Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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IV Orakel

Mit dem Glockenschlage sechs tänzelte ein untersetzter Mann im hechtgrauen Flausrock aus seinem Spezereiwarenladen auf die Straße hinaus. Alles lebte an diesem geachteten Bürger wie die Blätter des Espenbaumes – nur das glattrasierte Gesicht nicht. Ernsthaft saß es zwischen den niedrigen Vatermördern, zeigte kein Mienenspiel, war weder traurig noch lustig und blieb immer dasselbe. Gewiß – sein Gesicht war von einer steinernen Ruhe, keine Fiber wagte es, sich auch nur im geringsten bemerkbar zu machen, und dennoch war auch diese starre, ernsthafte Physiognomie, wenn auch nur so ganz pizzikato, mit einem burleskkomischen Anflug behaftet. Im übrigen vibrierte aber alles an dem lebhaften Kerlchen, selbst das lange Pfefferrohr, das mit seinen grünseidenen Quasten und dem glänzendweißen Porzellankopf vom hellfrühen Morgen an bis spät in den Abend hinein aus einer Ecke des gekniffenen Mundes herabhing. Herr Spezereiwarenhändler Petrus Nagel war ohne diese Pfeife nicht denkbar. Wenn er hinter dem Laden stand und Zichorienkaffee, Nudeln oder Kandiszucker verkaufte – stets baumelte der glimmende Pfeifenkopf unter der Theke; bei allen merkantilen Erwägungen, am Stammtisch, in der Postkutsche und sonstwo – immer wurde er von seinem Pfefferröhrchen begleitet, und bestieg er sein Zweirad – Herr Spezereiwarenhändler Petrus Nagel huldigte diesem Sport in der außergewöhnlichsten Weise – dann paffte und qualmte er auf seinem schnellen Vehikel, daß die des Fahrens Unkundigen des berechtigten Glaubens sein konnten, die Maschine würde durch Pfeifenkopf und Tabak getrieben.

Zwischen den straff nach vorne gebürsteten Schläfenhaaren, und zwar inmitten der Oberstirn, erhob sich eine lustige Tolle, die der glückliche Inhaber nur unter Zuhilfenahme von Papilloten erreicht haben konnte, und diese Tolle war so pudelnärrisch und seltsam, daß man ins Lachen geriet, wenn man sie ansah, und darüber nachgrübeln mußte, wie ein so fröhliches Ding auf solch einem Grund und Boden zu gedeihen vermochte. Inferner zeigte dieses Toupet eine derart verteufelte Ähnlichkeit mit dem Haarsträußchen des gemaßregelten Königs, daß man versucht war, verwandtschaftliche Beziehungen zwischen diesem und dem Herrn Petrus Nagel zu wittern – eine Vermutung, die zu Recht bestand und nicht auf tönernen Füßen umherging; denn laut Kirchenbuch und Standesregister wurde letzterem von seiner inzwischen gottselig verstorbenen Frau Petronella besagtes Bürschchen, und zwar vor nunmehr vier und dreiviertel Jahren, geboren – Beweis genug für die Identität der kregelen Haartracht.

Also – Herr Petrus Nagel, der glückliche Vater von Nikola, tänzelte hinaus auf die Straße. Ein aufdringlicher Hauch nach Speiseöl, Zichorienkaffee, Süßholz und sonstigen Ingredienzien des flottgehenden Ladengeschäftes umgab ihn. Dazwischen kräuselte sich der Tabaksrauch in zierlichen Spiralen nach oben.

Mit einem graziösen ›Wuppdich‹ schwang sich der Herr Spezereiwarenhändler auf das seitwärts der Haustür stehende Zweirad. Alles ging bei ihm wie der Minutenzeiger auf seiner neusilbernen Taschenhalosi. Mit dem ersten Schlage der sechsten Nachmittagsstunde hatte er seine Wohnung verlassen, mit dem letzten saß er im Sattel, querte den Markt und steuerte rauchend der Behausung der Lisbeth Mömmes und seinem Jungen entgegen. Drei Minuten spater hatte er bereits den knirpsigen Delinquenten beim Kragen gepackt, zu sich aufs Fahrrad genommen, hatte eine künstliche Volte geschlagen und war dann abgesaust – wer weiß wie sehr! – und in einem so rasenden Tempo, daß Sophie Boß sich an einer Stuhllehne halten mußte, um nicht schwindelig zu werden.

Barthje van Bebber, Nöllecke Kunders und die übrigen Kinder trippelten unter Führung ihrer Mütter ebenfalls heimwärts, und als das letzte glücklich davonging, da gab Lisbeth Mömmes so einem recht tiefen, kompakten und erlösenden Seufzer die Freiheit.

»Gott sei gedankt, daß die fort sind!« meinte sie sichtlich erleichtert. »Nu aber, Mamsell Sophie, wie war das soeben?«

»Wie war das soeben?« fragte die Lange und tat wie aus allen Wolken gefallen.

»Aber, meine liebe Mamsell Sophie, ich bitte Sie, um tausend Gottes willen noch mal! – Ich hab's ja auf meine erste heilige Kommunion genommen.«

»Ach, so!« machte die Nähterin, als wollte sie ihre Gedanken in das richtige Nadelöhr fädeln.

»Na ja,« versetzte die Dicke, »das is es ja eben! – Sie muß sich doch noch genau der ganzen Geschichte erinnern. Wie war doch die Sache? – Herr Gott, wie war doch die Sache? – Aber jetzt hab' ich's . . .!« und mit einem wonnigen Grunzen schluckte sie die ihr plötzlich gewordene Erkenntnis herunter. »Jetzt weiß ich's: auf wen is die andere, ich meine die Aleit, denn eigentlich eifersüchtig gewesen?«

Sophie Boß schob die Augendeckel verschämt über die stahlgrauen Blicke.

»Seh' Sie mich einmal genauer an, Madam Mömmes,« sagte sie mit tonloser Stimme.

»Sophie, Sie wird doch nich glauben . . .

Wie eine Dulderin und in frommer Ergebung legte Sophie Boß ihre Hände zusammen; dann schlug sie ihre Augendeckel wieder nach oben.

»Ich glaube nicht nur,« entgegnete sie mit aller Bestimmtheit, »sondern ich weiß es. Auf mich ist sie eifersüchtig gewesen.«

»Herr, Du mein Christus – das weiß Sie?!«

»So gewiß,« versetzte die Lange, »wie ich hoffe, dereinstens selig zu werden.«

Vor den Augen der Madam Mömmes begannen die gegenüberliegenden Häuser zu tanzen. Auch die ehrwürdigen Linden vor dem Hause des Notars verloren ihre schickliche Haltung, räkelten sich hierhin und dorthin und schüttelten so bedenklich mit ihren weißen Allongeperücken, daß der Puder nur so herumvoltigierte.

»Aber wieso denn?!« entsetzte sich Lisbeth.

»Gert Liffers . . .!« stöhnte die Lange. Es war der einzige Laut, den sie vorbrachte.

»Warum das?«

»Weil er sich in allen Ehren bei mir eingetan hatte.«

»Was?!« schrie die Alte und nahm wieder ihre Kampfstellung ein. Erst wurden die Beine auseinandergestellt und dann die Hände auf die stämmigen Hüften geschoben.

»Pfui! – So' n Fraumensch dahinten! – Potiphar!«

Bei dem Worte ›Potiphar‹ spuckte sie auf das mit Gras durchwachsene Pflaster.

»Aber höre Sie, Sophie – das muß Sie mir alles genauer erzählen.«

»Hier?« fragte die Lange. Ängstlich zog sie ihr Pelerinchen zusammen und drehte den Kopf über die Schulter. »Man kann immer nicht wissen . . . die Leute sind heutigentages so seltsam. Alles hat Ohren, und ich bin doch noch immer ein Mädchen.«

»Das is Sie,« bekräftigte Madam Mömmes mit einem so gesinnungstüchtigen Kopfnicken, daß die hellen Bänder lustig auf ihrer gestärkten Fladuse herumkapriolten, »das kann ich beweisen un darauf die letzte Wegzehrung nehmen. Aber das tut nichts. – Komme Sie man ruhig in die Hintere Stube. Da hört uns kein Mensch nich. Ich lasse den Wasserkessel so'n bischen erzählen, tu' so 'n paar Bischüttchen hinzu, un denn: bei so 'nem leckeren Täßchen mit Kaffee spricht sich das alles besser zusammen.«

»Ach, ja!« nickte die Laken-Sophie mit ihrem glattgescheitelten Kopf und folgte der Alten auf ihren lautlosen Selfkantpantoffeln.

In dem weiten Flur des Armenhofes verschwanden die beiden. –

Die stattlichen Fenster der Hinteren Stube sahen auf den Garten hinaus, in dem sich an der rückwärts gelegenen Mauer die dicken Schattenmorellen schon allmählich zu färben begannen. Zwischen den scharf abgegrenzten Blumen- und Gemüserabatten flimmerte der Rheinkies. Eine träumerische Weltvergessenheit schien sich in diesem vereinsamten Gartenwinkel so recht behaglich zu fühlen; nichts regte sich zwischen den Stauden, und nur die hochbetagte Matrone, die Hüterin des Armenhofes, suchte auch hier ihr stilles und ordnendes Wesen zu treiben. Mit ihrer altmodischen Garderobe, dem Klöppelhäubchen und den verkleisterten Korkzieherlöckchen trippelte sie von Stämmchen zu Stämmchen, berieselte die trockenen Stellen und jätete mit spitzen Fingern das Unkraut aus dem lockeren Erdreich. Ab und zu schimmerte ihre schneeweiße Mütze über die Gartenbeete herüber – oder waren's die keuschen Lilien, die mit ihren Kelchen so fromm und gottesfürchtig zwischen den Lichtungen standen, als wär's Feiertag, und die Aveglocke begänne zu läuten? Ja – es waren Blumenkelche, große, schneelichte Kelche, und ein kleiner Rotschwanz saß auf der Gartenmauer und begann leise zu singen – leise zu singen. –

Die liebe Nachmittagssonne fiel schräg in das Hintere Zimmer und umspielte Lisbeths Kirschholzkommode, auf deren Platte, und zwar inmitten eines gehäkelten Deckchens, das sehr einfache Gipsbild des heiligen Aloysius von Gonzaga placiert war. Seitwärts von ihm stand je eine Porzellanvase mit vergoldetem Rändchen, aus denen ebensolche Blumen hervorsahen, wie sie da draußen im Garten so feierlich blühten und ihren Balsam verstreuten. Kraft ihrer Seelenstimmung hatte Lisbeth Mömmes diesen jugendlichen Asketen zu ihrem Privat- und Sonderheiligen erhoben; sie betete zu ihm in allen nur möglichen Lebenslagen, sie vertraute ihm blindlings und hatte dieserhalb schon manchen Triumph zu verzeichnen gehabt, manchen Triumph, den sie anderenfalls wohl schwerlich erlebt haben würde. So zum Beispiel, was hätte sich nicht alles begeben können, wenn sie in ihren seligen Träumen ahnungslos mit dem schönen Ismaeliten an den frommen Wassern des Nils promenierte? – Und da war sie doch immer so glücklich gewesen! – Der Mond stand über der libyschen Wüste, fern jenseits des Niles – und in den Wassern waren flüsternde Stimmen – und flinke Gazellen kamen und leckten dem braven Joseph die Hände . . . aber dann erschien sie: das Weib – die ekelhafte Person mit dem frechen Blick und dem durchbrochenen Kleid, das so dünn war wie Spinnweb . . . Jetzt war's Zeit! – »Heil'ger Aloysius, hilf uns!« – Ein kurzes Stoßgebet – und die Potiphar hatte ihre Macht verloren. Ja, Lisbeth Mömmes konnte sich auf den frommen Nachfahren derer von Gonzaga verlassen – und sein milder Blick streifte die riesige Bettlade, in deren Behälter sich wenigstens fünf mit blaugestreiftem Kattun überzogene Federkissen befanden, und er segnete das großblumige Sofa neben dem Schrank, wo Lisbeth gern so'n angenehmes Dämmerstündchen verträumte, ihr Schälchen Zichorienkaffee schlürfte und sich in vergangene Tage verlor, wo sie einmal jung gewesen, ein kurzes Eheglück durchkostet und dann als blutjunge Witwe zur Erkenntnis gelangte, daß alle irdischen Dinge nur Seifenblasen seien. Aber da oben, da oben . . .! – Und dann kamen wieder andere Momente, lustige Aussichten; heitere Lichtblicke taten sich auf, denn man gehörte doch keiner Klausur an, war keinem Orden verpflichtet – man mußte doch leben und das Leben genießen und sein Täßchen mit Kaffee trinken, auf daß man Genuß habe und es einem wohlergehe auf Erden. Na, das letztere befolgte denn Lisbeth Mömmes auch in ausgiebiger Weise, und sie gefiel sich wohl dabei bis zur heutigen Stunde. –

»So, da wären wir nu,« sagte die Alte, rückte den blankgescheuerten Tisch zurecht und nötigte ihren lieben Besuch auf das großblumige Sofa.

»Danke!« nickte die Lange, ließ sich mit einer gewissen Feierlichkeit auf das Kanapee nieder, legte erwartungsvoll die Hände übereinander und huschte mit ihren stahlgrauen Augen in der Stube umher, als sei sie von Amts wegen in Eid und Verpflichtung genommen, auch das geringste Inventarienstück auf das genauste zu prüfen.

Inzwischen holte die Dicke Tassen und eine weitbauchige Kanne herbei, stellte Bischüttchen und Waffeln auf den Tisch, rückte Zuckerdose und Wasserkessel zurecht und machte sich am Spirituskocher zu schaffen. Alsbald leckte denn auch so 'ne schöne himmelblaue Flamme nach oben, tänzelte auf und nieder und züngelte um die Messingteile des blankgescheuerten Kessels.

»So!« sagte Lisbeth und setzte sich der ausgemergelten Sophie gerade gegenüber. Mit einem tiefen Seufzer begann sie: »So weit wären wir nu, denn alles hat seine Zeit: Steine sammeln un Steine verstreuen, verliebt sein un nich verliebt sein – aber daß ein verheiratetes Fraumensch . . .«

»Je!« machte die Laken-Sophie und schob bedauernd ihre Schultern nach oben, »man hat auch noch heutigentags Beispiele von schlimmen Exempeln . . .«

Sie sprach nicht weiter, ergriff aber ein Löffelchen und läutete damit gegen eine der vor ihr stehenden Tassen.

»Bedenke Sie aber, Mamsell Sophie: ein verheiratetes Fraumensch . . .! – un denn: sie is doch die leibhaftige Mutter von Threschen.«

»Stimmt schon,« lächelte Sophie Boß so recht überlegen, als könnte ihr auch nicht die kleinste Falte des menschlichen Herzens entgehen, als hätte sie schon längst die subtile Frage gelöst, wieviel Erzengel auf einer Nadelspitze zu tanzen vermögen. »Stimmt schon, stimmt schon, meine liebe Frau Mömmes, allein, wenn man in Erwägung zieht, daß die nunmehrige Frau Aleit van Laak, geborene Hemskerk . . .«

»Ach, du mein Christus!« ereiferte sich die Behäbige und purrte den Docht der Spirituslampe ein wenig nach oben, »das sind abgestandene Brötchen, die niemand mehr annimmt.«

»So?!« meinte die Lange und glitt mit ihren stechenden Blicken an der spitzen Nase herunter. »Abgestandene Brötchen?! – da bin ich denn doch ganz konträriger Meinung, – Was wollen zehn lumpige Jahre besagen?! – Alte Liebe, Frau Mömmes . . .!« und bedeutungsvoll streckte sie ihren rechten Zeigefinger zur Decke. »Allerdings von seiner Seite – nicht rühr' an die Sache, aber bei ihr: da sitzt das noch immer, da vergißt sich so 'ne alte Geschichte so leicht nicht, denn sie hat so 'n heißes, brennendes Ding an der Stelle, wo unsereins nur ein einfaches, wenn auch liebevolles und inniges Herz trägt. Und die Augen, Frau Mömmes, die Augen . . .! – Ne, ne, ne, meine liebe Madam, das weiß ich schon besser,« und energisch plättete sie mit ihren angefeuchteten Händen über die glattgescheitelten Haare, »die kann nicht vergessen und will nicht vergessen – und wenn das so weiter geht, dann ist sie zu guter Letzt noch imstande . . .«

»Un das weiß Sie so sicher?«

»Madam Mömmes,« versetzte die Jungfer und lehnte sich ergebungsvoll in eine Ecke des Sofas, »wer Augen hat zu sehen, der sehe, und wer Ohren hat zu hören, der höre. Das steht irgendwo in meiner Handpostille geschrieben – und ich habe Augen im Kopf und Ohren zum Hören, und die Geschichte ist also.«

»Na, endlich!« kam es wie eine große Erlösung aus dem Busen der stattlichen Dame. Jedenfalls stand sie unter dem Bann einer tiefen Erwartung, denn sie legte plötzlich ihre speckige Hand auf die Herzgrube, um das an dieser Stelle aufgetretene Pochen ein wenig zu dämpfen. »Denn los man!«

»Das mögen nun vier oder fünf Tage her sein,« erzählte die Laken-Sophie mit verschleierten Augen, »da sitze ich mit meinem Nähzeug in der Eckstube des Fingerhutshofes, die nach vorne 'raus geht, und kann so recht nicht mehr sehen, denn draußen war's schon so 'n wenig schummrig geworden. So was Düsteres fingerte über den Deich fort. Da mit einmal sang das kleine Threschen im Hofe:

Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!

Wie nett, dachte ich noch in meinem dösigen Kopfe und hatte gar kein Arg dabei, daß an dieses Begebnis sich 'ne große Geschichte anknüpfen täte.«

»Aber wieso denn?«

»Warte Sie ab,« meinte die Lange. »Sie pickt einem immer schon vorweg die dicksten Rosinen aus dem Neujahrsweck heraus, der noch lange nicht gar ist. – Aber wer spricht da?«

Ängstlich drehte die Erzählerin ihren Kopf auf den Schultern. »Madam Mömmes, Sie hat doch soeben deutlich gesprochen?«

»Ne,« sagte die Dicke, »man weiter.«

»Seltsam!« muffelte Sophie Boß zwischen den blutleeren Lippen und begann weiter zu sprechen: »Ich hörte deutlich, wie Knechte und Mägde von den Wiesen, wo sie gemelkt hatten, zurückkamen. In den Ställen brüllte das Vieh auf, denn es war Futterzeit – und das Schummern wurde immer stärker und stärker. – Wollen man Licht machen, meinte die Aleit. – Schön, sagte ich, und die Bäuerin ging hinaus, um die Lampe zu holen. Aber sie kam nicht und kam nicht; das dauerte ewig und ewig.«

»Warum denn?« fragte die Dicke und rückte unruhig mit ihrem kräftigen Hinterteil auf den Binsen herum.

»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes willen – wie Sie immerzu sagen – Frau Mömmes! – Meine besten Rosinen . . .«

»Ach, so!« machte die Alte und gab sich zufrieden.

»Und sie kam nicht und kam nicht,« fuhr die Lange mit gespenstischem Ton fort, »bis schließlich die Tür ging, und sie ganz verbaselt und ängstlich hereinkam.«

»Na, wer denn?«

»Die Aleit.«

»Gott, ne nich!«

Madam Mömmes entledigte sich eines dicken Seufzers, der aber weiter nicht störte, denn die Laken-Sophie ließ sich nicht aus der Fassung bringen, machte eine geheimnisvolle Bewegung und sagte: »Sie hatte inzwischen mit Threschen gesprochen – und Threschen war auf dem Leedeich gewesen – und auf dem Leedeich mußte irgend 'ne große Geschichte passiert sein – 'ne große Geschichte. Das will ich beschwören.«

Mit einem energischen Ruck streckte die Lange zwei Finger nach aufwärts.

»Jesus Christus noch mal!« entsetzte sich Lisbeth, »man kriegt ja zu viel bei die gruselige Sache!«

»Kann man auch kriegen,« bestätigte Sophie mit funkelnden Augen, »denn das kann ich beschwören – kann ich beschwören . . .!« – und gedämpfter fortfahrend erzählte sie weiter: »Und von diesem Moment an hatte die Bäuerin keine Ruhe mehr in ihrem eigenen Zimmer. Sie lief um den Tisch 'rum, dreimal um den magahonischen Tisch 'rum, wo die großen Leinwandstücke man so gottsverschwenderisch aufgepackt waren, kuckte in alle Spinde und Schränke, wo's – so wahr mir Gott helfe zum ewigen Leben! – auch nichts weiter zu kucken gab wie an gewöhnlichen Tagen, und dann wurde sie stiller und stiller und setzte sich in eine Ecke des Zimmers. Aber das Lampenlicht fiel ihr direkt ins Gesicht, und wie ich sie mir so näher besehe – na, Madam Mömmes, was meint Sie wohl, was ich da unter meine Augen bekomme . . .

»Na, was denn?!« fragte Lisbeth in höchster Erregung.

»Sie weinte – das Fraumensch, und trug doch 'nen regulären Trauring am Finger. In den Boden hinunter hätte ich mich so richtig hineinschämen mögen, wie ich das ansah, denn das kann Sie mir glauben, ich weiß schon auf das Gepfeife der Vögel zu laufen, ich kenne mich aus und tu' nicht so ohne weiteres drei mal drei für gerade verschleißen.«

»Da hat Sie schon recht,« versetzte die Alte und stocherte mit einer Stricknadel in den Docht des Spiritusbrenners.

»Also ich saß da,« begann die Laken-Sophie von neuem, »und stand gerade im Begriff, 'nen frischen Faden zu wachsen, als die Bäuerin sich aufhob, die Tränen verwischte und wie in Gedanken vor sich hinmurmelte:

Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!

Es war dasselbe Lied von dem kleinen Threschen da draußen. – Das hab' ich früher auch mal gesungen, sagte die Aleit, auch mal gesungen, auch mal gesungen . . .. und dann war sie näher getreten, tat wie so 'n schnurrendes Kätzchen, fragte so auf Umwegen 'rum nach Gert Liffers – und wann er zurückgekommen aus Holland – und warum er sich bei mir eingetan hätte – und wie sich jetzt der Deichgräf befände und immer so weiter. Aber da ist sie bei mir an die richtige Adresse gekommen! – Nichts hab' ich gesagt, mit Wachs hab' ich mir das Mundwerk verstopft, und geschwiegen hab' ich wie 'ne zehnpfündige Sterbekerze, die bei 'nem funkelnagelneuen und frisch gefirnißten Sarg steht. – Madam Mömmes, das bin ich ihrem echtgoldenen Trauring schuldig gewesen – ich mußte so handeln; aber das paßte ihr nicht, sie wollte was anderes, und da sie's nicht kriegte, ist sie bleich wie die gekalkte Wand hier in der Stube geworden. Na – und die Augen! – Madam Mömmes, die Augen! – Da stand's drin geschrieben – mit glühenden Zeichen geschrieben – genau so geschrieben wie das ›Mene Tekel‹ in dem lästerlichen Pallä des sibirischen Königs.«

Die Laken-Sophie atmete auf.

»Um Gottes willen – was denn geschrieben?!« drängelte Lisbeth.

»Die Sünde – die eifersüchtige Sünde . . .

»Auf Sie?«

»Auf mich,« konstatierte die Lange, »und dann hielt sie sich, was die Aleit ist, an der Platte des Tisches, als wenn ihr die Beine alle werden wollten unter dem Leibe, schüttelte entsetzt mit dem Kopf und nannte seinen wirklichen Namen. Nannte?! – Sie schrie seinen Namen: »Gert Liffers! – Gert Liffers . . .

Die letzten Worte hatte die Erzählerin mit ihrer durchdringenden, gläsernen Stimme wie krähend gerufen.

»Schrei Sie nich so!« entsetzte sich Lisbeth.

Sophie Boß sah die Erregte mit toten Augen an. »Was kann ich denn dafür, ich muß doch die Wahrheit berichten,« bemerkte sie hastig, »und wenn auch die Sache schon an und für sich bedenklich genug war, sie wurde noch viel bedenklicher durch den fatalen Umstand, daß nebenan was nicht stimmte, denn grobe Schritte ließen sich hören, dann wurde die Tür aufgerissen – und Barthes van Laak war ins Zimmer getreten.

»Wer?« zitterte Lisbeth.

»Der Donnerjü – und so war er ins Zimmer getreten.«

In ihrer ganzen Länge schnellte die Laken-Sophie vom Sofa, reckte sich auf, bekam ihr Goldkreuz zu fassen, preßte es nervös zwischen den Fingern und blitzte mit ihren gespenstischen Augen.

»Höre Sie auf,« wehrte die Dicke ab, »ich sterbe ja vor Schreck am hellichten Tage!«

»Glaub's schon,« sagte die Lange und ließ sich wieder in das Kanapee fallen, »ist's mir doch selber passiert, und ich hätte zuviel kriegen können, wie so der Donnerjü gleich 'nem kollrigen Bullen ins Zimmer marschierte, auf sein Weib losfuhr und mit so 'nem fürchterlichen und gotteslästerlichen Fluche herauskam. Gottverdomie noch mal! – so hat er gerufen – hör' ich noch einmal den Namen ›Gert Liffers‹ hier auf meinem Grund und Boden und dem Fingerhutshofe – dann Gnade Euch allen! – Und das Weib stand da und wollte in die Erde versinken. – Das konnt' ich nicht ansehn und meinte: Herr Barthes van Laak, ich habe von Gert Liffers gesprochen. – Auch gerufen – geschrieen?! – Ja, Herr Barthes van Laak, ich hab' auch geschrieen.«

»Das war nobel von Ihr,« warf Lisbeth Mömmes dazwischen.

»Damit hat er sich denn auch zufrieden gegeben,« ergänzte die Laken-Sophie, »und ist wieder in die Nebenstube gegangen. Ich aber hatte genug von dem Abend, packte mein Nähzeug zusammen und bin ganz stillkes und mit meinen eigenen Gedanken nach Hause gegangen. Ob ich noch mal hinmache, um die äußerst opulenten Hemden zu schneidern, das weiß nur unser lieber Herrgott da droben im Himmel.«

Mit einer feierlichen Geste deutete sie dabei in Richtung der Decke.

Frau Mömmes saß wie verstört und konnte keine Worte mehr finden, während die Lange den Hals gedreht hatte und zum Fenster hinaussah.

Draußen war der Sonnenschein schon längst schlafen gegangen. Einzelne Schatten huschten an den Fensterscheiben vorüber. Es waren Fledermäuse, die beim Beginn der Dämmerstunden um die Häuser irrten. Allein die Helle des Sommerabends war noch immer hinreichend stark genug, um alles deutlich erkennen zu lassen. Jedes Blättchen da draußen zeigte seine scharfe Umrandung. Die Lilien standen wie kalkige Flecke im Grünen.

Das Schweigen zwischen den beiden Schicksalsfrauen dauerte lange. Jede war mit ihren eigenen Ideen beschäftigt. Plötzlich jedoch wandte sich die Laken-Sophie und fragte: »Madam Mömmes, was meint Sie?«

»Ich?«

»Sie hat doch soeben deutlich gesprochen?«

»Keine Sterbenssilbe,« beteuerte die zur Rede Gestellte.

»Nanu!« sagte die Lange, »hier wurde doch soeben durch die Nase geredet. Jedes Wort habe ich wie das Amen in der Kirche verstanden.«

»Sie wird ja geradezu unheimlich mit Ihrem Gerede.«

»Wieso denn?«

»Weil ich nich mal ans Sprechen gedacht hab'.«

»Dann ist jemand anders im Zimmer.«

Die beiden sahen sich an.

»I, prosit die Mahlzeit!« lachte schließlich die Alte und deutete auf den fauchenden Wasserkessel. »Der hat gesprochen.«

Und richtig so war es. – In allen nur möglichen Tonarten ließ der kupferne Gesell seine Stimme vernehmen. Er fauchte und surrte, und dann schien es wieder, als spräche irgendein Bauchredner in einer verlorenen Ecke des Zimmers. Zeitweilig schnappte er nach Luft, begann ein gedehntes Klagen, gleichsam wie die getragene Melodie einer Kniegeige, durch die Nase zu ziehen, orgelte, was er auch nur immer auf dem Herzen hatte, in langen Kadenzen herunter, um dann wieder wie ein verschlafener Nachtwächter auf seinem verstimmten Horne zu tuten. Es war geradezu merkwürdig, daß die beiden Frauenzimmer das Verhalten des kochgaren Wassers so spät erst bemerkt hatten, zumal auch der Deckel schon längst aus seiner Reserve getreten war, in einem fort klapperte und auf dem Rande des Topfes herumhopste. Ein heißer Schwaden drängelte sich aus der zierlichen Tülle, strebte in langen Spiralen nach aufwärts und erfüllte die Stube mit dem Zauber jener geheimnisvollen Wasserbläschen, die in so anheimelnder Weise auf den Genuß des duftigen Kaffees vorbereiten.

Mit regstem Interesse folgte denn auch die Laken-Sophie dem appetitlichen Hantieren der behäbigen Wirtin, die den bräunlichen Trank in der stattlichen Kanne ansetzte, einschenkte, etliche Stücke wasserklaren Kristallzuckers hinzutat und die Milch präsentierte.

Sophie Boß war keine Freundin vom langen Nötigen. Sie genierte sich überhaupt nicht so leicht, griff ordentlich zu und tauchte ein Bischüttchen nach dem anderen in die duftende Brühe.

Herrje, wie das schmeckte!

Sie geizte denn auch in keiner Hinsicht mit ihrem sonst so spärlichen Urteil im guten Sinne, schleckte und lobte, was das Zeug halten wollte. Es konnte daher auch kein Wunder nehmen, daß sie bei ihrer Arbeit nicht weiter der soeben erzählten Affäre gedachte, den Fingerhutshof und seine Insassen vergaß und bald ein Wäffelchen, bald ein knusperiges Bischüttchen hinter das schwarze und sorgfältig gefaltete Pelerinchen spedierte. Ne – so 'nen feinen Nachmittag hatte sie sich schon lange gewünscht, den konnte sie sich rot anstreichen in ihrem Sankt Bonifaziuskalender . . .! – und dazu summelte der Wasserkessel so äußerst genüglich, und die Kaffeetassen klapperten so heimlich auf den Untersetzern, daß es ihr ankam, als habe sie schon jetzt einen Vorgeschmack der paradiesischen Freuden, die sie allerdings erst nach ihrem gottwohlgefälligen Ableben gründlich zu durchkosten gedachte.

»Surre, surre!« machte der Kessel.

Madam Mömmes war allerdings auch bei der Sache, konnte sich aber noch immer nicht von dem Banne des Gehörten befreien; es saß ihr wie 'ne Kartoffel im Halse. Sie konnte sich nun einmal nicht helfen: trotz des warmen Kaffees rieselte es ihr eiskalt über den Rücken, sie wollte alles wissen, sie wollte Aufklärung haben – die dicke Kartoffel mußte herunter. Und als sie nun wahrnahm, daß die lange Sophie Anstalten machte, den achten Zwieback und die achte Waffel vom Teller zu fingern und in die volle Tasse zu tunken, da hatte sie die ihr obliegenden Pflichten als Wirtin vergessen – totaliter und bis auf den letzten Schnipsel vergessen.

Mit einem kregelen Hopser war sie von ihrem Sitze gefahren, breitete alle Finger über die Leckertäten aus und meinte: »Einen Momang, Mamsell Sophie! – Bevor Sie nu weiter dem feinen Backwerk die außerordentliche Ehre antut, möchte ich mir denn doch noch so 'ne kleine Frage erlauben.«

»Bitte,« sagte die Lange und legte das Kaffeelöffelchen, mit dem sie gerade in der Tasse herumrühren wollte, mit einer gewissen Ostentation neben den Teller.

»Um tausend Gottes willen noch mal!« ging Frau Mömmes unentwegt auf ihr Ziel los, »Sie hat mir da allerdings 'ne große Litanei hergebetet, die äußerst pläsierlich sich anließ, un die ich nich kumpabel bin, sofort zu begreifen – aber nu sage Sie mal: was hat Sie denn selber mit die ganze Geschichte zu schaffen?«

Die Laken-Sophie saß wie versteinert.

«Ich?« fragte sie mit aufgerissenen Augen.

»Ja, Sie,« meinte die Dicke.

»Aber – nu höre Sie mal!«

»Wieso denn?«

»Madam Mömmes, ich dächte, das müßte Sie doch längst herausgefühlt haben.«

»Mit keinem Fitzel,« war die ruhige Antwort.

»Herr, Du mein Christus . . .

»Mamsell Sophie, man sachte! – Man kann doch nich durch die Türplanken kucken; man is doch ein bischen scharnierlich; man weiß zwar ein wenig, wenn auch nich alles – un ich dächte, Sie wäre so halber mit dem Herrn Sekretarius Knippscheer versprochen.«

»War ich,« sagte die Lange, »bin ich einmal gewesen,« und in tiefer Ergebenheit ließ sie ihre Hände sanft in den Schoß gleiten.

»Na – un?« fragte die Dicke.

»Madam Mömmes,« entgegnete die Nähterin verschleierten Blickes, als müßte sie den dichten Flor von einer bisher nicht erkannten Tatsache heben, »wenn's Frühjahr kommt, werden die Butterblumen auf den Wiesen lebendig, wenn's Sommer wird, dann dengeln die Bauern und werfen das Korn auf den Boden, im Herbst kriegen die Äpfel rote Backen und purzeln vom Baume, und im Winter dann fällt das leise vom Himmel, bis die Welt eingeschneit ist und den Herrn Jesus Christus erwartet.«

Madam Mömmes nickte vor dieser abgrundtiefen Erkenntnis.

»Und wie das in der Natur so Mode geworden, so ist das auch justemang im menschlichen Leben. Der Mensch will Abwechslung haben – und darum: ich hab' mich verändert.«

»I, was!« erstaunte sich Lisbeth.

»Ich will kein Spierchen, kein Titelchen gegen den Herrn Sekretarius Knippscheer sagen,« dozierte die Laken-Sophie aufs neue. »Er hat seine Stellung, seinen reputierlichen Namen, hat was prestiert in der Welt – aber ich kann Ansprüche machen.«

»Das kann Sie,« gab Lisbeth zurück, »weiß Gott im Himmel, das kann Sie!«

Ein dankbarer Blick kam ihr von der Langen entgegen, die sich abermals in ihrer ganzen Größe erhoben hatte.

»Madam Mömmes,« begann sie, »es ist zwar schon überall schummrig geworden, aber noch immer helle genug, um mich gehörig bekucken zu können. Na, was meint Sie von meiner äußeren Ansicht? – Hä?! – dran kann sich schon ein Mannsmensch so richtig berauschen; das sieht man nicht immer!« und liebevoll strich sie über ihren spärlichen Busen und dann an der schlanken Taille herunter. »Und weiter – drauf kann ich ruhig vor dem Herrn Pastor bestehen: 'ne reine Jungfer bekommt der Zukünftige, rein wie die frischgewaschene Häkeldecke auf der Kommunionsbank in unserer heiligen Kirche. – Ne, ne, ne, Madam Mömmes, solche Jungfern, wie ich eine bin, sind rar geworden auf dieser sündhaften Erde!«

»Stimmt schon, stimmt schon,« akkompagnierte die Dicke, »un da is Sie denn auf Gert Liffers verfallen, so kurzerhand auf Gert Liffers verfallen?«

»I, Gott bewahre!« entrüstete sich die in ihrer Ehre Gekränkte, »umgekehrt ist hier Trumpf in der Karte. Im konträrigen Gegenteil, liebe Frau Mömmes! Er selber, um es richtig zu sagen, ist vorliegenden Falls das herzliebe und unschuldsvolle Karnickel gewesen; denn warum hat er sich gerade bei mir eingetan? – Warum ist er nicht anders untergekommen? – Warum grüßt er mich immer so lieb auf der Treppe und lobt meinen Kaffee, wenn ich ihm jeden Morgen mit meinem schwersilbernen Tablett . . .«

»Neusilber, Neusilber!« warf Lisbeth dazwischen.

»Wollt' ich auch sagen – wenn ich ihm mit meinem neusilbernen Tablett unter die Augen begegne? – Je, warum, Madam Mömmes?«

Der Beweis war erbracht; ihre Partnerin konnte nicht anders, sie klatschte die Hände zusammen und meinte: »Wenn das noch passierte, dann könnten wir ›Halleluja!‹ singen un ›Tauet Himmel dem Gerechten, Wolken regnet ihm herab!‹« und es fehlte nicht viel, dann hätte Lisbeth Mömmes noch einen regulären Walzer vom Stapel gelassen.

Allein, wie das so häufiger vorkommt: die ausgelassene Lustigkeit der kompletten Dame sprang nicht auf die andere über.

Die Laken-Sophie stand schwer in Gedanken, fingerte an ihrem Goldkreuz herum und sagte: »Das ist alles recht schön und stimmt auch – aber wenn ich doch nur so 'ne richtige Gewißheit hätte, so 'n Spierchen Gewißheit!«

»Was will Sie haben?«

»Gewißheit.«

»Wenn's weiter nichts is!« triumphierte die Dicke. »Die krieg' ich heraus; wollen mal so'n bischen das Orakel befragen,« und noch bevor Sophie Boß sich mit ihrem Staunen abgefunden hatte, war ihre Freundin auch schon aus dem Zimmer verschwunden.

Die Lange stand nun allein in der Stube.

»Orakel?!« fragte sie mit umflorter Stimme. »Sie will das Orakel befragen?«

»Ja!« ließ sich jemand in ihrer Nähe vernehmen.

»Um Gott nicht – wer spricht da?«

Keiner hatte gesprochen, nur der Wasserkessel rumorte und warf mit einem lauten Stöhnen den kupfernen Deckel zu Boden. Draußen wurden die Schatten immer länger und tiefer. Nur noch eine schwache Dämmerhelle drängte sich durch die unverhangenen Scheiben.

Lisbeth war wieder ins Zimmer getreten und legte zwei Kartoffeln neben den Kessel.

»Wollen erst Licht anmachen,« sagte sie leise, »das gehört zu's Orakel,« ging hin, setzte zwei Kerzen in Brand, stellte sie neben das Gipsbild des heiligen Aloysius von Gonzaga und begann damit, die beiden Kartoffeln zu schälen. Alsbald waren die bräunlichen Spiralen mit scharfem Messer gedrechselt. Diese nahm sie und bestieg einen Stuhl, den sie in die Mitte der Dielen gerückt hatte.

Atemlos folgte Sophie Boß dem geheimnisvollen Treiben der Dicken.

»Jetzt muß Sie an nichts denken, wie nur an Ihren Geliebten.«

»Das tu' ich,« seufzte die Lange und legte ihre rechte Hand auf den Busen.

»Is Sie so weit?«

»Das bin ich.«

»Na, denn also!«

Wie eine dicke Unterpriesterin der Velleda, die einst in den Wäldern der Brukterer weissagte und das richtige Wort fand, thronte Frau Mömmes mit ihrem umfangreichen Untergestell auf den eingetrockneten Binsen, das spätere Geschick einer noch unbescholtenen Jungfrau in Gestalt von Kartoffelschalen in je einer Hand haltend. Allerdings muß gesagt werden, daß Velleda und ihre Gefährtinnen noch zu den heidnischen Göttern flehten, Mutter Mömmes jedoch zur christkatholischen Kirche gehörte und dementsprechend auch ihre Formel einrichten mußte.

Sie sagte denn also: »Kartoffelschale zur Rechten – ich werfe Dir im Namen des Vaters, des Sohnes un des heiligen Geistes! – Eins, zwei, drei . . .!« und da flog die Schale über die rechte Schulter und fiel klatschend zu Boden.

Die Laken-Sophie wollte in ihrer Erregung schon zuspringen.

»Halt!« schrie die Beschwörerin, »ich bin noch nich fertig.« Und wieder begann sie: »Kartoffelschale zur Linken – ich werfe Dir im Namen des Vaters, des Sohnes un des heiligen Geistes! – Eins, zwei, drei – Amen!«

Wiederum klatschte die Schale zur Erde.

Vom Stuhl springen, eine Kerze ergreifen, auf den Dielen 'rumleuchten und dann einen Freudenschrei ausstoßen – dieses folgte so schnell aufeinander wie purzelnde Kegel, wenn die Kugel in die richtige Gasse hineinfährt.

»Mamsell Sophie, ich bitte Sie um tausend Gottes willen noch einmal! – hier die erste Schale ein ›G‹ – die zweite ein ›L‹ . . . das bedeutet?! – Karauschen un Maibutter – das bedeutet: Gert Liffers – Gert Liffers . . .

»Lisbeth, Lisbeth!« jubilierte die Lange, »heilige Lisbeth – Sie verdiente, wie Elias in einem feurigen Wagen gen Himmel zu fahren!«

Und die beiden Schicksalsschwestern lagen sich gerührt in den Armen und weinten vor Freude.

Und der heilige Aloysius von Gips hatte die Arme gebreitet, und der dickbauchige Wasserkessel surrte dazu und begann lustig auf seiner kupfernen Tülle zu blasen – und da draußen! – da hatte der liebe Gott das helle, klare Licht der Vernunft ausgepustet – für heute ausgepustet, denn die liebe Sonne war schon lange untergegangen.

 


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