Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XVIII Der Deich wird lebendig

Oha!« sagte der Kiwi. »Mutter, das hätten wir nu wieder geleistet. Bis über Ostern hinaus hast Du nu wieder das richtige Brennholz. Rechts vom Ziegenstall liegen die Kloben und Stubben, links das kleine Gemüse: Abfall und Späne, aber mit so' nem richtigen Kien drin.«

»Kiwi, nu hab' Dich man nicht,« sagte Frau Spettmann, die am offenen Herdfeuer stand und in der Abendsuppe herumrührte, »aber ich will zugeben, daß Du Dich ordentlich geplagt hast.«

»Danke,« sagte Josias, zündete die Öllampe an und setzte sich mit der Bibel an den Tisch inmitten der Stube, schlug die Blätter mit angefeuchtetem Zeigefinger raschelnd herum, bis er nach langem Suchen die richtige Stelle erwischt hatte; dann begann er mit aller Andacht zu lesen und sich zu erbauen.

Man hörte nur das feine Singen des Herdfeuers und das Knistern der trockenen Roggenstrohhalme, die Josias Spettmann der grimmigen Kälte wegen in seinen Holzschuhen hatte. Die Lampe verbreitete nur einen spärlichen Lichtschein, ließ aber alles größer, unbestimmter erscheinen und drückte die Schatten der beiden einsamen Menschen gigantisch gegen die gegenüberliegende Wand an. Schneeblau dämmerte der werdende Abend in das niedrige Zimmer, das gleichzeitig Küche und Werkstätte abgab, wenn Josias des schlechten Wetters halber nicht draußen arbeiten konnte. Tief am Horizont, kaum spannenweit ob der eingeschneiten Erde, stand das Bild eines merkwürdig großen Sternes. Er war im Sinken begriffen, und je tiefer er sank, um so größer schien sein Umfang zu werden. Wie ein lauerndes Auge sah er durch die unverhangenen Fenster. Sein kalter Schein wirkte sichtlich auf Josias, denn er wandte sich, sah das Gestirn an und meinte: »Mutter, nu sind die auch schon weitergezogen.«

»Wer denn?« fragte die Frau und warf einen neuen Stubben ins Feuer.

»Kasper, Melcher und Balzer,« lautete die ruhige Antwort, »und der Stern da unten läuft ihnen nach wie so'n feuriger Teckel.«

»Lies man voran, Josias,« hielt ihm sein Weib entgegen, »dann schenierst Du nicht weiter; muß acht geben, sonst kocht mir noch die Grütze ins Feuer.«

»Tu's man,« sagte der Kiwi, stemmte den Schädel in die klobigen Hände und vertiefte sich wieder in die Geheimnisse des biblischen Textes. Er mochte ungefähr eine Viertelstunde gelesen haben, als er plötzlich unruhig wurde, unverständliche Laute von sich gab und die Stelle zitierte, die von der Sündflut erzählte.

»Ich will die Menschen,« also begann er, »die ich geschaffen habe, von der Erde vertilgen, vom Menschen an bis auf das Vieh, denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe. Und kam ein Regen auf Erden, vierzig Tage und vierzig Nächte.«

»Was soll das nu wieder?« sagte die Alte verärgert und rappelte energisch mit den Kettenschaken, die über der Brandreite hingen. Der Kiwi aber ließ sich nicht stören.

»Also nahm das Gewässer überhand,« las er in gemessenem Ton fort, »und wuchs so sehr auf Erden, daß alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Und es ward vertilgt alles, was lebte. Und das Gewässer stand auf Erden hundertundfünfzig Tage.«

»So!« kam es von der Feuerstelle her, »also hundertundfünfzig Tage hat das Wasser gestanden?«

»Richtig, Mutter!« sagte der Kiwi, »und nu wird's Zeit, daß wir uns 'ne Arche-Noäh bestellen.«

»Was willst Du bestellen?« fragte die Alte.

»'ne Arche-Noäh, denn das steht in der Bibel geschrieben – und was die Bibel besagt und bedeutet . . .«

»Du bist wohl verrückt!« trumpfte das Weib auf. »Wenn's keine Körbe zu flechten gibt und keine Barsche zu angeln, denn geht's wieder los mit dem alten Lamento. Mein Christus und Heiland . . .

Verzweifelt schlug sie die Hände zusammen.

»Mutter, Du sollst sehn, wir müssen die Arche-Noäh bestellen.«

»Menschenkind, bleib mir mit Deiner Arche-Noäh vom Leibe!« versetzte die Alte, hinkte heran und hielt ihm beide Fäuste vor Augen.

»Weib!« schlug Josias auf den Tisch, daß die Bibel emporsprang, »ich hab' meinen Zustand und muß daher wissen, was not tut, und wie es der sündigen Menschheit ergehn wird am Tag des Gerichtes.«

Er war aufgestanden; in dem knochigen Gesicht begann es zu leuchten. Mit großen Schritten ging er über den Estrich; hinter ihm raschelten die harten Roggenstrohhalme. Jetzt blieb er stehn; er war ruhig geworden.

»Mutter, ich habe zu reden.«

»Denn rede.«

»Ich war gestern in Elten,« sprach er mit rauher Betonung, »und wer, wie ich, in Elten gewesen ist und gesehen hat, wie das schollert und donndert im Rhein, wie er's mit der Wut gekriegt hat, gegen die Krippen beißt und kühmt – und kühmt – und kühmt, Mutter, der muß sich fürs kommende Frühjahr 'ne Arche-Noäh bestellen.«

»Wieso denn?«

»Mutter, quer übers Wasser hat sich 'ne Eisbarriere gelümmelt – haushoch, turmhoch, als wär' sie expreß dort hingestellt worden, um uns 'nen Schrecken in die Knochen zu jagen. Da sitzt Malör drin und hat ›Mordio‹ unter den Schollen und steht bis nach Ostern. Und wenn dann das Stauwasser kommt und den Kalkflack heraufläuft . . . Mutter, unser Deich kann's auch nicht mehr halten.«

»Wofür ist denn der Deichgräf da?«

»Der hat schon lange vorher gepredigt. Aber wollten die Bauern, wollte der sturige Fingerhutshöfer? Schwere Brett noch einmal! – sie wollten ja gar nicht, und jetzt, wo sie wollen, kommt so' ne miserablige Kälte und legt sich extraordinär übers Leeloch. Wir können nicht rammen – wir können nicht pfählen – wir können nicht schüppen . . . Alles geht drunter und drüber: mausekapott, versoffen, tot, fertig – aus! – denn geschrieben steht an einer anderen Stelle: Da ließest Du, o Herr, Deinen Wind blasen, und das Meer bedeckte sie und sanken unter wie Blei im mächtigen Wasser.«

»Denn bestell' Du Dir man 'ne Arche-Noäh bei Pollmann,« sagte die Alte mit giftigem Ausdruck.

«Tu' ich auch, Mutter.«

»Aber das sag' ich Dir, Kiwi,« drang sie erneut auf ihn ein, »ich bleibe hier, hier wo ich stehe, bis mir das Wasser die Röcke heraufkriecht.«

»Denn versauf.«

»Drecksprophet!«

»Mutter, so hat mich schon der schwarze Neu-Luisendörfer geschumpfen!«

»Ich kann mir nicht helfen, aber der Mann wird wohl recht gehabt haben.«

»Weib!« brüllte Josias, »wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . .«

»Ach, was!« schnitt ihm die resolute Frau das Wort vor dem Mund weg, »jetzt wird Suppe gegessen: Grütze mit Speck drin,« klappte die Bibel zusammen, warf sie geschickt auf das Eckspind und stellte dafür zwei blanke Zinnteller auf die gescheuerte Platte.

»So, nun laß Dir's bekommen.«

»Oha!« machte der Kiwi und griff nach dem Löffel.

Der kalte, unheimliche Stern am tiefen Horizont war untergegangen. Myriaden anderer strahlten dafür am unendlichen Himmel. Unter ihnen her ging ein Flimmern wie von kristallischen Nadeln. Die Scheiben in der verlorenen Kat umspannen sich mit glitzerndem Netzwerk.

Plötzlich drang ein klagender Ruf von draußen ins Zimmer. So stöhnt die Axt, wenn sie ins Holz beißt.

Das Weib blickte auf.

»Das macht der Frost,« sagte Josias, »der hat wieder so' ne arme Weide gespalten.«

Der jämmerliche Laut, der noch geraume Zeit nachzitterte, verlor sich allmählich. Dann ward's still. Die klare Winternacht hielt den Atem an, sie wollte das große Schweigen nicht stören, das über den Schnee ging. Bald darauf schlief auch das matte Licht ein, das bei den Kätnersleuten gebrannt hatte. –

Der schneeblauen Sternennacht folgten noch viele andere. Der Rhein trieb nicht mehr; er lag wie angeschmiedet zwischen den Ufern. Drohende Stimmen unterliefen die glasharte Fläche. So ging es weiter mit frostigem Klingen. Erst um Quatember pfropften sich bauschige Nebel zwischen die Dämme. Die waren weich wie dunstige Schafwolle, hatten einen lauen Atem und hauchten damit gegen Schollen und steinharte Erde. Und schwerfällige Gliedmaßen wuchsen aus den wattigen Leibern heraus, dehnten und streckten sich, wälzten sich polypenartig über das Land hin und umarmten, was starr war. Da begann das kalte Herz der geknechteten Erde wieder zu schlagen, erst leise, kaum wahrnehmbar, dann immer stärker und stärker, bis am Tage Reminiscere die ersten Wässerchen sprangen, und stromaufwärts der Rhein in allen Fugen und Kanten krachte und mit Donnergeheul losbrach. Unaufhaltsam trieben und schoben sich die entfesselten Schollen dem Tal zu, polterten aber gegen die Barriere bei Elten, kräftigten die Sperre und geboten dem andrängenden Wasser rückwärts zu kriechen. Und es wandte sich rückwärts, trat ins Binnenland ein und drückte auf das noch stehende Eis der Nebenflüsse, daß es jammernd entzweibarst. Die Stauflut, die den Wind hinter sich hatte, walzte sich auch dem Kalkflack entgegen, grollte und murrte, arbeitete sich zwischen den massigen Dämmen empor, auf denen wieder die Grasnarbe lebte, warf die Schleusentore zu und stemmte die Ellenbogen zur Seite, daß die Deichflanken stöhnten. Tückischen Auges lag die lehmgraue Fläche, mit mulmigen Schollen durchsetzt, und nur auf den Augenblick lauernd, die sie beengende Fessel von sich zu stoßen. Schneeböen, mit Regen dazwischen, stöberten nieder – und wie noch vom Oberrhein beängstigende Nachrichten kamen, da hörte Gert Liffers, wie das Unglück mit energischem Knöchel anpochte und Einlaß begehrte.

»Oha!« sagte der Kiwi.

Täglich war er draußen und beobachtete das steigende Wasser. Den irdenen Pfeifenstummel im Munde, die fettige Seidenmütze tief in den Nacken geschoben, in schweren Holzschuhen, die quietschend über die aufgeweichte Dammerde glitten – so sahen ihn die Leute, so ging er stundenlang zwischen der Bunten Schleuse und Wissel und wartete auf den großen Moment, wo das Herz des Deiches wieder unruhig würde. Er bemerkte, wie die Maulwürfe in den Böschungen gruben – das gefiel ihm nicht; er sah Rattenlöcher, Mauselöcher – das gefiel ihm auch nicht; er hörte an verschiedenen Stellen das Qualmwasser gurgeln – das gefiel ihm erst recht nicht, aber solange der Deich nicht selber rumorte, sich ängstigte, aus seinem Innern herausschrie, solange hatte es noch gute Wege und war keine Gefahr zu befürchten. So vergingen die Tage.

Die Stauflut war höher gestiegen, hatte aber ihr tückisches Auge verloren.

Josias Spettmann ließ sich nicht irre machen, stand auf Posten und beobachtete weiter. Allabends legte er nicht weit von der Bunten Schleuse sein Ohr an die linke Flankenseite des Dammes, denn hier war nach seiner unerschütterlichen Ansicht die Pulsader der mächtigen Schutzwehr zu suchen. Alles blieb ruhig.

»Schläft noch immer,« meinte der Kiwi, erhob sich, ging nach Hause und sagte: »Mutter, wir brauchen uns vorläufig keine Arche-Noäh nicht machen zu lassen.«

»Gut Ding, was sich bessert,« hielt ihm die Alte vor und schenkte ihm einen Nordhäuser Korn ein.

»Merci,« sagte Josias. –

So war der Montag nach Lätare gekommen.

Der Abend dunstete herauf. Schwere Wolkenfetzen galoppierten aus der Tiefe vor. Der Sturm war hinter ihnen – der niederrheinische Sturmwind.

»Oha!« brummte der Kiwi.

Ein feiner Regen schlug ihm entgegen. Die Qualmfeuchte war im Vergleich zu den anderen Tagen stärker geworden.

»Gefällt mir nicht,« sagte Josias, kniete nieder und legte wieder das Ohr an.

Beide Hände stützte er auf den schlüpfrigen Boden. So kniete er lange. Er lauschte gespannt und glaubte schließlich ein Graben und Wühlen zu hören.

»Das sind die Ratten, die infamigen Biester!« stöhnte Josias.

Dann wieder nichts; nur seine eigene Schläfe hämmerte erregt gegen die Flanke. Immer fester drückte er das horchende Ohr an. Er war sich mit seinem Fühlen und Denken nicht einig. Krampfhaft griffen seine Finger in die lehmige Erde. Nichts ließ sich hören; nur der Regen war stärker geworden. Aber jetzt . . .

Ein Ruck ging über ihn fort; sein Körper schüttelte sich. Mit einem dumpfen Schrei war er aus seiner knieenden Stellung gefahren.

»Die Bibel lügt nicht . . .

Er hatte mit bangen Lauten gesprochen; dann senkte er den Kopf und ging seiner Kat zu.

Hier angekommen, straffte sich der gebrochene Mensch, riß die Tür auf und stolperte vorwärts. Sein Weib stand am Feuer. In seinen Zügen lag eine grimmige Botschaft. Sein Anblick war schreckhaft.

»Was willst Du, Josias?«

»Weib!« schrie der Kiwi, »nu ist doch die Geschichte gekommen, wie ich gesagt hab'.«

»Wieso denn?«

»Der Deich ist lebendig geworden!«

»Schafskopp!« schrie sie ihn an, ergriff das Feuereisen und hielt es ihm dicht unter die Augen.

»Weib!« donnerte Josias, »willst Du auch jetzt noch mein Prophetentum elend in die Saubohnen jagen?! – Im Klüverwasser schreit es nach Hilfe. Da sind auch meine jungen Katzen versoffen . . . Und hundertundfünfzig Tage stand das Gewässer auf Erden.«

Dann ging er mit großen Schritten in den Abend hinaus, selber so erregt wie das große Herz, was da im geängstigten Boden klopfte und pochte. Wiederum schleppte er seinen ungelenken Körper auf und nieder zwischen der Bunten Schleuse und Wisset, brachte die harten Hände seitwärts des Mundes und schrie dann.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi . . .

Langgezogen hallte es durch die Schauer der Nacht hin.

»Nun ist es Frühling geworden,« sagten die Fingerhutshöfer.

Allerdings war es Frühling geworden. Sie hörten das Niederfallen des Regens, der gegen Scheiben und Dachpfannen trommelte, und wie die Erde schlürfenden Mundes sich letzte. So war es alljährlich gewesen und war nichts Besonderes.

Aber Ignaz, der Pferdeknecht, wußte es besser.

»Baas,« meinte er anderen Tages zum Donnerjü, als er breitbeinig über den patschigen Hof ging, »der Deichvogel hat wieder bis zum hellichten Morgen gerufen.«

»Hab's gehört,« sagte Barthes.

»Wie wär's jetzt, wenn wir das Vieh bei Wisselward auf die Notstellen brächten?«

»Bist Du auch so'n Kerl,« fuhr ihn der Donnerjü an, »der sich vor so 'nem Halunken von Schreihals und so 'nem bißchen Qualmwasser bange macht?!«

»Je, Baas,« zuckte Ignaz die Schultern, »so'n reguläres Stauwater hat's in sich. Der Viehweidshöfer hat auch schon auf 'ne sichere Stelle getrieben.

»Der Viehweidshöfer ist ein Kamel!« lachte Barthes.

»Auch der Lörksenbauer . . .«

»Dito Kamel!«

»Und Hoghoff von Hönnepel . . .«

»Noch dämlicher wie die beiden anderen zusammengenommen. Das sind überhaupt keine Bauern – das sind Hammel, denen der Hintere mit Eis geht.«

»Je, denn . . .« sagte Ignaz, kraute sich den Kopf und ging seines Weges.

Der Donnerjü aber griff hinter sich, wo er eine geladene Doppelflinte postiert hatte, warf sie quer über den Rücken und schlenderte dem Leeloch zu, gewillt, in seiner verbissenen Wut jeden über den Haufen zu knallen, der es wagen sollte, den ersten Spaten in seinen Grund und Boden zu treiben. So hatte er es schon allmorgens seit Reminiscere getrieben, ohne sich klar zu machen, daß der Deichgräf grade jetzt, in dieser kritischen Zeit, alles eher getan haben würde, als den projektierten Neubau in die Wege zu leiten. Im Herbst – ja, wäre die Witterung anders gewesen, allein der Frost war ihm zuvorgekommen, hatte die Erde zu Feldsteinen gemacht und zu einer einzigen starren Masse vernietet, so daß nichts weiter übrig blieb, als den gegebenen Verhältnissen Rechnung zu tragen, zu retten, was zu retten war und die gefährdete Stelle mit den zu Gebote stehenden Hilfsmitteln provisorisch zu schützen. Die Dinge, wie sie jetzt lagen, ließen keine andere Möglichkeit zu, drängten darauf, mit den Wölfen zu heulen und das weitere dem lieben Gott in die Hände zu geben. Daran aber hatte Barthes van Laak nicht gedacht, stand täglich auf Posten und wunderte sich, daß die Schanzer nicht kamen, aber wenn sie kämen – schon des infamen Deichgräfen wegen: Purzelbäume sollten sie schlagen wie die Hasen im Kessel.

Eine Stunde verging. Zu gerne hätte er die Flinte an die Backe gerissen und Feuer gegeben. Eher nach Kleve und vor die Assisen, als seinen jungfräulichen Boden verbiestern lassen!

»Feuer auf diese Kanaillen . . .

Er harrte vergebens; da brachte er den Hahn in Ruh, machte Kehrt und ging dem Vorwerk zu, das drüben hinter den kahlen Baumkronen ungewiß aufstieg. Zwischen den einfachen Mauern konnte er wenigstens aufatmen und seinen Ärger verwinden. Hier hatte er Frieden. Mit seinem eigenen Weibe hatte er seit Betätigung des Testamentes keine Gemeinschaft mehr. Sie mieden sich ängstlich. Getrennt von Tisch und Bett, waren sie auch getrennt im sonstigen Leben. Aber der Stina war er mit Leib und Seele verfallen. Schon von ferne sah er das üppige Weib am Fenster stehn. Als er den schmalen Hofraum betrat, streckten sich ihm zwei weiße Arme gierig entgegen. Hinter sich knallte er lachend die Tür zu. –

Die Baumkronen beugten sich vor dem Sturm, der aus Gelderland kam. Immer neue Schneewehen setzten ein. Regen und Graupelkörner waren dazwischen. Mit den Wölfen mußte geheult werden – und Gert Liffers heulte mit ihnen, daß es den umliegenden Grundbesitzern und Bauern in die Kniekehlen hineinfuhr. Noch am selben Tage sagte er die ›Nothilfe‹ an, stellte Wachen aus und ließ in der folgenden Nacht an den zumeist gefährdeten Plätzen die Fanalfeuer brennen. Ein unruhiger Schatten hastete von einer Leuchte zur andern, brachte neues Werg zu und ließ sich von den flatternden Funken umspielen. Taktmäßig klopfte die Flut gegen den Damm an. Es war ein monotones Plaudern und Grollen, nur unterbrochen durch das Frühlingsbrausen, das unter dem mißfarbigen Himmel einherging. Von der kleinen Stadt her zitterten verlorene Klänge.

Der Kiwi unterhielt die lodernden Feuer. Das instinktive Gefühl, helfen zu müssen, war in ihm. Am dritten Fanal begegnete ihm Gert Liffers. Er kam von Wissel her, wo die Nothilfe getagt hatte.

»Bald geht's um Leben und Sterben, Herr Deichgräf!« sagte der Kiwi.

»Das wird's wohl, Josias – kann aber noch tagelang dauern.«

»Gott sei mit uns, Herr Deichgräf!«

»Hoffen wir,« sagte Gert Liffers, hüllte sich fester in seinen Mantel und revidierte die Posten.

Der Regen hatte nachgelassen. Ein eigentümlicher Brodem entströmte dem locker gewordenen Erdreich. Es roch nach Keimen und werdendem Frühling. Mit tiefem Atem sog Gert Liffers die berauschende Luft ein.

Um das binnenwärts gelegene Schleusenwerk zu gewinnen, war er gezwungen, den Weg einzuschlagen, der dicht an den Gebäulichkeiten des Fingerhutshofes vorbeiführte. Fast ein Jahr hindurch hatte er diese Stätte gemieden. Jetzt ging das nicht anders, er mußte vorüber, wandte aber den Blick ab, um nicht in Versuchung zu kommen, um nicht die Sparren zu sehen, unter denen sie weilte.

»Tot für mich,« hauchte er mit blutendem Herzen. Er wollte vorüber. Eine starre Faust drehte ihm das Gesicht wieder zur Seite, wo die Versuchung kauerte mit seltsamen Blicken. Und da saß sie und streckte die Hand aus.

Deichgraf, was hattest Du Dir selber geschworen . . .!

Ein Licht brannte im mittleren Giebel – und hinter den Scheiben . . .

Aleit stand in der lichten Umrahmung. Sie war im Nachtgewand. Langsam zog sie ihr offenes Haar durch die geschmeidigen Finger. Die Blicke träumerisch auf die hin und wider spielende Kerzenflamme gerichtet, sah sie dennoch das brennende Licht nicht. Sie befand sich nicht mehr in ihrem Zimmer und den beengenden Wänden. Die Begierde nach alten Erinnerungen, nach einem neuen Leben ergriff sie. Sie gehörte nicht sich mehr. Ein Schauer fuhr über sie hin. Ihr Sehnen ging hinaus, wo die blühenden Gärten des Lebens sich dehnten. Und dieser Gedanke an Liebe erfüllte sie mit heißem Verlangen. Und das sollte sie alles entbehren, entbehren für immer! Ihr Inneres sträubte sich gegen das vage Empfinden eines verlorenen Daseins. Unter dem qualvollen Druck einer möglichen Schuld preßte sie die heiße Stirn gegen die Scheiben. Ihre Lippen waren geöffnet – und ihre weitaufgerissenen Augen starrten über das verschleierte Land fort, wo der Frühlingssturm ging, und die Erde sich sehnte, befruchtet zu werden.

»Sein Weib . . .!« Gert wandte sich ab; er kam sich verächtlich vor, verächtlich vor der da, die ihn nicht sehen konnte, und vor seinem Gewissen.

Die Scham schlug ihm ins Gesicht; dann ging er geduckt, mit dem erbärmlichen Gefühl, sich an fremdem Eigentum vergriffen zu haben – wie ein Hund.

»Wie ein Hund,« sagte er selber. –

Anderen Tages war er wieder der Deichgräf. Der wütige Kampf um die Herrschaft hatte begonnen. Ums Morgengrauen rückten die Arbeiterkolonnen vor. Aus dem Binnenland brachten die Karren der pflichtigen Bauernschaften Faschinen und Schanzzeug. – Die Spaten klirrten und warfen, zu langen Gliedern gereiht, die Dammerde gegen Böschung und Flanken. Kommandoworte hallten dazwischen, Pfähle wurden gerammt und mit Weidenknüppeln durchflochten, und dabei stieg das Wasser stetig und immer. Bleigrau lag der Himmel darüber, umflorte die Gegend und peitschte nadelscharfe Regenstriemen über das verzweifelte Ringen.

Vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend schafften die Spaten; sie klirrten während der Nacht und gaben nicht Ruh an den folgenden Tagen. Der Deichgräf belebte sie durch feurigen Anruf. Zweimal vierundzwanzig Stunden hindurch war er nicht aus den Kleidern gekommen. Das Fieber saß in ihm.

»Du oder ich,« sagte er grimmig, biß die Zähne zusammen und harrte aus auf seinem verzweifelten Posten.

Am Morgen des dritten Tages schien die Krisis zu nahen. Sturzwellen polterten gegen die Deichkappe an, bäumten sich auf und stierten gierigen Auges ins Binnenland, wie es dort aussähe, ob es schon Zeit wäre, loszubrechen, zu wühlen, zu graben, Kolke zu werfen und Sturmschritt über die hilflose Fläche zu nehmen.

Der Deichgräf schlug sie aufs Maul, ließ Aufladungen machen und panzerte die Außenböschung mit Ankerfaschinen. Stöhnend brach das Element in sich zusammen. Aber wie er vorhergesagt hatte: in Höhe des Fingerhutshofes drohte das Unheil.

Neugierige kamen aus der kleinen Stadt und den benachbarten Ortschaften, und auch solche kamen, die um ihr Eigentum bangten. Mit Raths vom Entenbusch und Hoghoff war auch der Viehweidshöfer erschienen. Verzweiflung stand auf ihren Gesichtern. Sie sahen das wütige Ringen, sie sahen, wie der Deichgräf mit Aufbietung seiner ganzen Kunst, mit Hintansetzung der eigenen Sicherheit, sich stemmte und wehrte.

Sturm! – wie das brauste und heulte!

»Die Binnenberme sackt ab!« schrie der Kiwi,

»Sandsäcke vor!« kommandierte Gert Liffers.

Die momentane Gefahr ging vorüber.

»Respekt,« sagte der Viehweidshöfer, ging auf ihn zu, tastete nach seiner Hand und sah ihm ins Auge. »Offen und ehrlich – wie steht es, Herr Deichgräf?«

»Legt sich das Wetter,« sagte Gert Liffers mit gerunzelten Brauen, »glaube ich's halten zu können; setzt aber nicht bald eine Wendung zum Besseren ein – Viehweidshöfer, ich bin auch nur ein Mensch – dann geht Gottes Wasser über Gottes Land hin, und dem da . . .«

Er zeigte zur Rechten.

»Und dem da, Viehweidshöfer, kommt zuerst die heilige Schwerenot über den Nacken.«

»Dem Barthes?!« riefen die Männer.

»Ja – und ob so oder so, wollt Ihr ihm 'nen Gefallen tun, geht zu ihm und sagt ihm: er solle Menschen und Vieh in Sicherheit bringen, ich, für meine Person, garantiere für nichts mehr.«

»Wollen wir,« sagte Hoghoff vom Hönnepel.

»Adjüs denn.«

»Adjüs denn.«

Gert Liffers ließ die Deichkappe von den Neugierigen räumen. Die Arbeit ging weiter. – So war unter stetem Kampf die sechste Abendstunde gekommen.

»Merkwürdig ruhig,« sagte der Kiwi.

»Wenn's nicht die Ruhe vor dem Todeskampf ist,« war die wenig zuversichtliche Antwort.

»Oha!« machte der Kiwi.

Das Wasser schien lethargisch geworden, rollte nicht mehr, lachte nur kurz auf, aber mit eigentümlicher Härte. Die Weiten umdüsterten sich. Aschensäcke hingen in der Luft und gaben der an und für sich schon nachgedunkelten Fläche eine noch schwärzere Tönung. Nur hin und wieder zuckte ein tückisches Weiß auf.

Gert Liffers verdoppelte seine Wachsamkeit, folgte dem langsamen Steigen des Wassers und beobachtete eine schwere Wolkenbank, die sich kaum wahrnehmbar über den Horizont verschob. Sie schien den Sturm und sein Brausen verschlungen zu haben; nur das eintönige Rammen der Pfähle dauerte weiter.

Fern drüben bei Wissel leuchtete das erste Fanal auf.

Die Niederungsbauern kamen nicht wieder, aber auch keine Hand regte sich in dem nahen Gehöft, der überbrachten Warnung Folge zu geben. Eine gewisse Trotzigkeit ging von den Gebäuden aus, die fast herausfordernd unter dem hämischen Blick der nahen Gefahr lagen.

»Der Kerl tut's nicht, ums Verrecken nicht,« sagte der Kiwi, »aber Junge, Junge, Junge – wenn Dir der Satan über den Hals kommt . . .

Ängstlich sah der Deichgräf hinüber. Alles blieb ruhig; nur ein Wagen wurde aus der Remise gezogen.

Die Abenddämmerung war stärker geworden.

Eine Viertelstunde verging – eine bange Viertelstunde, als ein leichtes Gefährt, mit einem flotten Traber bespannt, aus der Torfahrt ins Feld bog. Obgleich es noch nicht völlig dunkel geworden, brannten doch schon die Laternen seitwärts des Spritzleders.

Der Donnerjü lenkte die Zügel. Blind gegen jede Gefahr, versturt, dem Deichgräfen zum Tort und verrannt in eine vorgefaßte Idee, wollte er an der Arbeitsstelle vorüber. Im schlanken Trab kam er näher, mußte aber, der Sackung an der Binnenböschung wegen, die den halben Weg überwälzt hatte, jetzt langsamer fahren.

Gert Liffers sah es und trat ihm entgegen.

»Nicht weiter!«

»Gottverdammich, was gibt's denn?!«

»War der Viehweidshöfer nicht bei Euch?«

»War da.«

»Und die andern beiden?«

»Auch da.«

»Und haben Euch von der Gefahr unterrichtet?«

»Hahaha!« lachte Barthes.

»Und da habt Ihr die Stirn noch . . .?!«

»Weg da! – Dämliches Spukwerk! – Macht Kinder bang, aber keinen vernünftigen Menschen! – Platz jetzt!«

»Hiergeblieben!« donnerte der Deichgräf.

Arbeiter waren näher gesprungen.

»Ich schickte die Bauern. Es geht um Hab und Eigen, um Leben und Sterben!«

Der Donnerjü reckte sich auf.

»Geschickt?! – diese blöden Hammel geschickt?! – Hasenfüße – Kanaillen! – Dieser Viechskerle wegen laß ich mir mein Karambolagepartiechen nicht stören.«

»Und wenn ich selber Euch sage . . .«

»Gotts den Donner!« schrie Barthes, »dann mal erst recht nicht. Lehrt mich das Wasser nicht kennen! Flach wie so'n Teller. Und der Deich hier am Leeloch . . .?! – werft Euch doch nicht so patzig in Eure Deichgräfenweste! – der biegt nicht und baucht nicht. Viechskerle alle . . .

»Mensch!« hielt ihm Gert Liffers verzweifelt entgegen, »das kann jeden Augenblick kommen!«

»Unsinn!«

»Zurück! – Erbarmt Euch des Viehs, und wenn Euch das nicht mal kümmert – verlaßt Euer Weib nicht!«

»Wa . . .?!«

Bei dieser Wendung schoß dem Donnerjü alles Blut in die Schläfen.

»Gottverdammich, was geht Euch mein Weib an?! – Saukerl verfluchter! – Vorwärts!«

»Barthes . . .

Der Deichgräf war mit geballten Fäusten vorwärts gedrungen. Ein allgemeiner Wutschrei ertönte.

»Schlagt den Hund nieder! – Mausekapott . . .

Ein Arbeiter fiel dem Gaul in die Zügel.

»Oha!« schrie der Kiwi, »wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . .«

Drohend hatte er einen Spaten erhoben; das Eisen blitzte.

»Gottverdammich! – Saukerle alle!«

Der Donnerjü schwenkte die Peitsche.

»Kutt ki kutt!«

Ein wuchtiger Schlag . . .

»Haltet den Hund!«

»In drei Teufels Namen noch mal!«

Wieder knallte die Peitsche.

»Allong!«

Kein Halten mehr. Das geängstigte Tier bäumte sich auf, schlug mit den Hufen und riß den Arbeiter nieder.

Wiehernd setzte der Gaul über die morastige Erde.

»Dem hilft kein Gott mehr,« sagte Gert Liffers. »An die Arbeit!«

Es war mittlerweile völlig dunkel geworden. Auf allen Wachen brannten die Feuer.

 


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