brabanter Rotschimmel geschirrt war.

Als der Alte die Höhe der Wirtschaft erreicht hatte, klang ihm das eigentümliche Geketsche von Billardkugeln entgegen. Auch etliche laute Stimmen ließen sich in der ersten Etage vernehmen. Gleichzeitig machte das Schäschen mit dem Rotschimmel kehrt und ratterte in entgegengesetzter Richtung des Angekommenen vorwärts.

Krispinus van Bommel kannte das leichte Gefährt. Es war seinem Neffen, dem Fingerhutshöfer, zu eigen.

»Der Donnerjü ist schon da,« sagte er leichthin. »Gottverdomie! – prompt wie immer, wenn's drauf ankommt, 'ne Buddel mit Rotspon zu stechen. Schönen guten Abend, Herr Schweinem!«

»Gleichfalls, Krispinus!«

»Danke.«

Schlenkerbeinig, mit einem goldgestickten Troddelmützchen angetan, dessen unterer Rand fast die Nasenwurzel berührte, unterm rechten Arm zwei Flaschen mit Rotwein, unterm linken dito, invitierte ihn der biedere Gastwirt näher zu treten.

»As't üh belieft, Mynheer van Bommel – ich bitte nach oben. Sie warten schon alle.«

»Freundchen! – Freundchen!« schrie Krispinus in seiner höchsten Fistelstimme, »er will wohl mit seinen Bouteillen zu's Ewaldi-Kegeln mit Hurra und Vivat?!«

»Je, Mynheer van Bommel, wenn der Donnerjü vorfährt . . .«

»Supsack!« erklärte das verhutzelte Kerlchen, schüttelte beifällig mit dem Kopf und knarrte die ausgetretenen Treppenstiegen hinauf.

Hinter der ersten Biegung verschwand er.

Gleich darauf klang ein wüstes Lärmen von oben.

»Vivat, Krispinus! – Vivat, Krispinus!«

Eine Stimme wies eine besonders brutale Klangfärbung auf. Sie gehörte dem Donnerjü, dem Besitzer des Fingerhutshofes. Dann wurde oben die Tür zugeschlagen – und wiederum ketschten die Billardkugeln zusammen. – – –

Schon eine Stunde vorher, als der Mond noch wie eine kaum sichtbare Scheibe am tiefen Himmel stand, war Gert Liffers nach Hause gekommen. Heute hatte er die verschiedenen Balkensiele in der Nähe der Gipkeskat und die unter die Gerechtsame der Deichverwaltung fallenden Wiesenkomplexe besichtigt. Das Gras stand prächtig und reifte mit überlangen Rispen und Ähren dem zweiten Schnitt entgegen. Er hoffte durch den Verkauf ein Erkleckliches für den städtischen Säckel herausdividieren zu können. Er überschlug dieses und jenes, machte Pläne für die Zukunft und, so in Gedanken befangen, ging er schließlich auf großen Umwegen dem stillen Garten zu, wo die dunkelgrünen Lebensbäume standen, und wo so viele ruhten, die er noch von Angesicht zu Angesicht gekannt haben mochte. Vor manchem Kreuz blieb er stehn und las die Inschriften, die alle zu entziffern ihm aber nicht mehr gelingen wollte. Regen und Schnee hatten gehörig aufgeräumt; viele Buchstaben waren verwaschen, und etliche vom morschen Holz gleichsam eingeschluckt worden. Vor einem Kreuz aber kniete er nieder und küßte die aus dem Senkel geratenen Scheite. Seit seiner Bestallung war er schon zum dritten Male an dieser Stätte gewesen. Seine Mutter hatte hier ihre letzte Ruhe gefunden. Er blieb länger als sonst, denn heute jährte sich der Tag, wo vor soundsoviel Jahren ihr liebes Herz nicht mehr wollte. Die Sonne stand bereits als blutrote Kugel jenseits des Friedhofs, da er aufstand und sinnend nach Hause ging. Seine Schuhe waren bestaubt, sein Geist war müde, und die Fledermäuse hatten schon längst ihre Flugkünste aufgenommen, als er dort ankam. Im Häuschen war's totenstill, so still wie unter dem Bahrtuch, denn die Laken-Sophie wartete im Armenhof noch immer auf den großen Moment, wo die dicke Lisbeth in einem feurigen Wagen wie Elias gen Himmel fahren sollte. – Träumerisch setzte sich Gert Liffers an das geöffnete Fenster, stützte den Kopf in die Hand und sah auf die dunklen Lindenkronen, die betäubend ihre warmen Düfte verstreuten. Eine narkotische Welle folgte der anderen. Das süße Arom drückte ihm die Augenlider nach unten. Er hatte das unbestimmte Gefühl dabei, als wenn ihm eine kühle Hand über Wangen und Stirn führe, als wenn ein Gazevorhang ganz allmählich niedersänke, der alles verschleierte und ihm die gegenwärtigen Dinge entrückte. Aber die Vergangenheit schlug die Augen auf – die Kinderaugen mit dem seligen Lächeln. Längst vergessene Bilder rangen sich aufwärts; sie wurden klarer und größer, selbst die subtilsten standen in Nadelschärfe vor seinen geistigen Blicken. Er sah sie nicht mehr mit seinen jetzigen Augen an. Sie kamen ihm anders vor, so ganz anders – aber das wußte er, so hatte er sie einmal früher, in seiner Jugend gesehen. Etliche davon waren ihm bereits vor wenigen Tagen auf dem Leedeich begegnet. Allein die meisten fehlten ihm damals; sie wollten nicht aus ihrem Versteck heraus und scheuten das Taglicht.

Jetzt aber reihten sie sich wie Kettenschaken zusammen und zogen scharf umgrenzt an seiner Seele vorüber. Sie folgten sich wie die wechselnden Figuren in einem Kaleidoskop: heitere, traurige und solche, die lächelnden Mundes eine Träne zerdrückten. Auch in seinem Inneren hatte sich vieles geändert; er fühlte nicht mehr so, wie er noch vor wenigen Augenblicken gefühlt hatte – und er selber, die äußere Erscheinung, der ganze Mensch . . . Er war nicht mehr der Deichgräf Gert Liffers von eben. Er kam sich so klein vor, so zwergig; er kroch förmlich in sich hinein, wurde hilflos und liebebedürftig und sah sich schließlich als Kind neben seiner Mutter stehn, die an einer Waschbütte hantierte und verloren den schwarzen Vögeln folgte, so über sie fortflogen, immer weiter und weiter, bis sie schließlich im sanften Duft des Abends wie schwache Punkte zergingen.

Er liebte seine Mutter vor allen anderen Menschen, ja mehr wie den Schutzengel, der allabendlich vor seinem Bett stand, ihn beschützte und einschlafen ließ, denn sie gab ihm alles, was sie zu geben vermochte, allein Geduld und Gottvertrauen mußten öfters die frischen Brotschnitten und die warmen Decken ersetzen. Außer seiner Mutter stand ihm der Kiwi am nächsten. Wenn er nicht auf seiner schwarzen Schiefertafel herumkratzen mußte, war er zwischen den Wiesen, hörte zu, was ihm der Deichvogel erzählte, und sah die Kiebitze fliegen. Und der Kiwi sagte ihm auch, daß seine Mutter einmal so hübsch gewesen sei wie 'ne richtige Heilige. Als er sie daraufhin ansah, da fand er, daß sie, trotz ihres verhärmten Gesichtes, noch immer so schön war wie die Mutter Gottes in Sankt Nikolai. Sie hatte dieselben Augen und dieselben Goldflechten wie jene. Mit diesem beseligenden Gefühl in der Brust war er fast siebenjährig geworden, und da erfuhr er eines Tages vom Deichvogel, daß sich bei seiner Mutter eine Änderung anbahnen würde. Es waren nur geheimnisvolle Andeutungen, die darauf hinzielten, daß er es von jetzt an gut haben solle – besser denn früher. Freudestrahlend ging er nach Hause. Vor der Schwelle steckten bereits die Nachbarsleute die Köpfe zusammen, und als er hineinging, da stand der Küster Adam Rüttjes im Zimmer und tat so freundlich und vertraut mit ihm, als wäre das schon immer so gang und gäbe gewesen.

Er kannte den Mann von der Kirche her, wenn dieser in seinem schwarzen Gehrock und dem schwarzen Stock, an dem sich eine brennende Schnur befand, so äußerst feierlich und gemessen auf dem Hohen Chor einherstolzierte, um dort die schwindsüchtigen Flämmchen auf die langen Kerzenschäfte zu setzen. Der Mann hatte soviel Liebe im Herzen und soviel Geduld auf den Lippen – allein der kleine Gert konnte sich nicht helfen: ihm gefiel das Gesicht nicht, das so glatt wie 'ne Eierschale war, an die Farbe von Wachs erinnerte und nur an den Stellen, wo das Schermesser täglich seine Schärfe ausließ, in einer zartbläulichen Tönung erstrahlte. Bei vielen herrschte indes die Ansicht vor, daß der Herr Küster Rüttjes mehr wie passabel aussähe, sogar Anspruch machen könne, für einen hübschen Mann gehalten zu werden, der das Herz auf dem rechten Fleck trage und wahrhafte Frömmigkeit mit gerechter Strenge verknüpfe. Man sah ihn nie ohne Rosenkranz. Selbst auf seinen einsamen Spaziergängen trug er ihn bei sich. Auch heute war die Schnur um seine rechte Hand gewickelt, und als er sie ihm mit einem wohlwollenden Lächeln hinreichte, fühlte der kleine Gert die Pockholzkügelchen an seinen ängstlichen Fingern.

Eine bange, beklommene Traumwelt hatte sich seiner bemächtigt. Er wußte nicht warum, merkte aber trotzdem heraus, daß sich etwas begeben habe oder noch begeben würde, das mit seinem Innersten in direktem Widerspruch stände. Er glaubte ein Stück seiner Mutter verlieren zu müssen; schließlich war es ihm so, als hätte er sie schon gänzlich verloren.

»Wir wollen Freundschaft halten, mein Junge,« sagte Adam Rüttjes. Die Stimme suchte einen möglichst heiteren und vertrauenerweckenden Ton anzuschlagen. Es gelang ihr auch vollkommen, trotzdem sich etwas Fettiges, Salbungsvolles mit einmischte.

»Und er wird nun Dein Vater werden,« sagte die Mutter, »und ich hoffe, daß Du ihm ein guter Sohn wirst und ihn lieb hast, wie Du es allzeit mit Deiner Mutter gehalten.«

Der kleine Gert sah sie mit großen Augen an. Die Tränen standen ihm näher wie alles andere.

»Das wird er schon,« bestätigte der Küster, »er wird fleißig lernen und die Gebote des Herrn befolgen, damit er so werde wie ich, ein Diener des Allerhöchsten, dem die große Gnade zuteil wurde, immer dort verweilen zu dürfen, wo ihn der Odem des lieben Gottes umfächelt. – Nicht wahr, meine teure Marie, so soll es werden,« und er legte sachte die Hand mit dem Rosenkranz um die noch immer schlanke Taille des kaum dreißigjährigen Weibes.

»Adam, das gebe der Himmel!« sagte sie schüchtern und versuchte durch eine unauffällige Bewegung aus der Umarmung und dem Banne der Pockholzperlen zu kommen.

Hierauf sprachen die beiden lange und flüsternd zusammen und bemerkten es nicht, daß der arme Gert hinausgegangen war und dann wie gescheucht über die Straße davonlief, dem Deich nach, immer weiter und weiter, bis er an das kleine Haus mit den hängenden Ziegeln kam, wo der Deichvogel wohnte.

Wie konnte nur der fremde Mensch seine Mutter berühren! – Er sah das Gesicht des Küsters mit seinen glattrasierten Backen vor sich und die blutleeren Lippen mit all der Liebe und der fetten Gnade darauf . . .

Er wußte nicht mehr, was er sagte und wollte, aber das wußte er: an diesem Nachmittage hatte er sich bitterlich ausgeweint am Herzen des Kiwi – und die Schwalben hatten so traurig gezwitschert, so traurig und seltsam . . .

Etliche Wochen später saß der kleine Gert Liffers mit seiner Mutter im Küsterhause. Mit der Giebelfront ging es nach der Kirche hinaus, dem Hof zu aber besaß es ein Gärtchen, das mit dem des Schulmeisters Jakob Hemskerk zusammenstieß. Die Hochzeit hatte im Juli stattgefunden, ohne lange Präliminarien, ohne Reden und Festessen, nur so ganz in der Stille, denn die junge Frau hatte noch niemals ein Kränzlein getragen, sie durfte es nicht, weil ihrer Vergangenheit etwas Meltau anhaftete, und alle Leute waren des Lobes voll über Adam Rüttjes, der es in seiner christlichen Nächstenliebe vermocht hatte, eine ›Solche‹ vor den Altar Gottes zu führen und zu seinem Weibe zu machen. Ja, dieser Mann hatte die Sanftmut der Tauben und die Milde des Erlösers in Pachtung genommen – sonst wäre ja auch sein Verhalten ein Unding und nicht zu erklären gewesen. Sie bedachten allerdings nicht, daß die nunmehrige Frau Rüttjes noch immer Reize besaß, wie sie nicht häufig vorkommen bei Menschen ihres Standes und Schlages. Ob daran der brave Küster gedacht haben mochte?! – Kaum glaublich! – Adam Rüttjes, so erklärten die Leute, wollte weiter nichts, als eine christliche Folie für sein späteres Leben – und sie hatten zudem noch die Großmut, der armen Marie das ihr so unerwartet in den Schoß gefallene Glück wirklich und so von ganzem Herzen zu gönnen. – Nun hatte auch der kleine Gert einen Vater gefunden, nun stand ihm eine prächtige Zukunft offen, und er brauchte nicht mehr hungrig zu Bett zu gehn, wenn der Küster mit gefalteten Händen das Turmportal betrat, um den ›Engel des Herrn‹ zu läuten. Allein der kleine Gert dachte gar nicht an eine prächtige Zukunft; er brachte es nicht einmal über sich, seinem Vater freundlich zu kommen, sondern schauderte immer, wenn dieser das Zimmer betrat und mit frommen Augen über die schöne Gestalt seiner Frau langsam hinwegstrich, die gedrückt in der Ecke saß und zu allem ›Ja und Amen‹ sagte, was der Küster ihr vorhielt. – Mit heimlichem Grauen ging er stets an der kleinen Kammer vorüber, die sich rechts vom Flur befand und eine Art von Ladenlokal abgeben mußte, in welchem Dinge lagen und hingen, die eigentlich zu dem traurigen Pomp eines Begräbnisunternehmers gehörten. Neben seiner sprichwörtlichen Frömmigkeit besaß Adam Rüttjes nämlich auch noch eine äußerst praktische und merkantile Veranlagung, und er sah nicht ein, warum er diese ihm von Gott überkommene Befähigung nicht ausnutzen sollte. Auf diese Weise betrieb er denn noch, sozusagen im Nebenamt, ein lukratives Geschäft, das allerdings nur Kunden benutzten, die mit verweinten Augen kamen und gingen. Jedesmal, wenn die Tür zu diesem Ladenlokal aufstand, schreckte der kleine Gert unwillkürlich zusammen. Ein atembenehmender, warmer Geruch war mit diesem kleinen Raum verbunden. Es duftete nach schwarzem Krepp und Wachs und Tannenholz, untermischt mit den Ausdünstungen von Hobelspänen und Firnis. Und wenn er hineinsah . . . Da hingen und lagen so eigentümliche Sachen. Mit ihrer Dochtspitze nach oben bammelten lange, bleiche Kerzen von der weißen Decke herunter. Im Fenster waren wächserne Füße und Hände zur Schau gestellt, die bei Gelegenheit als Opfergaben benutzt wurden, und Schächtelchen mit Trauerbroschen und helle Beschläge von Zinn, die zur Verzierung der Särge dienten, und sonstige Gegenstände, mit denen man die Toten schmückte, wenn sie aufgebahrt wurden: wie beinerne Kreuzchen, Rauschgold, Wachsperlen und anderweitige Flitter. Eine schmale Stellage nahm die Hinterwand ein. Dort lagen schwarze Tuchstücke für Kleider, weiße Leinenballen und florige Stoffe aufgehäuft, deren Zweck nicht fraglich erscheinen konnte – und seitwärts davon . . . Adam Rüttjes hielt stets zwei von ihnen auf Lager, um für unvorhergesehene Fälle gerüstet zu sein und Auswahl zu haben. Ein dritter Sarg stand auf den beiden und paßte nur für ein Kind in mittleren Jahren. Gerade von ihnen ging der eigenartige und Atem benehmende, warme Geruch aus. Man konnte aber sagen, was man wollte – Adam Rüttjes war, außer seiner Eigenschaft als amtierender Küster, der beste Geschäftsmann.

Der kleine Gert hatte oftmals Gelegenheit, dieses beobachten zu können. Er tat's nicht gern; ein eisiges Frieren lief ihm stets über den Rücken; er hätte gehen können, allein er blieb und sah mit heißen Augen in diese Pompefunèbrestimmung hinein, wo sein Vater mit den armen Menschen verhandelte und Geschäfte abschloß, die nur darauf hinausliefen, die notwendigsten und allerletzten Dinge für einen wegemüden Erdenpilger zu ordnen. Und er sah die geröteten Augen der Überlebenden, die salbungsvolle Tätigkeit seines Vaters, der nicht müde wurde, mit dem ehrbarsten und mitleidvollsten Gesicht von der Welt die schwarzen Stoffe vorzulegen, ihre Vorzüge und Preislage in die rechte Beleuchtung zu stellen und es sich nicht nehmen ließ, höchst eigenhändig den leichten Krepp über die kräftigen Formen von leidtragenden Mädchen und jungen Frauen zu spreiten, um auf diese Weise Muster und Breite sachlicher beurteilen zu können. Alle Nebengedanken lagen ihm selbstverständlich bei dieser Manipulation so fern wie dem frommen Feldhasen energische Angriffsgelüste. Er hatte nur den Schmerz und die reelle Bedienung seiner Kunden vor Augen und wich nicht um Fingersbreite von dem schmalen Gewissenspfad eines verehelichten und christkatholischen Mannes. Und dabei saß ihm das samtne Küsterkäppchen so unschuldig auf dem Hinterkopf, und die schweren Lider fielen nach unten, und auf dem schwammigen Gesicht mit den bleigrauen Rasierspuren, das so glatt wie ein Ei war, brachen dann helle Schweißtropfen hervor, die unwillkürlich an die ausgeschwitzten Tropfen von frischgefirnißten Sargbrettern erinnerten, wenn die heiße Mittagssonne drauf kochte.

Trotz seiner tadellosen Wäsche und des blankrasierten Gesichtes schien er mit einer Sargatmosphäre behaftet, die auch dem ganzen Hauswesen anklebte, auf die Gemeinschaft des ehelichen Lebens einwirkte und die Seelenstimmung seiner nunmehrigen Frau sichtlich bedrückte, denn der kleine Gert fand sie oft, wie sie in einer verlorenen Ecke saß und leise vor sich hinweinte. –

In dieser Verfassung und still zusammengekauert sah sie eines Tages der Küster.

»Was hast Du, Marie?« fragte er sie mit seiner fettigen, aber ruhigen Stimme, indem er sich mit einem blaubedruckten Kattuntuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Du hast es doch gut hier?«

»Ich bin auch zufrieden,« meinte sie in ihrer geduldigen Wehrlosigkeit. »Aber der Junge . . .«

»Nun?«

»Du wolltest ihm doch Deinen Namen geben, wie ich auch Deinen Namen trage – und das wolltest Du, Deinem Versprechen gemäß, sobald wie möglich nach unserer Trauung besorgen.«

»Gewiß, aber mit diesem Versprechen war auch eine Klausel verknüpft, die diesbezüglich unbedingte Anerkennung der väterlichen Autorität anordnete, verbunden mit Fleiß und gutem Willen, auf daß mein ehrlicher Name . . . Allein dieser widerspenstige Bankert . . .«

»Adam . . .!« schrie das gequälte Weib auf.

»Vergib mir, Marie,« sagte der Küster, »wenn ich in meiner Erregung den wundesten Fleck Deines Lebens berührte, allein unter christlichen Eheleuten muß alles so lauter und klar sein wie das geweihte Wasser im Tempel des Herrn.«

Marie ließ weinend die Hände in den Schoß fallen.

»Aber der Herr Schulmeister Hemskerk . . .« sagte sie mit ängstlichem Flüstern.

»Was soll Hemskerk?« fragte der Küster.

»Ist doch zufrieden mit ihm,« wagte sie schüchtern vorzubringen.

»Ich aber nicht,« entgegnete er mit aller Bestimmtheit. »Er taugt nicht.«

Sie kannte den Ton nicht wieder. Alles Fettige und Salbungsvolle war aus seiner Stimme gewichen.

»Du wirst schon recht haben – schon recht haben,« meinte sie zaghaft.

»Marie, hegst Du etwa Zweifel an meiner Behauptung?«

»Nein,« schüttelte das arme Weib mit dem Kopf.

»Das ist mir lieb aus Deinem Munde zu hören, denn zweimal habe ich ihm bereits den Verkehr mit dem Kiwi verboten, und zweimal hat er es vorgezogen, diesem verwahrlosten Menschen zu geben, was seinem Vater gebührte.«

»Adam, er ist noch so kindlich . . .«

»Um so besser für ihn,« warf der Küster dazwischen, »weil ich noch Hoffnung sehe, das junge Stämmchen gerade zu biegen, und daher: wagt er es zum dritten Male – das Bürschchen . . .«

Sie sah ihm starr ins Gesicht. Was war das?! – Sie hatte als Wäscherin des Sonntags immer in einer dickleibigen Schrift gelesen, die sich ›Das Leben der Heiligen‹ betitelte. In diesem Buch war viel von Henkersknechten die Rede. Sie kannte deren Züge, denn was ihr das gedruckte Wort nicht sagte, das hatte sie in den widerwärtigen Holzschnitten gefunden – und so etwas, was diesen Leuten anhaftete, glaubte sie, wenn auch nur für eine Gedankenschnelle, in den Blicken ihres Mannes von neuem entdeckt zu haben. Allerdings, sie konnte sich irren – und sie war noch mit ihrer entsetzlichen Angst und ihren Gedanken beschäftigt, als sich die Tür öffnete und ihr kleiner Junge hereinkam, rotwangig und mit leuchtenden Augen.

Scheu wollte er an seinem Vater vorüber. Das Heitere in seinen Blicken verging, als er diesen bemerkt hatte.

»Wo warst Du?« fragte der Küster mit lächelndem Munde. Er lächelte wie einer, der sich bewußt war, ein angesehenes und verantwortungsreiches Amt zu bekleiden.

»Da draußen,« lautete die schüchterne Antwort.

»Bei wem?«

»Bei Ohm Kiwi.«

»Gert, Gert, Gert . . .!« wimmerte in diesem Augenblick seine Mutter.

»So!« meinte der Küster. Er hob seine schweren Lider; die Augen feuchteten sich und blickten auf die Straße hinaus, als wenn sie dort etwas zu suchen hätten. Er hatte also richtig vermutet. Allein seine Seele blieb heiter – heiter und duldsam. Das gehörte sich so, und er hatte seine innige Freude daran, daß er sich dieses würdige Zeugnis ausstellen durfte. Nur seine Gesichtsfarbe wechselte; sie ähnelte dem Kelch einer im Schatten gewachsenen Lilie. Adam Rüttjes Aussehn erinnerte an die Züge eines kevelaerschen Heiligenbildes. Es war die personifizierte Güte und Milde. Nur sein Weib dachte anders darüber; wider Willen mußte sie an die groben Holzschnitte denken – und da waren so infame Gesichter . . .

»Hm!« lächelte der Küster noch immer; er schien noch duldsamer, milder, wehleidiger denn vorhin geworden. Sein Antlitz glich nunmehr dem einer Nonne, nicht etwa dem eines Paters – nein, dem einer Nonne, die, unberührt von der Schlechtigkeit der Welt, fast ihr ganzes Leben hinter friedlichen Klostermauern verbracht hatte. Mit runden, gutmütigen Augen blickte er auf den kleinen, verschüchterten Jungen, der ängstlich an der Borte seines Kittels herumknabberte.

»Hm! – Du bist also wieder bei Ohm Kiwi gewesen?«

»Ja,« sagte der Knabe.

»Und warum bist Du denn zu ihm gegangen?«

»Weil ich das früher immer gedurft habe.«

»So!« machte der Küster und verzog keine Miene in dem friedlichen Antlitz, das an die Ruhe des Kirchhofs gemahnte.

»Mann, so komme doch, bitte, zu Rande!« kam es flehend von den bleichen Lippen des armen Weibes herunter.

Adam Rüttjes schenkte ihr keine Aufmerksamkeit.

»Und was erzählte der Mensch Dir?« wandte er sich wieder an den kleinen Verbrecher.

»Er erzählte vom lieben Gott, den Kuckucksblumen und dem bangen Herz, das immer im Deich klopft.«

»So – das erzählte der Mensch Dir! – Aber Du weißt doch, daß ich Dir verboten habe, ihn aufzusuchen und mit ihm zu sprechen?«

»Ja,« sagte der Kleine.

»Das weißt Du bestimmt?«

»Ja – das weiß ich bestimmt.«

»Und Du bist dennoch zu ihm gegangen?«

»Ja – ich bin dennoch zu ihm gegangen.«

»Warum denn?«

Die Blicke Gerts huschten scheu in die Ecke; dort suchten sie etwas.

»Nun?« fragte der Küster.

»Weil er meine Mutter so lieb hat.«

»So!« nickte der Mann mit dem Samtkäppchen. »Da siehst Du, Marie, was aus Deinem Pflänzchen geworden, was draus noch werden kann, wenn es nicht durch eine liebevolle Hand sorglich gestützt wird.«

Gewiß, die gesprochenen Worte trieften von einem gütigen Herzen, und dennoch: sie kamen wie giftige Fliegenpilze ans Taglicht.

»Allerhand Ungehörigkeiten,« ergänzte Adam Rüttjes mit Wärme, »die er seinerzeit auf sein Kerbholz genommen, hab' ich mit dem Mantel der Liebe umkleidet. Jetzt aber – Du wirst es mir doch zugeben, Marie – ist das Maß in empörender Weise übergelaufen, und Du wirst es nicht wollen, daß hier dieses Haus eine Wohnstätte der Immoralität werde. Er verdient Strafe – oder, Marie, bist Du anderer Meinung?«

»Nein,« sagte die Ärmste mit geröteten Augen, »er verdient es,« und biß die Lippen zusammen.

Über das würdige und feiste Gesicht ihres Gatten lief der Abglanz innerer Befriedigung und seelischer Freude.

»So gestattest Du wohl, daß ich mich mit Deinem Jungen für einen Moment absentiere? – Komm, mein Söhnchen.«

Die Frau war aufgestanden und sah ihn mit erstorbenen Blicken an.

»Was willst Du tun, Adam?!«

»Seine Seele läutern, Marie – aber nicht durch Schläge, weil diese mir ein unchristliches Erziehungsmittel bedeuten. – Junger Strick, wenn's gefällig ist – ich warte.«

Scheu, flehend, bittend gingen die Augen des Kleinen nach seiner Mutter hinüber.

Diese schüttelte weinend den Kopf.

»Es ist gut für Dich,« sagte sie tonlos. »Gehe mit Deinem Vater; es gereicht Dir und Deinem späteren Leben zum Besten.«

Heftig schluchzte sie auf.

Noch einmal glitten die Blicke des küsterlichen Biedermannes über das dünne Waschkleid und die schöne Gestalt eines Weibes, dann verließ er mit dem kleinen Gert Liffers die Stube.

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als er das jenseits des Flures gelegene Ladenlokal betrat und die Tür hinter sich abriegelte.

Der Küster schob das Samtkäppchen etwas nach rückwärts, zog ein Messer aus der Tasche und machte sich an zwei Wachslichtern zu schaffen. Fingerfertig drehte er von jedem ein Stümpfchen herunter und zwar derart, daß über je einer Wachsscheibe von kaum Oblatenstärke der Docht noch lustig emporragte. Die Brennzeit war somit nur für wenige Minuten berechnet. Die Sorgfalt, mit der er hierbei manipulierte und vorging, machte seinem abwägenden Geist alle Ehre; man sah es ihm an: das harmlose Spiel gefiel ihm, künstlich suchte er es in die Länge zu ziehen; sein Gesicht erheiterte sich, und eine infernalische Freude . . .

Ach, was! – der Mann hatte keine infernalische Freude, er hatte nur seine Schuldigkeit, seine verdammte Pflicht zu erfüllen, er hatte nur ein junges Menschenleben zu retten – und daher . . .

So! – endlich war er fertig geworden.

Ängstlichen Auges sah ihm der kleine Gert zu. Er dachte dabei fortwährend an seine Mutter. Aber was machte der Vater – was wollte der Vater?!

Das sollte jetzt kommen.

»Strecke die Hände!« gebot ihm der Küster, »und ich sage Dir, Du niederträchtiger Bankert, wenn Du nicht still hältst, nicht ruhig bist, nur mit der Wimper zuckst . . .«

Mit einer herrischen Gebärde stieß der salbungsvolle Halunke die Hand aus und deutete auf eine der duftenden Totenladen: »Dort hinein kommst Du, schläfst Du, bleibst Du – wenn Du nicht still bist.«

»Mutter . . .!« wimmerte das Kind und brachte die Händchen zur Seite.

»Höher! – So ist's richtig, mein Söhnchen!« und mit aller Gemütsruhe brachte der Küster die präparierten Stümpfchen an die richtige Stelle – je eines inmitten der Handflächen, zündete die Dochte an und begann eifrig zu beten.

Monoton hallten die gesprochenen Worte durch den kleinen Raum, der so dumpf sich anließ und nach Krepp und gefirnißten Tannenbrettern roch.

Die Flämmchen duckten sich immer tiefer und tiefer.

Und Adam Rüttjes stand dabei mit seinen verwässerten Augen, mit seiner Engelsgeduld in der Seele und der großen Liebe im Herzen. Er dachte nur an das christliche Heil des verdorbenen Kindes und betete immer lauter und lauter.

Die erste Minute war vorübergegangen.

Atemlos horchte die gequälte Mutter, im Zimmer über den Flur fort, auf das asketische Stammeln. Sie konnte ihr Grausen nicht los werden.

Die zweite Minute – die dritte Minute . . .

Jetzt schlug ihr ein unterdrückter Schrei entgegen, dem ein langes Wimmern folgte.

Das war die Stimme ihres Kindes gewesen. Sie wollte hinausstürzen, besann sich aber und ging langsam hinaus. Das Weib soll dem Manne Untertan sein . . .

Das wußte sie, das mußte sie halten – und als sie hinauskam, da trat der Küster aus der gegenüberliegenden Stube.

Er war friedlich, würdig, ruhig wie immer.

»Ich danke Dir, Marie,« sagte er mit schwerherabhängenden Lidern, »daß Du mir kein Hindernis in den Weg gelegt hast, und hoffe zu Gott, er wird sich des kleinen Sünders erbarmen.«

Hierauf nahm er den Schlüsselbund, der neben der Ladentür hing, ging ins Freie und pilgerte dem Turmportal der Kirche zu, auf seinem Wege die ihm begegnenden Leute in aller Feier begrüßend.

Ruhig schloß er das schwere Portal auf, ruhig ergriff er ein Glockenseil und begann in aller Ruhe den ›Engel des Herrn‹ zu läuten. Allversöhnend, erlösend, feierlich, zu allen Menschen sprechend, hallte der sanfte Ton der Angelusglocke über die Stadt hin. – – –

Was war das?! – Da mußte jemand ins Haus getreten sein! – Die Tür hatte geklinkt und war dann wieder mit ihrem eigenartigen Geräusch ins Schloß gefallen.

Der Deichgräf rieb sich die Augen. Er mußte sich erst zurechtfinden und fand nun, daß er geträumt hatte, aber was er geträumt hatte, das war einmal wirklich geschehen.

Noch lag ihm das Geläut in den Ohren, und er wähnte noch immer . . .

Die Laken-Sophie war von Lisbeth Mömmes gekommen.

Gert Liffers sah in den Abend hinaus. Über die gegenüberliegenden Lindenkronen rieselten schwache, silberne Lichter. Sie nahmen stetig an Helligkeit zu. Und als er auf die Straße hinaussah, da mußte es ungefähr um die nämliche Zeit sein, wo Petrus Nagel mit Krispinus van Bommel verabredet hatte, ein Billardpartiechen im ›Goldenen Anker‹ in die Wege zu leiten.

Es stimmte.

Und das Mondlicht küßte die Lindenblüten – und die Lindenblüten dufteten stärker – und der Deichgräf saß noch immer am Fenster und war wieder ein kleiner Junge geworden.

Und er sah sich im Magistergarten sitzen unter türkischen Bohnen – unter blühenden türkischen Bohnen. Und der Garten des Schulmeisters Hemskerk stieß an das Anwesen des Küsters. Gert hatte beide Händchen verbunden.

»Tag, Gert . . .!« rief eine fröhliche Stimme.

Und da kam so ein niedliches Mädchen gesprungen mit dunklen Augen und dunklen Haarschwänzchen im Nacken.

»Wo bist Du?«

»Hier bin ich!«

Und das Mädchen hieß Aleit.

* * *

Es war Sonntagnachmittag heute. Gert hatte sich in den Nachbargarten geschlichen, wo die Feuerbohnen blühten, und die Pfirsiche schon rote Backen bekamen. Dicht unter dem Magisterfenster schlug ein Buchfink, tiefer zwischen den Bäumen ein zweiter. In seiner Nähe erhob sich ein Teil der alten Stadtmauer, die an dieser Stelle das kleine Anwesen des Schulmeisters begrenzte. Jenseits floß ein langsames Wasser vorüber. Die nierenförmigen Blätter der Teichrose lagen auf der ruhigen Fläche und zwar so dicht aneinander gereiht, daß sie fast gänzlich den sonst so klaren Spiegel bedeckten. Ein leichter Brückensteg verband das schmale Türchen in der Stadtmauer mit dem jenseitigen Ufer. Von hier aus führte ein mit Erlengestrüpp bewachsener Pfad zu den Wiesen hinab, die sich fast unabsehbar erstreckten und ganz allmählich in den blauen Horizont übergingen. Großväterlich choralten die Frösche in dem ruhigen Wasser.

So ein kleines Stückchen Poesie war in den Magistergarten gefallen. Die Centifolien hatten allerdings ihren Flor schon beiseite gelegt; dafür aber blühte der Phlox, und ein verschwenderischer Duft ging über die Nelkenrabatten. Verschläfert fummelten die Bienen darüber hin; wie aus weiter Ferne hallten die Vesperglocken herüber.

»Da bist Du ja – Kuckuck!«

»Da bin ich.«

»Du wolltest doch gestern schon kommen?«

»Ich konnte nicht, Aleit.«

Das herzige Ding sah ihn erstaunt mit ihren großen Augen an, die so weich und dunkel waren wie die Frucht der Weichselkirsche.

»Und Du bist auch gestern nicht in der Schule gewesen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht konnte – ich durfte nicht schreiben.«

Jetzt bemerkte sie die verbundenen Händchen.

»Was hast Du?«

»Verbrannt.«

»Oh!« machte die Kleine und streichelte sacht über die Handflächen ihres lieben Gefährten.

»Am Feuer?«

»Nein.«

»Am Licht?«

»Ja – es werden wohl Lichter gewesen sein.«

»Tut's weh?«

»Jetzt nicht mehr, Aleit.«

»Was hat Deine Mutter gesagt?«

»Die hat geweint.«

»Wie lange?«

»Die ganze Nacht hindurch.«

»Und Dein Vater?«

Er gab keine Antwort.

»Nun?« fragte das Mädchen.

»Das weiß ich selbst nicht mehr,« meinte er zögernd, dann schwieg er und schlug die Augen zu Boden.

»Du willst es nicht sagen.«

»Ich darf es nicht sagen.«

»Warum nicht?«

Er verzog das Gesicht zum Weinen. Helle Tropfen liefen über die Wangen.

»Dir ist was angetan worden!« schluchzte die Kleine, nahm ihren Schürzenzipfel und wischte ihm die Tränen herunter. Hierauf schlang sie ihr rechtes Ärmchen um seinen Nacken und meinte: »Du darfst nicht weinen, denn wenn Du es tust, so muß ich auch weinen und immer dran denken. – Komm', Gert, wir wollen lieber an unserem Kaninchenstall bauen.«

»Ich kann nicht bauen,« sagte er traurig und hob die Hände nach oben.

»Dann wollen wir die Frösche bekucken,«

Und sie gingen durch das kleine Tor in der Stadtmauer, betraten den schmalen Brückensteg und besahen die Frösche, die zwischen Wasserlinsen und den Blättern der Teichrosen saßen, mit den Glimmeräugelchen gen Himmel blinzelten und verwundert in die Welt hinausschauten, deren Ferne so duftig dalag, als wäre der große Malermeister mit einem zarten Ton von Schmaltebläue darübergefahren.

Und dann gingen die beiden Kinder in die Wiesen hinein, die fast sonntäglich aussahen. Die Gräser flüsterten leise zusammen. Es war ein träumerisches Rascheln und Plaudern. Dazwischen gurgelten die Wässerchen, die sich unsichtbar unter den Halmen verliefen. In einer silberlichten Weide saß der ›Schulte von Bülow.‹ Als die beiden näher kamen, wellte er sich, einem safrangelben, bedachtsam geworfenen Federball nicht unähnlich, dem nächsten Erlenbestande entgegen. Von hier aus ließ er seine flötende Stimme vernehmen.

»Yo bülow! – Bier hol'n, aussaufen, mehr holen! – Yo bülow, yo bülow!«

»Gileo – bülow!« antwortete ihm der kleine Gert, »gileo – bülow! – Wir kommen!«

»Wer ruft da?« fragte das Mädchen.

»Der Willewal.«

»Den kenne ich auch,« entgegnete Aleit, »denn er ist so groß wie'n holländischer Kanarienvogel.«

»Größer!« versetzte Gert Liffers, »und er baut sein Nest ganz anders wie die übrigen Vögel.«

»Wieso denn?«

»Das hängt kopfüber-kopfunter vom Baum und sieht aus wie der Klingelbeutel, den mein Vater in der Kirche 'rumträgt.«

»Wer sagt das?«

»Der Kiwi.«

»Der weiß wohl alles – der Kiwi?«

»Alles,« bestätigte Gert und rief wieder dem schmucken Pirol zu: »Gileo – bülow! – Wir kommen!«

Und der Vogel antwortete ihm und jauchzte mit seiner Flötenstimme herüber: »Hast Du gesoffen – bezahl' auch, bezahl' auch! – Gileo – bülow!«

»Hast Du's gehört?«

»Ja,« sagte Aleit, »der pfeift ja so schön wie der alte Derkum, wenn er auf seiner Klarnette herumbläst!« und dann klatschte sie vor Lust in ihre patschigen Händchen, daß der goldgelbe Willewal auf- und davonflog.

»Gileo – bülow!« klang es aus der schimmernden Ferne.

»Da sitzt er!« meinte Gert, und die Kinder gingen ihm nach und sangen, wie sie durch die blühenden Halme marschierten, mit fröhlichen Stimmen:

»Krumme – krane, Willewale,
Welle met no England fahre;
England – dat es afgeschlote,
En de Schlötel afgebroke.
Welle ene neue make,
De sall segge: quieks!«

»Gileo – bülow!« antwortete ihnen der prächtige Vogel – und so, von duftenden Halmen umweht und unter heiterem Singen, waren sie auf eine sanftabgedachte Höhe gekommen, von der sich verschiedene Sommerdeiche abzweigten und ins Niederwild zogen. Akelei und Zichorienstauden bedeckten den Boden

»Hier ist's schön!« jubelte das Mädchen. »Jetzt kannst Du mir Pfeifchen aus Weidenholz machen.«

»Das geht nicht mehr,« meinte Gert Liffers, »die Zeit ist herum, denn die Stöckchen haben schon längst den Saft unter der Rinde verloren.«

»Dann hole mir Blumen; ich will Dir ein Kränzchen zurecht binden.«

Und Gert tat, was ihm Aleit geheißen. Mit geschickten Händen flocht sie Akelei und die blauen Kelche der Zichorie zusammen – und ihr Gesichtchen glühte dabei, und die dunkelbraunen Zöpfchen standen ihr wie zwei gedrehte Schwänzchen im Nacken. Und Gottes liebe Sonne war bei den Kindern und küßte ihnen Stirn und Wangen und die glücklichen Augen, in denen sich das niederrheinische Land widerspiegelte mit all seinem Zauber, mit all seiner Wehmut und all seinen Bildern, die der nur versteht, dem hier die Mutter das Schlummerlied an der Wiege gesungen. Es war einmal – und es ist schon lange gewesen! – Und Gert streckte plötzlich die Händchen und meinte: »Aleit, da sieh' mal!«

»Wo denn?«

»Da unten – da kommt die ganze Arche-Noah gezogen!«

»Ach, Du!« lachte die Kleine, »das sind Wolken, die überm Walde heraufziehn.«

»Wenn auch,« erwiderte Gert, »aber die erste sieht aus wie 'ne Schlange, und die wie 'ne echte Giraffe, und die wie so 'n Brummbär . . .«

»Stimmt schon!« jauchzte Aleit. »Jetzt seh' ich's auch – und Gott Vater sitzt in den Wolken und blitzt mit den Augen.«

»Nein,« belehrte sie Gert, »ich glaube, das wetterleuchtet da hinten.«

»Dann komm' mit nach Hause,« graute sich Aleit und erhob sich vom Boden.

»Brauchst keine Angst zu haben,« beruhigte sie ihr kleiner Beschützer, »das fängt erst an, wenn der Sandmann herumgeht.«

»Gert, woher kommen die Wolken, die so donnern und blitzen?«

»Aus dem Meere,« behauptete der Kleine mit aller Bestimmtheit.

»Wer sagt das?«

»Der Kiwi. – Und da will ich auch noch mal hin, denn der Deichvogel hat mir erzählt, daß sie da Dämme auswerfen, so groß wie die Kirche, und dem Wasser sagen: bis hier und nicht weiter. Und das gefällt mir an den Menschen in Holland – und das will ich auch einmal lernen.«

»Du willst doch Küster werden.«

»Ich werde kein Küster.«

»Warum nicht? – Dein Vater sieht doch so schön und heilig aus, wenn er mit seinem Samtkäppchen vor dem Herrn Kaplan geht und klingelt, und er ist doch immer dabei, wenn sie einem Menschen, der sterben muß, die letzte Wegzehrung bringen.«

»Das tut nichts. Ich kann keine Wachskerzen leiden; die brennen so eklig.«

»Ist das alles?«

»Nein, das ist noch nicht alles. – Bei einem Küster weinen immer die Leute.«

»Auch Deine Mutter?«

»Ja.«

»Was willst Du denn werden?«

»Deichgräf.«

»Deichgräf willst Du werden?«

»Ja, so 'n richtiger Deichgräf.«

»Wer hat Dir das gesagt?«

»Der Kiwi – weil ich Kurasch dazu hätte.«

»Weil Du Kurasch hast?«

»Ja – und dann will ich hinaus in die Welt, wo sie die großen Schiffe bauen und schwere Pfähle kopfüber ins Wasser hineintun; das nennen sie Rammwerk.«

Der Kleinen war das Weinen näher gekommen.

»Was soll aus mir denn werden?« fragte sie kleinlaut.

»Ich nehme Dich mit mir.«

»Als was denn?«

»Meine Frau mußt Du werden. Ich habe mir das schon lange gedacht – so 'ne richtige Deichgräfenfrau und nicht die Frau eines Küsters, denn die müssen immerzu weinen. Und Du sollst doch nicht weinen.«

»Du bist lieb,« sagte Aleit und zerpflückte ihr Kränzlein,

»Willst Du?« fragte Gert Liffers.

Große Tränen standen in ihren Augen. »Ich möchte schon gerne, aber Dein Vater und die anderen Menschen . . .«

»Laß die man kommen. Du mußt Kurasch auf mich haben.«

Sie sah ihn mit weichen Blicken an.

»Die hab' ich schon lange – sieh nur!«

Und das reizende Dingelchen hob sich auf leichten Zehen, schloß die Augen und spitzte das Mäulchen.

Und da war es ihm so, als wenn die Mutter Gottes bei ihm stände, die Arme breitete und ihm sagte, er solle nur Mut haben. Und ihr Krönchen flimmerte dabei in einem so milden Feuer, daß er nicht anders wähnte, denn es seien Sternchen vom Himmel gewesen.

Und die kleine Aleit stand noch immer mit geschlossenen Augen.

Da beugte er sich nieder und küßte sie innig. Über ihr schmales Gesichtchen lief ein seliges Lächeln. Es war so lieb und gut, daß der kleine Gert des Glaubens war, ein milder Regen von weißen Maßliebchen müßte drauf folgen.

Aneinandergeschmiegt und in die blaue Luft hinaus ragten die beiden Kindergestalten. Schweigend standen sie lange beisammen. Zwei lichtblaue Falter gaukelten spielend über den Deich fort. Ein verlorener Ton klang aus der Ferne herüber.

»Horch!« sagte Aleit, »es läutet.«

»Wo denn?«

»Da hinten – über Moyland fort,« sagte sie mit fliegendem Atem und deutete in Richtung der Gegend, wo ein dunkelblauer Waldkomplex den Horizont abgrenzte, und die Wolken sich bleigrau umsäumten.

»Ich glaube,« fügte sie mit scheuer Betonung hinzu, »da heirathen welche.«

»Das sind keine Glocken,« sagte Gert Liffers, »das kommt aus den Wolken, Sieh' nur, da leuchtet's schon wieder. – Jetzt warte.«

Er zählte bis dreizehn, da begann abermals die Stimme in der Ferne zu sprechen.

»Hörst Du?«

»Ja,« flüsterte Aleit und schmiegte sich an ihn.

Und sie küßten sich wieder . . .

Schatten gingen über die Erde. Ein schwüler Duft nach Blumen und vertrockneten Halmen machte sich ringsum bemerkbar. Die Schwalben nahmen einen niedrigen Flug an. Kein Laut war mehr, als aus der Tiefe das Murren, als das Gurgeln der Wiesenwasser in der nächsten Umgebung.

Gert hatte zu unrecht geweissagt. Das Wetter kam näher und wartete nicht erst auf den Sandmann. Ein merkwürdiger Brodem braute herauf; die Gräser begannen ängstlich zu rascheln, und überm Wald fort spielte die Hand Gottes geisterhaft mit verhaltenen Blitzen.

Und Schleier zogen über die Landschaft, und in ihnen vergingen die Kinder – und Tage und Monde . . . Und Jahre waren vergangen – und während dieser Jahre war auch ein dichter Nebel gekommen, kalt, fröstelnd, von Rauhreif durchsetzt, der sich an den Bäumen verfing und in die Häuser hineinkroch. Nur hier und da schwelte ein Lichtschein durch die wogenden Massen, um wieder ins Nichts zu versinken. Nur wenige Sonnenblicke standen dazwischen; fast freudelos war Gert Liffers in all diesen Jahren gewesen. Der unselige Geist, der im Küsterhause umherging, erschien wie ein giftiger Hauch, und wäre nicht die Liebe zu Aleit gewesen, hätte er nicht seiner armen Mutter versprochen . . . so vieles wäre anders gekommen, so ganz anders gekommen! Allein er bezwang sich und biß die Lippen zusammen. – Adam Rüttjes war derselbe geblieben. Er ließ zwar keine Kerzenstümpfchen mehr zur höheren Ehre Gottes und zur Läuterung einer bedrängten Seele verbrennen, allein seine sonstige Erziehungsmethode nahm ihren systematischen, leidenschaftslosen Verlauf, deren schäbige Gewissenhaftigkeit an die Kleinkunst eines schofelen Parterre-Akrobaten gemahnte. Mit krankhafter Resignation ließ Mutter Marie alles über sich ergehen. Die schwüle Sargatmosphäre und der weiche, atembenehmende Wachsduft hatten ihren Willen zu Boden gedrückt – und dazu das stetige und monotone Rascheln der Rosenkranzperlen . . . Es war immer dasselbe, immer dasselbe . . .! – Und Gert?! – Sein vormaliges ›Ich‹, zu einem jungen Mann herangewachsen, fand sich wieder bei einem Schleusenmeister in Utrecht. Er hatte diese Stellung dem rechtzeitigen Eingreifen und der Fürsprache des Bürgermeisters und dem Dechanten seines Heimatsortes zu danken. Hier zwischen Wasser und Schleusenwerken wehte ihn eine gesunde, holländische Luft an. Alles sollte sich finden, wenn er seine Lehrzeit herum und seiner Militärpflicht genügt habe. Er dachte dabei an seine Mutter und Aleit. Die Lehrzeit verging, er mußte zur Fahne und wurde in ein Pionierbataillon im fernen Osten verschlagen. Und als er hinauszog, da sahen ihm beide verweinten Auges nach – und als er die Wirtschaft ›Zum goldenen Anker‹ passierte, da stand der junge Barthes van Laak, der bereits vor fünf Jahren zur Reserve entlassen wurde, am Fenster, sprang hinaus und flegelte ihm mit einer Flasche Rotspon entgegen:

»Wie kommen die Soldaten in den Himmel,
Kapitän und Leutenant?
Auf einem weißen Schimmel,
Da reiten die Soldaten in den Himmel,
Kapitän, Leutenant,
Fähnderich, Sergeant,
Nimm das Mädel . . .

Prosit, Du Gelbschnabel! – Deine Liebste soll leben – soll leben . . .

Der junge Rekrut wollte vorüber.

»Holla – Du willst nicht?! – Gottverdomie, Du willst ihr und mir nicht Bescheid tun?!«

»Hier nicht und bei solchem Spektakel erst recht nicht.«

»Holla – dann will ich ihr Bescheid tun. Prosit – die Aleit soll leben!«

»Soll leben – soll leben . . .!« klang es aus dem Munde seiner Kumpane, die sich inzwischen ans Fenster gedrängt hatten.

»Stillgestanden vor der alten Reserve!« kommandierte Barthes van Laak mit trunkenen Augen.

Aber Gert Liffers war seines Weges gegangen.

Ein harter Speziestaler klingelte hinter ihm her.

»Den nimm und verfriß man . . .

Was kriegen die Soldaten zu fressen,
Kapitän und Leutenant?

Hurra – die Aleit . . .

Das Wort ging ihm nach und ließ ihn nicht wieder. Er glaubte es im Weichselwasser zu sehn, als ihm die ersten Begriffe des Pontonierens beigebracht wurden, es klang ihm von den Kämpen herüber, wenn er auf einsamer Wacht stand und der Mond jenseits der Sankt Jakobskirche heraufstieg. Die Weichselniederung erinnerte ihn an so vieles und an die niederrheinische Landschaft. ›Hurra – die Aleit soll leben!‹ – Wie mit feurigen Buchstaben standen ihm diese Worte vor Augen – und als am Weihnachtsabend die Kasernenstube im Kerzenglanze aufleuchtete, war ein Brief von seiner Mutter gekommen.

»Fröhliche Weihnacht, mein Junge! – So ist das im menschlichen Leben, Du beklagst Dich, daß Aleit so selten noch schriebe. Die armen Leute haben auch ihr Päckchen zu tragen. Daß es dem Schulmeister Hemskerk nicht gut ging, hast Du schon vor langem erfahren. Der kalte Wind, der jetzt so stur über den Deich bläst, hat das schwache Licht gänzlich ausgepustet. Ihm ist wohl; jetzt weiß der Mann doch, wie er daran ist. Gestern nachmittag wurde er dicht beim Kalvarienberge begraben. Der Kiwi ging auch mit. Sie, was die Frau ist, will mit ihrer Tochter Aleit wieder nach Wissel, von wo sie gebürtig. Für die Stadt langt's nicht. Außer seinem Tintenfaß und dem schönen Zylinder hat der selige Hemskerk fast nichts hinterlassen. Aber alle Leute wundern sich über den jungen Fingerhutshöfer. Man soll's nicht für die Menschenmöglichkeit halten: allein Barthes van Laak ist mehr wie anständig gewesen. Er hat ihr – was die Hinterbliebene ist – nämlich ein kleines Häuschen bei Wissel zur Verfügung gestellt, wo sie sich einlegen könne. Es gibt doch noch barmherzige Menschen auf Erden! – Die Tochter wollte zwar nicht, aber junge Mädchen sind öfters so komisch. Du siehst also, hier ist manches anders geworden, und wenn es Dir weh tun sollte, halte den Kopf nur aufrecht, mein Junge: es gibt noch andere Mädchen auf Erden, und der liebe Gott sorgt schon dafür, daß keiner zu kurz kommt. Auch ich hoffe auf ihn, glaube an ihn und wünsche mir bald, daß er mich so ganz still und ganz leise ...«

Gert Liffers las nicht weiter. Alles schien vor seinen Blicken zu tanzen.

Der Feldwebel aber schlug ihm auf die Schulter und sagte: »Nur keine Trübsal geblasen; ich und der Hauptmann machen ihm unser Kompliment. Geht's so weiter mit ihm, bekommt er die Tressen, und dann kann's ihm nicht mehr verschlagen im Leben. Also – Tritt gefaßt, niederrheinischer Jung, und verlaß er sich auf seinen Feldwebel Gottlieb Masurek.«

»Postskriptum, mein Junge. Soeben war die Verwitwete hier und sagte, sie könne sich längstens um Johanni verändern. Es sei der Wunsch vom jungen Fingerhutshöfer. Du aber, gib Gott und Deinem König die Ehre. Ich bete für Dich, und wenn ich's hier nicht mehr kann, will ich's dort oben besorgen ...«

Gert Liffers schlich hinaus in die Weihnacht . . .

Und dann war das Frühjahr gekommen – Frühjahr an der preußischen Weichsel! Nächtelang schlugen die Sprosser auf den verschwiegenen Kämpen. Noch einige Male hatte Aleit geschrieben, dann verstummte sie gänzlich. – Es war Sommer geworden.

Eines Tages, bei Gelegenheit des Appells, hatte der Feldwebel Gottlieb Masurek sein dickes Notizbuch gezogen. Er blätterte drin herum.

»Gefreiter Liffers!«

«Hier!«

»Vortreten!«

»Es tut mir leid,« sagte der harte Mann. »Hier – 'ne offene Depesche. Ich und der Herr Hauptmann sagen unser innigstes Beileid. Urlaub genehmigt.«

Und Gert Liffers reiste Tag und Nacht, und als er zu Hause ankam, da war schon alles erledigt. Der Küster hatte sein Bestes getan. Die schönste Lade war ihm kaum gut genug gewesen. Die dicksten Wachskerzen brannten um die stille Frau, die endlich ihren Himmel gefunden hatte. Noch niemals war sein Gesicht so glatt rasiert wie am heutigen Tage, und noch niemals hatte er so breite Trauerflore um Oberarm und Zylinder getragen. Prompt drei Uhr wurde Marie Rüttjes, geborene Liffers, zur letzten Ruhe geleitet. Am Fenster des kleinen Magisterhauses stand Aleit mit verweinten Augen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und preßte ihr Taschentuch gegen die Lippen. Als sie Gerts ansichtig wurde, wandte sie sich ab. Etliche Möbel standen vor der Haustür; man sah, daß hier ausgeräumt wurde.

Gert konnte keine Tränen mehr finden.

Auf dem Kirchhof blühten Rosen und Sommerlevkojen.

Ein dumpfes Gemurmel ging über die Stätte des Friedens.

»Requiem aeternam dona ei, domine!
Et lux perpetua luceat ei!
Requiescat in pace!
Amen!
«

Und ganz zuletzt, ganz hinten, hinter einem dichten Lebensbaum hatte Josias Spettmann, der Kiwi, gestanden. – – –

Reserve hat Ruh! – Nach Jahr und Tag stand über Sankt Jakob eine prächtige Spätsommersonne. Die sonst so melancholische Weichsel hatte sich mit ihrem schönsten Farbenzauber bekleidet. Die Ufer lachten, und violblaue Lichter spielten auf dem ruhigen Wasser. Auf der Weichselbrücke war ein rühriges Leben.

»Wer treu gedient hat seine Zeit,
Dem sei ein volles Glas geweiht . . .«

Mit Sträußchen am Hut, die Feldflasche umgehängt und mit bebänderten Stöcken zogen die jungen Landsmannschaften nach Hause. Am Bahnhof entließ sie der Hauptmann. Unter ihnen befand sich auch Gert Liffers. An seiner schmucken Reservemontur glitzerten Schnüre und Tressen.

»Ohne Ihnen komplimentieren zu wollen, junger Mann – Sie haben mir Spaß gemacht zu Wasser und zu Lande.«

Der Feldwebel wischte sich eine Träne herunter.

»Denken Sie zuweilen an mich; hab's gut mit Ihnen gemeint. Addio!«

Und da stand nun Gottlieb Masurek und sah zu, wie der Militärtrain gen Westen polterte und die Weichselniederung entlang fuhr. Fern drüben, bei den roten Kiefernstämmen, tauchte er unter.

»Aus!« sagte Gottlieb Masurek, strich den Schnurrbart und marschierte nach Hause. –

Aber Gert Liffers – was sollte er noch in der früheren Heimat?! – Die kleine Magisterwohnung hatten andere Menschen bezogen, dem Küsterhause haftete noch immer der wärmliche Duft an, und der Fingerhutshof hatte inzwischen seine neue Herrin gefunden. Nachdem er das Nötigste erledigt, trug er sich mit Abschiedsgedanken. Beim Dechanten und Bürgermeister sprach er noch vor, schüttelte ihnen herzlich die Hand, dann schnürte er sein Bündel und stattete der Mutter seinen letzten Besuch ab.

»Nun ist alles Glück dahin,« sagte er tonlos und begab sich zum Kiwi.

»Ich muß es drüben verwinden, und wenn's geschehen, vielleicht sehen wir uns im Leben doch noch mal wieder . . .«

Im Fingerhutshof blinkten die Scheiben; die Abendsonne spielte darauf. Gert Liffers wandte sich ab. Große Tränen standen in seinen Blicken, Er gab dem Deichvogel die Hand und ging seines Weges. Alsbald querte er die Stelle, wo er als kleiner Junge mit Aleit an jenem Sommerabend gestanden. Die Wiesen lagen wie damals. Die Gräser raschelten wie in jener Stunde, da er ihr von der Arche-Noah erzählt hatte, von seinen Plänen und seiner späteren Zukunft. Akelei und Zichorienstauden blühten am Deichranft, und genau wie damals spielte der werdende Abend mit seinen geheimnisvollen Blitzen fern über dem Walde von Moyland . . .

Gert hätte aufschreien mögen.

Nur schwer riß er sich von der Stätte, die ihm einst so teuer gewesen – und noch war. Mit großen Schritten ging er vorwärts und in die dämmernde Landschaft.

Und dann . . .

Zehn lange Jahre blieb er in Holland zwischen Wasser und Schleusen. Er begann das Leben mit anderen Augen zu sehen. Die heimatliche Scholle schwand vor seinen Blicken in eine immer größer werdende Ferne. Sein Herz wurde ruhig, seine Gedanken bekamen ihr Gleichgewicht wieder. Nur wenn's Frühling wurde, wenn die Maßliebchen blühten und die Kiebitze flogen – dann war es ihm so, als hörte er den Deichvogel rufen.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi . . .

Es war der sehnsuchtsvolle Gruß aus der Heimat.

Zehn lange Jahre! – Er glaubte seine alte Wunde vernarbt – und da war die ehrenvolle Berufung gekommen. – – –

»Herr Gott noch mal . . .

Ein blendendes Licht fiel in seine Traumwelt hinein. Erschreckt fuhr er auf.

Die Laken-Sophie war mit einer Lampe ins Zimmer getreten.

»Heelmoijen Abend, Herr Deichgräf!« sagte die Jungfer, knickste und stellte das Licht auf die Platte des Zylinderbureaus.

»Ah, Jungfer Boß!« meinte Gert Liffers.

»Nehmen Sie's mir, bitte, nicht übel, Herr Deichgraf, aber ich dachte: er kann so doch den lieben, langen Abend im Düstern nicht sitzen.«

»Ich danke Ihnen.«

»Nichts zu danken, Herr Deichgraf. Aber was ich Ihnen immer schon sagen wollte: Sie müßten sich jetzt mal so 'n pläsierliches Leben vergönnen. Das sind Sie sich selber schuldig, Herr Deichgräf, denn meine Freundin die Lisbeth . . . um Gott nicht, was sagt doch die Lisbeth?! – Jetzt hab' ich's! – die meinte: Sie machten immer so 'n traurig Gesicht. Und ich bin der nämlichen Ansicht und dächte: Sie sollten sich aufmuntern und sich noch so 'n ganz kleines Gläschen Bier im ›Goldenen Anker‹ erlauben. – Das könnte nicht schaden.«

Mit ihrem süßesten Lächeln war sie näher getreten.

»Bitte, bitte – tun Sie's mir zuliebe, Herr Deichgräf!«

»Bei Schweinem?«

»Ja, bei Schweinem, Herr Deichgräf.«

»'ne Idee! – Das bringt die Gedanken zusammen.«

»Das tut es, das tut es . . .!« akkompagnierte die Jungfer.

»Wie spät schon?«

»Es geht erst auf zehne, Herr Deichgräf.«

»Na, denn . . .«

»Mir zu Gefallen, Herr Deichgräf?! – Ach, ne – wie der Herr Deichgräf doch lieb sind!«

Mit einer dankbaren Bewegung versuchte die altmodische Person ihren eingefallenen Busen zu fassen.

Und Gert Liffers ging noch in den Abend hinaus.

»Adjüs denn, Herr Deichgräf!«

Der stille Mondschein empfing ihn.

Mit großen Augen sah Sophie ihm nach, dann seufzte sie aus tiefster Seele: »Wenn er's doch täte! – Mein Bett sei sein Bett, meine Kinder seien seine Kinder . . . Ach, Du lieber Herr Jeses!«

 


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