Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XXI Der Trauerkaffee

Die Babbeltjes-Lena schlief nie bis in den späten Morgen hinein. Sie war kurzschläfrig veranlagt, teils wegen ihres hohen Alters, teils aus Gewohnheit. Im allgemeinen waren ihr Bett und Federposen zuwider. »Man lebt nur einmal,« philosophierte sie immer, »das Leben is kurz, un das Bett is 'ne Art von Totenlade – also warum sich das Dasein einer Eintagsfliege aus freien Stücken un zwischen die Schlafkommode unnötigerweise noch kürzer machen?!« – und dabei hatte sie fast achtzig Jahre geladen, war niemals krank oder kränklich gewesen, kannte den Doktor nur von Ansehn und wußte seinen Namen lediglich von dem blankgeputzten Messingschildchen her, das ihn den Hilfsbedürftigen als Arzt für innere und äußere Krankheiten, Chirurg und Geburtshelfer in die Erinnerung brachte. Ihr Haus lag dicht neben dem seinen – also, wenn sie ihn nötig gehabt hätte . . . Allein, sie brauchte ihn niemals, gab nichts auf alle ›Dökters‹ zusammen genommen, war im kalten Winter um fünf, und wenn die Nächte sich kürzten, bereits um vier aus den Kissen, sah, wenn es auch schon längst dunkel geworden, wie'n listiges Käuzchen, hörte wie 'ne richtige Spitzmaus und war noch immer viv auf den Beinen.

So vernahm sie denn auch, wie kurz nach dem Verstummen der Notglocke beim Doktor nebenan dreimal die Klingel ertönte, ein Fenster sich auftat und eine sonore Stimme fragte, was es denn gäbe. Eine zweite erzählte nun in abgerissenen Sätzen, daß auf dem Vorwerk etwas passiert sei, der Donnerjü 'ne Art von Überfahrung bekommen habe und jetzt im Bett der Strohblonden läge und so ganz komisch die weiße Decke bestiere.

»Wird wohl schon zu spät sein,« sagte der Doktor, »will aber kommen,« und damit knallte er das Fenster zu, daß es dem alten Weibchen bis in die äußersten Zehenspitzen hineinfuhr.

»Da hast Du mir!« ereiferte sich die Babbeltjes-Lena.

Entsetzt war sie in die Höhe gefahren.

»Vorwerk – Donnerjü – Überführung bekommen . . .!« zählte sie an den Fingern herunter, verschluckte aber das Bett der blonden Stina und betete dafür drei Vaterunser, um auf diese Weise der fürchterlichen Situation wenigstens das Sündhafte zu nehmen, kam aber in ihrer wehmütigen Betrachtung schließlich auf den Gedanken, daß möglicherweise Sophie Knippscheer hierdurch ein unbändiges Glück haben könne.

»Herr, Deine Wege sind wunderbar!« sagte sie hierauf in gehobener Stimmung, »denn was dem einen seine Uhl is, is dem andern sein Kanalljenvogel,« nahm die Mühle vom Spind, tat fünfundzwanzig Bohnen mehr in den Trichter und mahlte sie dann, indem sie mit ihren lebhaften Augen beobachtete, wie der Morgen langsam an den gegenüberliegenden Dächern emporkroch.

Trotz der nächtlichen Schrecknisse regte sich wieder das alltägliche Leben. Der Küster kleppte die Frühmesse an, der Bäcker gegenüber schlug die Läden zurück und stellte seine Brote aus, weiter zur Linken erschien die dicke Schneidersfrau im Hemd und in ihrer rotgepunkteten Nachtjacke am Fenster, gähnte und sah nach dem Wetter, während Herr Petrus Nagel mit brennender Pfeife auf seinem Fahrrad vorbeisauste, um Einsicht in die durch das Hochwasser verursachten Schäden zu nehmen.

Alles beobachtete das eisgraue Weibchen. Nichts entging dem Spitzmausgehör und den haarscharfen Blicken.

Als dann der Herr Doktor nach zwei langen Stunden zurückkehrte, die Haushälterin bald darauf in der Tür erschien, um frischgebackene Semmel zu holen, und Lena, neugierig wie sie war, von dieser herausbrachte, daß Barthes unter höchst merkwürdigen Umständen das Zeitliche gesegnet habe und ›Rips‹ sei, ihm auch trotz der großen Kunst ihres Herrn nicht mehr zu helfen gewesen, da konnte sich die Alte ungeachtet ihrer christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe nicht halten: ein prickelndes, freudiges Wohlbehagen durchfuhr sie. Andächtig nickte sie mit ihrer großen Knippmütz, daß sich die Goldspiralen zitternd bewegten und meinte: »Vielleicht hätte ihm Kamillentee wieder auf die Beine gebracht – aberst besser is besser!

Silke, salke, sente –
Der da gibt Präsente! –

denn nu hat Sophie zu ihre mannbaren Plüschpantoffeln noch die reiche Erbschaft für gratis bekommen,« schlug sich in aller Eile ihr Morgentuch um und begab sich zur Langen. – – –

Fürchterlich hatte das Wasser draußen gewütet. Die Stadt, obgleich in den unteren Stellen durchflutet, war so leidlich aus der ganzen Katastrophe hervorgegangen. Aber im Tiefland lag die unheimliche Spreite ausgetan, die die keimende Saat bedeckte, Ortschaften umzirkte und die Hoffnung eines ganzen Jahres zerstörte. Die weniger massiven Gebäude waren vernichtet oder hingen windschief ob der lehmigen Fläche, und die noch kahlen Baumkronen ruhten darauf, als könne stündlich eine mächtige Hand kommen, um sie als gewaltige Kegelbälle über das angeschwollene Tief zu rollen. Der Fingerhutshof hatte am meisten gelitten. Bis unter die Dachsparren der Scheunen und Ställe züngelte das gierige Wasser, während die schwächeren Bauten überhaupt niedergestampft waren. Dem Hof gegenüber streckte sich der Leedeich mit zerrissenem Herzen. Wie reißende Tiere hatten die Fluten in seinen Eingeweiden gewütet. Auf Rufweite hinaus klaffte die entsetzliche Wunde. Fünfzehn nebeneinander gekoppelte Rheinschiffe hätten hindurchfahren können. Stetig bröckelte es von den zermarterten Flanken. Von den Fluchthügeln her brüllte das angetriebene Vieh. Schauerlich hallte es durch den trübfeuchten Morgen.

»Deichgräf – Deichgräf – Deichgräf!« fröstelte der Viehweidshöfer in seinem durchweichten Kittel, »wenn wir Dir doch früher gefolgt wären . . .

Während der ganzen Nacht, den Rosenkranz zwischen den Fingern, hatte er zu Gott um ein gnädiges Gericht und eine milde Strafe gebetet. Als er dann aber ums Morgengrauen gewahrte, daß ihm zwölf seiner besten Milchkühe, dreiunddreißig Mutterschafe und fünf, erst kürzlich erstandene Rambouillet-Böcke fehlten, da fuhr ihm der Grimm unter den niederrheinischen Ökonomenschädel, daß es man so fauchte und rauchte.

»Wat mott, dat mott,« schrie er den unglückseligen Rosenkranz an, »mar wat niet mott, dat mott niet . . .! – Himmel, Herrgott! – wenn Du das nicht mal kannst, denn geh' Du auch selber man schwimmen mit die Kühe und Hammels!«

Sinnlos vor Wut zerriß er die Schnur und schleuderte Kreuz und Pockholzkügelchen mit einem saftigen Fluch weit hinein in das röchelnde Wasser. Knechte und Mägde bekreuzigten sich, und das Vieh brüllte geängstigt auf, als der Viehweidshöfer sich mit diesem sichtlichen Sakrileg das Gewissen belastete. Ihm selber war's egal, was die Menschen von ihm dachten und hielten. Er skandalierte weiter und kam schließlich ganz aus dem Häuschen, als ihm mitgeteilt wurde, daß Barthes van Laak in der verflossenen Nacht mit Tod abgegangen.

»Himmel, Herrgott!« schrie er da auf, »hat der Kerl noch zuguterletzt die große Nummer gezogen! – Kann das Malör nicht mehr sehn, braucht sich nicht die Schwindsucht an den Hals zu ärgern, während ich . . .«

Und der arme Donnerjü schlief ruhig und still dahinten im Vorwerk, fluchte nicht mehr und ließ keinen Pfropfen mehr springen. Die Hände mit den bläulichen Fingernägeln gefaltet, die Ohren durchscheinend wie Porzellanmasse, mit spitzer Nase und eingefallenen Schläfen lag er in der unbestimmten Dämmerhelle des verlorenen Zimmers und sah immer zur Decke – immer zur Decke . . . Noch vor Abend wurde er in die kleine Stadt überführt, um vom Totenhäuschen der barmherzigen Schwestern aus drei Tage später beerdigt zu werden. – – –

Die ungeheuerlichsten Vermutungen und Ansichten verknüpften sich mit dem plötzlichen Ableben des Fingerhutshöfers. Ohne etwas Bestimmtes zu wissen, setzte man die wunderlichsten und abgeschmacktesten Dinge in Kurs, zäumte sie auf, exerzierte auf ihnen herum, bis man ihrer überdrüssig wurde und sie lendenlahm wieder in den Stall des Vergessens hineinzog. Der Herr Polizeidiener Weber witterte sogar Mord und Totschlag in der heiklen Affäre, während Krispinus van Bommel dem wirklichen Sachverhalt am nächsten kam und kurzerhand seine Ansicht mit den Worten erklärte: »Stina, Ärger, Kurzhalsigkeit, Rotspon – Strich unter die Rechnung! – macht in Summa Summarum: ›Schlag Neune‹« – ein Additionsexempel, das ihm alle Ehre machte und den Vermutungsnagel so ziemlich regelrichtig in die Wahrscheinlichkeitskiste hineintrieb.

Sophie Knippscheer, die das geheimnisvolle Geschehnis aus erster Hand und noch semmelwarm von der Babbeltjes-Lena erfahren hatte, bezeichnete den traurigen Vorfall als eine strenge, wenn auch gerechte Fügung des Himmels, dachte dabei an den getätigten Akt und sah durch eine rosarote Brille bis in die späteste Zukunft. Hingegen konnte ihr Mann, wenn auch kummerfreudig bewegt, den Gedanken an die fatale Testamentsklausel, betreffs eventueller Schadloshaltung durch die bei Wisselward gelegenen und wahrscheinlich verdorbenen Ländereien, so recht nicht los werden – ein bitterer Wermutstropfen in seinem sonst so blinkenden Erbschaftspokal. Als ihm aber Krispinus des längeren auseinandersetzte, daß diese Klausel infolge genügender Barmittel hinfällig sein würde, ließ auch er den traurigen und grübelnden Adam beiseite, schlenkerte den Wermutstropfen zu Boden und verstieg sich in seiner gehobenen Stimmung sogar soweit, dem armen Fritze Sötentitt statt einer Zigarre das ganze Etui nebst Inhalt in die glücklichen Hände zu drücken. Fritze Sötentitt, nicht gewöhnt sich lumpen zu lassen, rangierte dafür seinen noblen Vorgesetzten in die Reihenfolge der Räte zweiter Klasse – eine feine und sinnige Gegendedikation, wodurch er vornehmlich das empfängliche Herz der Frau Notariatssekretärin höchlichst erfreute.

Gegen Abend kam denn auch Madam Mömmes so'n bißchen herüber, gratulierte und kondolierte in einem Atem, sprach ebenfalls von einem glücklichen Zufall und dem gerechten Walten der Vorsehung Gottes, um schließlich das Gespräch auf den eigentlich springenden Punkt ihrer Visite zu lenken. So rückte sie denn schließlich mit ihrer Reserve heraus und fragte: »Un nu, meine liebe Madam Notariatssekretärin, wie gedenkt Sie es denn eigentlich mit dem Trauerkaffee nach dem Begräbnis zu halten?«

»Aber schickt sich das auch, meine verehrte Frau Mömmes?«

»Schicken?!« erwiderte Lisbeth mit einem erstaunten Gesicht, als müsse sie die merkwürdige Frage aufs höchste bedauern, »ob sich das schicken täte, meine liebe Frau Notariatssekretärin?! – Das muß Sie als Ihre heilige Pflicht estimieren – das is Sie dem selig Verstorbenen schuldig. O kontrollör wär' das ja grade, als wenn Sie Ihre Erbschaft, Ihre Rothschildverhältnisse verheimlichen wollte – als wenn da irgend etwas nich stimmte – als wollte Sie da so ganz stillkes mit 'nem Tusch- und Farbenpinsel darüber, um's nich den andern zu zeigen . . . Nein, nein, nein, meine liebe Frau Notariatssekretärin! – da muß Sie ein übriges tun un mit Ihrem ganzen Kaffeegeschirr in die Verlängerung springen. – Frau Aleit als solche rechnet nich mit. Die hat's mit ihrem Seligen purweg verdorben. Sie aber is die einzige Dame in der nächsten Verwandtschaft, die den richtigen Plie dazu hat. Sie muß also 'ran, denn der Tote würde sich krank ärgern un sich noch in seinem Grabe 'rumdrehen, wenn er nach seinem Begräbnis keinen prima Trauerkaffee bekäme.«

»Wenn Sie denn glaubt, meine verehrte Frau Mömmes . . .«

»Glauben?!« entgegnete Lisbeth. »Um tausend Gotteswillen, meine liebe Madam Notariatssekretärin! – das weiß ich. Da braucht Sie nur bei der Lichtjungfer so'n bischen zu tippen, un die wird Ihr sagen, daß sich das also gehört, daß das Totenrecht is un da droben höllisch übel vermerkt wird, wenn nach so 'ner Erbschaft nich prima gedeckt is mit Rodongkuchen un Kaffee.«

Zur Bekräftigung des Gesagten blickte die außer Atem Gekommene gläubig nach oben.

»Schön,« ließ sich die Lange denn auch schließlich bereden, »aber dann soll die Sache mit meinem schwersilbernen Tablett . . .«

»Neusilber, Neusilber!« warf die Dicke dazwischen.

»Wollt' ich auch sagen, meine liebe Frau Mömmes – dann soll die Sache mit meinem neusilbernen Tablett auch äußerst feierlich werden.«

»Soll denn ein Wort sein, Madam Notariatssekretärin, aber ich bitte ergebenst, auch Herrn Pinsgen beehren zu wollen, denn der junge Mann hat Lebensart un weiß sich auf prima Art honorig zu geben.«

»Einverstanden,« sagte Herr Knippscheer, der inzwischen ins Zimmer getreten, »und da bliebe nur noch die Frage offen, wie wir uns im vorliegenden Kasus Mamsell Stina gegenüber zu benehmigen haben.«

»Wem gegenüber?!«

Sophie erstarrte, reckte aber noch schnell ihren Gänsehals aus der florigen Krause.

»Mamsell Stina vom Vorwerk,« wiederholte Herr Knippscheer. »Sie hat doch, so zu sagen, in naher Beziehung zu Herrn Barthes – Gott habe ihn selig! – gestanden, und ist, laut Testament als erbberechtigt, mit in die Masse gekommen. Also . . .«

»Sulpiz, Sulpiz!« rief Sophie mit ihrer gläsernen Stimme, »ich bin 'ne christkatholische Frau und bin mit Ehren in den heiligen Stand der Ehe getreten – und da willst Du mir die Schande antun und so ›Eine‹ . . .«

»Potiphar!« legte sich Madam Mömmes energisch ins Mittel. »Pfui!«

»Bitte, bitte!« entgegnete Knippscheer und ließ dabei seinen tintenbeklecksten Zeigefinger überlegen auf- und niedervibrieren, »die Angelegenheit ist doch nicht so gänzlich in den Bereich des sittlich Verderbten zu weisen. Noch kürzlich hat der Herr Kaplan nichts darin gefunden, Mamsell Stina in den neubegründeten Verein für christliche Jungfern aufzunehmen, und deshalb . . .«

»Wenn auch!« hielt ihm Lisbeth entgegen, »der Herr Kaplan is in Weibssachen nich immer kumpabel.«

»Und kann nicht in solche schlechten Herzen hineinsehen,« stieß die Lange heraus, »aber wir können das, Sulpiz.«

»Weiß Gott, das können wir,« bestätigte Lisbeth, »un ich stelle mir auf die Seite der Madam Notariatssekretärin.«

»Und trotzdem,« meinte der Schreiber und schlug auf den Tisch, »ich weiß, was sich schickt und darf den Herrn Erblasser nicht desavouieren und ihm den Tort und die Schande antun . . .«

»Männchen, Männchen!« verlegte sich nun Sophie aufs Bitten, »Du weißt doch . . .«

»Was weiß er?« fragte die Dicke mit funkelnden Augen.

»Ach, meine liebe Frau Mömmes . . .

»Nur heraus mit die Sprache, meine beste Frau Notariatssekretärin!«

Mit einem tiefen Seufzer warf sich Sophie an die Brust ihrer Freundin.

»Nun will er mir nicht mal den Gefallen und die Liebe erweisen – und bin doch und bin doch . . .«

»Was is Sie? – Spreche Sie doch! – Um tausend Gotteswillen – was is Sie, meine liebe Frau Knippscheer?«

»In der Hoffnung!« stöhnte die Lange.

Sulpiz knickte zusammen.

»Un da wollen Sie, unbarmherziges Unmensch von Nashorn,« hielt ihm die Dicke zornig entgegen, »Ihre liebwerte Gattin in die Ungelegenheit bringen, un sie zu persuadieren suchen, mit der da vom Vorwerk aus ein un derselben Kaffeekanne zu trinken?! Sie entweihen ja Ihren eigenen geheiligten Tempel, denn meine Freundin is in ihrem jetzigen Zustand so gut wie'n geheiligter Tempel, sie is geweiht in die Kirche – während die andere, die Stina, für ihr Verhältnis mit dem nu da oben befindlichen Manne nich mal ein Patent mit 'nem preußischen Kuckuck von dem Herrn Standesbeamten bekommen hat. Sie sind ja ein Tyrannus, un können es verantwortlich finden . . . Pfui! über Ihnen, mein sehr verehrter Herr Knippscheer.«

Dieser geharnischten Epistel gegenüber mußte Sulpiz die Opportunitätssegel streichen und sich für machtlos erklären. Er ließ daher seine unbillige Forderung fallen, war mit den Anordnungen der beiden Frauen einverstanden und gab seiner noch immer leise vor sich hin weinenden besseren Hälfte ein wirklich herzliches Küßchen; dann verzog er sich in die sogenannte erste Etage, nahm Bleistift und Notizbuch heraus und rechnete nach, wie er am besten die zu erwartenden zwanzigtausend Taler anlegen könne. –

Am dritten Tage wurde der Fingerhutshöfer beerdigt. Im Totenhäuschen der barmherzigen Schwestern fand eine einfache Vorfeier statt. Hier versammelten sich auch die Leidtragenden. Aleit erschien nicht. »Sie fühlt sich zu angegriffen,« meinten die Leute, fügten aber noch eine lange Serie von andern Gründen hinzu, um ihr Nichterscheinen erklärlich zu machen. Der Schulmeister Fennand van Bommel aus Elten, ein hellwimpriger, semmelhaariger Junggeselle in den zwanziger Jahren, hatte sich extra einen funkelnagelneuen Anzug geleistet und stand, in seiner frischen Eigenschaft als Universalerbe, mit der Langen am Kopfende des verblichenen Mannes. Er war tiefbewegt und betete stammelnd für das Seelenheil des so jäh aus der schönsten Lebenskraft fortgeschwemmten Testierers. Wegen seiner Strenggläubigkeit, seines reservierten Benehmens dem weiblichen Geschlecht gegenüber und des Umstandes halber, daß er neben seinem eigentlichen Beruf noch die Kirchenrendantenstelle in Elten verwaltete, hieß er allgemein ›der unbefleckte Empfänger‹, ein Ehrentitel, der um so mehr Rechtens war, als sein Inhaber auch noch als erster Chargierter der Aloysianischen Kongregation Vorstand und mit rührender Umsicht und Sittenstrenge die Pflichten, die die Präsidentschaft mit sich brachte, erfüllte.

Hannibal Pinsgen hatte sich geschickt in die Nähe von Madam Mömmes gedrängelt, die ein weißes Taschentuch vor den Mund hielt, immerzu an ihren ›seligen Tag‹ denken mußte und nur wünschte, dereinstmals in einem so prächtigen Eichenholzsarg, wie ihn Barthes bekommen, bestattet zu werden. Der Firnisgeruch, der süßliche Duft nach Wachskerzen und welken Blumenkränzen benahm sie und machte sie nicht mehr fest auf den Beinen. Hilfesuchend blickte sie um sich, verfiel auf den Handlungsbeflissenen und lehnte sich an ihn.

»Sie nehmen's mir doch nich übel, Herr Pinsgen?«

»I, wie werde ich denn! – Im Gegenteil – ist mir 'ne auserwählte Ehre – sehr obligiert,« sagte Herr Pinsgen und bot ihr den Arm an.

Der unbefleckte Empfänger warf den beiden einen aloysianischen Blick zu.

Madam Mömmes kümmerte sich nicht darum. Sie wußte, was sie an Hannibal Pinsgen hatte. Er war keusch und rein wie der ägyptische Joseph.

Punkt drei Uhr kamen die Geistlichen.

»De profundes clamavi ad te, Domine . . .

Der Sarg wurde besprengt; dann ging es zum Kirchhof.

Der Donnerjü konnte stolz auf die Beteiligung sein. Trotz der großen Not, in der sie sich zur Zeit selber befanden, hatten viele Grundbesitzer und Bauern aus der Umgegend es sich nicht nehmen lassen, ihrem seligen Kollegen die letzte Ehre zu geben. Selbst der Viehweidshöfer war erschienen und schritt, den harten Schädel vornübergebeugt und mit hallendem Knotenstock unmittelbar hinter dem Sarg her.

Karl Schweinem und Krispinus gingen zusammen.

Als der Trauerzug den Großen Markt passierte, meinte der Alte mit einem so recht grieflichen Lächeln: »Ich kondoliere Ihnen besonders, Herr Schweinem.«

»Wieso denn?« fragte der Schenkwirt.

»Das Jahr hat 365 Tage, Herr Schweinem,« dozierte Krispinus. »Jeden dritten Tag war der Donnerjü bei Ihm, Herr Schweinem – trank durchschnittlich drei Pullen, Herr Schweinem – macht in Summa Summarum dreihundertsechsundsechzig Bouteillen Rotspon zusammen, Herr Schweinem – und die muß Er sich weniger rechnen.«

»Leider,« konstatierte der Inhaber vom ›Goldenen Anker‹.

»Und somit mein herzlichstes Beileid, Herr Schweinem,« krähte Krispinus und lächelte über die bitteren Tränen, die Madam Mömmes hellauf in ihr weißes Taschentuch schluchzte. Aber sie mußte weinen, sie konnte nicht anders, denn gerade in diesem Augenblick intonierte der Herr Kapell- und Webermeister Janssen den imposanten Trauermarsch, den sie sich selber zu ihrem Begräbnis wünschte.

»Alles is prima – alles is prima!« nickte sie der Notariatssekretärin zu und ließ sich von den getragenen Tönen weiter durchschauern.

»Mir nur zu opulent und zu nobel,« dachte die Lange, »soll mir aber egal sein; wir sind nicht Universalerben – der unbefleckte Empfänger kann alles bezahlen.«

Jetzt waren sie auf den Kirchhof gekommen. Der amtierende Geistliche, bis zu dem der Passus des Testamentes, kraft dessen die Kirche mit dreitausend Talern bedacht werden sollte, bereits durchgesickert war, streifte die Katastrophe im Vorwerk nur so ganz nebenher, schilderte dafür aber die Vorzüge des Verstorbenen im allgemeinen und dann im besonderen in leuchtenden Farben, stellte ihn als einen Landwirt kat exochen hin und rühmte seine Tatkraft als Wahlmann im Kampfe gegen den liederlichen Liberalismus. Mit einem warmen Appell an die Umstehenden, für das Seelenheil des leider zu früh verblichenen Mannes zu beten, beschloß er seine rührsamen Worte.

»Amen!« sagte der unbefleckte Empfänger.

Lisbeth schwamm in Tränen. »Das hab' ich nich gewußt,« sagte sie zu Hannibal Pinsgen unter stetigem Schluchzen, »daß Barthes ein so nobler Charakter gewesen.«

»Ich auch nicht,« erwiderte Pinsgen, trat an die Gruft und warf eine ordentliche Schippe voll Erde dem Sarg nach.

In gehobener Trauerstimmung verließen hierauf die Leidtragenden den Kirchhof.

Tu es pulvis et ad pulverem reverteris! –

Punkt vier Uhr hatte Frau Knippscheer zum Trauerkaffee gebeten – Punkt vier Uhr begann er. Kein Titelchen fehlte. Inmitten des sauber gedeckten Tisches paradierte die stattliche Kaffeekanne auf dem neusilbernen Tablett. Ein wohlgelungener Rodongkuchen reihte sich an; dann kamen Waffeln, Sandtorten, Spekulatiusmänner und Printen, die dem Ganzen erst den eigentlichen Abschluß verliehen. Äußerst sinnig hatte Sophie ihren Kugelkaktus seitwärts der Kanne placiert, ihn aber mit einer Schleife aus Florstoff versehen, um hierdurch den eigentlichen Charakter des Festes auch äußerlich in die Erscheinung treten zu lassen.

»Pompös!« meinte die dicke Lisbeth, als sie den ganzen Aufwand von Leckertäten gewahrte.

Die Babbeltjes-Lena wuscherte gleich mit den Augen herum und wußte sofort, wieviel Teilchen sich auf den einzelnen Tellern befanden. Als Achtzigjährige erhielt sie den Ehrenplatz und kam neben Krispinus van Bommel und dem unbefleckten Empfänger zu sitzen. Das erste Trauertäßchen galt dem Fingerhutshöfer. Die allgemeine Weihe und Andacht, die hierbei herrschte, benützte die Alte dazu, die größten Rosinen aus dem vor ihr stehenden Kuchen zu picken und ein Spekulatiusmännchen vorweg auf ihren Teller zu bringen.

Das Gespräch drehte sich hierauf um die einzelnen Teile der Erbmasse, Haftung der Nachlaßverbindlichkeiten und die Art und Weise, was jetzt zu geschehen habe, um den Testamentsstein so allmählich in ein gelindes Rollen zu bringen. Vornehmlich in der zuletzt aufgeworfenen Frage, gab der unbefleckte Empfänger zu verstehen, müsse jetzt vorangemacht werden; Leibeserben seien weder vorhanden, noch zu erwarten, und daher läge es im allgemeinen Interesse, die notwendigen Präliminarien sobald wie möglich in die Wege zu leiten. Alle Augen wendeten sich denn auch gleich auf Knippscheer und Fritze Sötentitt, die doch als rechtskundige Männer hierüber am besten Bescheid geben konnten. Fritze Sötentitt wollte schon losschießen, als ihm sein Gönner zuvorkam und aus dem Handgelenk den nachfolgenden Gesetzparagraphen zitierte.

»Befindet sich ein Testament,« also begann er, »in amtlicher Verwahrung, so ist es unverzüglich nach dem Tode des Erblassers an das Nachlaßgericht abzuliefern.«

»So, so, so!« krähte Krispinus van Bommel.

Madam Mömmes, die große Stücke auf die juristischen Kenntnisse Sötentitts hielt, sah diesen an, was er wohl zu dem soeben Zitierten sagen würde.

»Strictus jus,« meinte der Kleine, lehnte sich selbstgefällig in seinem Stuhl zurück und schlug die kurzen Beinchen übereinander.

»Gott ne nich, was Er alles nich weiß!« erstaunte sich Lisbeth, wollte noch mehr des Lobeserhebenden sagen, wurde aber von Knippscheer unterbrochen, der sich in wohlgesetzter Rede anbot, das weitere bei Notar und Gerichten veranlassen zu wollen. Inferner stellte er der Erwägung anheim, ob das Erbe gleich anzutreten sei, oder ob man in großmütiger Weise übereinkommen solle, der Witwe des Verblichenen mit einer Galgenfrist von etlichen Monaten nobel unter die Augen zu treten.

»Ich habe kein Mitleid mit ihr,« äußerte sich der unbefleckte Empfänger, »denn der liebe und verewigte Erblasser wird wohl seine schwerwiegenden Gründe gehabt haben, sie, wie es ja auch wirklich geschehn ist, mit der ganzen Strenge des Gesetzes zu schlagen. Totenwille – Gotteswille! – und außerdem möchte ich in Parenthese bemerken, daß mir ein äußerst ehrenwerter Jüngling der hiesigen aloysianischen Bruderschaft die Mitteilung machte . . .«

»Was denn?! – Was denn?!« fragten die meisten.

»Ich will's lieber verschweigen, und zwar mit Rücksicht auf die verschiedenen Damen . . .«

»Gibt's nich!« legte sich Madam Mömmes energisch ins Mittel. »Was anpräsentiert wird, wird auch genommen. Vorher die Kuchenkiste zuzuklappen – das is bei unsereins niemals Mode gewesen.«

»Sehr richtig,« sagte die Babbeltjes-Lena.

»Also bitte, Herr Neffe,« suchte ihn Knippscheer gesprächig zu machen, »die Damen haben nichts weiter dagegen.«

»Dann in Gottes Namen!« erklärte der unbefleckte Empfänger und ließ die hellen Wimpern hinter den Brillengläsern herunter.

»Das wird intressant,« meinte Lisbeth und stieß die Frau Notariatssekretärin an.

»Möglich,« sagte die Lange.

»Bewußer Jüngling,« rückte denn auch Fennand van Bommel nach langen Drehen und Wenden heraus, »hielt sich für berechtigt, des Glaubens sein zu dürfen, daß der hiesige Deichgräf, und zwar unter dem Vorwand, dem gefährdeten Fingerhutshof tatkräftige Hilfe zu bringen, die fragliche Sturmnacht ganz mutterseelenallein mit Frau Aleit in deren Behausung verbrachte.«

»Jesus, mein Heiland!« bekreuzte sich Sophie.

»Erst ums Morgengrauen sei dann ein lutherscher Tagedieb, mit Namen Josias Spettmann, gekommen, der den traurigen Mut gehabt haben soll, unseren Helden per Kahn aus seinem tête à tête zu befreien und auf gesicherten Boden zu bringen. Und deshalb, lediglich um ihr darzutun, daß ihr Verhalten sich nicht mit der Sittenreinheit einer christkatholischen Frau vereinigen läßt, bin ich der Ansicht, die ganze Strenge des Gesetzes ihr gegenüber in Kraft treten zu lassen.«

»Ich denke anders darüber,« meinte Herr Knippscheer. »Wir sind nun einmal die glücklichen Erben, die beati possidentes, wie wir Juristen das nennen, wir haben das Recht, die Macht, mit anderen Worten das Heft in den Händen; in Anbetracht aber, daß die Gegenpartei, also Frau Aleit, nur das Nachpfeifen hat, möchte ich doch für mildernde Umstände plädieren und beantragen, ihr nicht sofort den Stuhl vor die Tür zu setzen.«

»Das is nobel gedacht,« ließ sich Madam Mömmes vernehmen und wandte sich dann an Fritze Sötentitt, um dessen Meinung zu hören und sich von ihm Rat und Aufklärung zu holen.

Das armselige Aktenwürmchen fühlte sich äußerst geschmeichelt, ließ sein angebissenes Rodongkuchenstückchen liegen und sagte: »Allerdings, meine hochverehrte Frau Mömmes, ist das strictus jus auf Seiten des Herrn Lehrers und Kirchenrendanten van Bommel . . .«

»Einen Momang,« unterbrach ihn die Dicke. »Sie haben das mit dem ›strictus‹ schon soeben gesagt; hakt das vielleicht mit Strumpfstricken zusammen?«

»Nein,« belehrte sie Fritze, »das ist man so ein fachmännischer Ausdruck und bedeutet soviel wie: es werde Recht, oder ich schlage Dir die Knochen zusammen.«

»So, so!« gab sich Lisbeth zufrieden.

»Mein Herr Chef nun,« erläuterte Sötentitt weiter, »steht in seiner Replik nicht auf dem strictissimus jus des Herrn Lehrers und Kirchenrendanten, sondern hat der erbbenachteiligten Ehefrau gegenüber eine capitationa benevolentia, 'ne Art von Wohlwollen eintreten lassen, und ich kann nur sagen, daß nach meiner unmaßgeblichen juristischen Meinung solches nicht contra leges verstößt und geeignet ist, meinem Herrn Büreauchef das Zeugnis eines feinsinnigen und mildherzigen Beamten zu geben.«

»Denn allerdings,« atmete Madam Mömmes auf, schlug mit ihrer Patschhand vernehmlich auf den Tisch und sagte dann so laut, daß es alle hören mußten: »Ich kann mir nich helfen – aber ich bin der Meinung des Herrn Sötentitt un des Herrn Sekretarius Knippscheer. Man darf ihr, was die Fingerhutshöferin is, nich so ohne weiteres von Haus un Hof verjagen un die Sitzgelegenheit fortfallen lassen. Sie is gewissermaßen doch auch eine Dame.«

»Aber die Sittenreinheit . . .?!« hielt ihr der unbefleckte Empfänger giftig entgegen.

»Herr Jeses!« rief die Babbeltjes-Lena, »was is denn so Gefährliches bei die ganze Geschichte?! – War einer dabei?! – Hat wer was gesehen?! – Er hat ihr doch nur retten wollen mit seiner Herkulanischen Forsche, un als denn das Wasser kam, konnten sie doch nich kopfüberst hineinspringen, weil ich die Ansicht vertrete, daß sie niemals das Schwimmen gelernt hat. – Un nu, Herr Knippscheer, reichen Sie mir mal die leckeren Waffeln herüber.«

Die Ansicht der Achtzigjährigen fiel auf fruchtbaren Boden, und als noch Krispinus und Hannibal Pinsgen sich auf ihre Seite schlugen, der unbefleckte Empfänger nicht mehr auf seinem sittenreinen Standpunkte herumexerzierte und schließlich zugab, der aloysianische Jüngling könne möglicherweise zu voreilig geurteilt haben, kam man nach längerer Debatte dahin überein, den Vorschlag Knippscheers zu billigen, der Witwe gegenüber weniger schroff zu verfahren und ihr alle Rechte noch auf drei Monate hinaus zu belassen.

»Darauf trinken wir 'nen ordentlichen Likör,« sagte die Babbeltjes-Lena, »denn das bekommt mich so gut bei Aachener Printen und gibt dem schönen Kaffee erst so 'nen richtigen Abschluß,« ein Ansinnen mit dem sich Madam Mömmes auch völlig einverstanden erklärte, und dem die anderen zujubelten.

Mittlerweile war es schummerig geworden.

»Nu wird's gemütlich,« behauptete Madam Mömmes und rückte ihren Stuhl naher an Hannibal Pinsgen heran, der sich wieder mit melancholischen Anwandlungen trug und der dicken Lisbeth erzählte, daß er noch immer unglücklich liebe.

Beim zweiten Gläschen Likör liefen dicke Tränen über sein Radieschengesicht, beim dritten wünschte er sich den Tod und beim vierten bedauerte er lebhaft, nicht vierzig Jahre alter zu sein, um seine herzensgute und gebildete Nachbarin heiraten zu können. Sie würde es gut bei ihm haben, versicherte er ihr unter strömenden Tränen, denn er fühle das Zeug in sich, eine Frau glücklich zu machen, worüber die Dicke so in Ekstase geriet, daß sie ihm mit dem Knie ein liebevolles Stößchen versetzte und nur bedauerte, ihm der ›Scharnierlichkeit‹ wegen kein Küßchen geben zu können. Aber später, wenn es dunkler geworden, dann solle das noch nachgeholt werden.

»Sehr obligiert,« lächelte Pinsgen, fiel aber in seinen florigen Zustand zurück, als es plötzlich hell wurde, und Sophie Knippscheer zwei blankgeputzte Petroleumlampen auf den Tisch stellte.

»Das wäre aber nich nötig gewesen, meine beste Frau Notariatssekretärin,« meinte die Dicke, »so'n Schummerstündchen hat doch auch seine angenehmen Kulören.«

»Besser ist besser,« ließ sich der unbefleckte Empfänger vernehmen, »denn die Nacht ist keines Menschen Freund, und im Dunklen werden böse Gedanken lebendig.«

»Das zielt auf mir,« dachte Frau Lisbeth. »So'n Knabe! – mir ein Küßchen als Sünde in die Pantoffeln schieben zu wollen. – Mein verehrter Herr Lehrer und Kirchenrendant,« ging sie dann gegen ihn vor, »nehmen Sie's mir nich übel, aber Sie sind ja ein nörgelndes Faktotum geworden. Wir sind ehrbare Frauen, un hier in dieser noblen Gesellschaft passiert keine Sünde. Alles wird offenkundig gemacht – un darum, Herr Hannibal Pinsgen, bekommen Sie das Versprochene jetzt schon,« umarmte den Verdutzten und gab ihm einen knallenden Kuß auf die Backe.

»Hihihi!« feixte die Babbeltjes-Lena.

»Un wenn Sie noch ein Übriges wollen, Herr Lehrer,« fühlte sich die Gekränkte berufen, weiter zu sprechen, »dann sing' ich noch das Lied von die ›Kermespopp‹, aber nich Ihnen zu Ehren, sondern nur zur Aufmunterierung von Pinsgen.«

Der unbefleckte Empfänger wollte schon loslegen und in einer gepfefferten Philippika seine aufgestellte Ansicht vertreten, als er aber die herausfordernde Miene der energischen Madam sah, befragte er seine Uhr, und unter dem Vorwand, daß in einer Viertelstunde die Post nach Elten abginge, bedankte er sich bei der Frau Notariatssekretärin für die erwiesene Ehre, nahm seinen Trauerzylinder und ging, von Herrn Knippscheer bis zur Türe begleitet, der nahgelegenen Post zu.

»Viel Glück auf die Reise, Herr Universalerbe!« rief ihm die Dicke noch nach, setzte sich wieder und murmelte zwischen den Zähnen: »Dieser Unbefleckte will uns hier mit seinem strictus jus noch den feinen Trauerkaffee der Frau Notariatssekretärin verderben . . .

»Ärgern Sie sich man nich,« rief die Babbeltjes-Lena, »denn nu, wo er fort is, geht's mit die Fidelität los. Wir haben lange genug um Barthes getrauert; aber allens hat seine Zeit. Der unbefleckte Empfänger is weg, der Tote is tot un begraben, der Kaffee is alle geworden – nu kommt wieder die Menschlichkeit an die Reihe, denn wir wollen doch leben,« erhob sich mit abstehenden Taschen, die sie so ganz nebenher mit zwei Stück Rodongkuchen, zehn Spekulatiusmännern und neun Aachener Printen gefüllt hatte, gab mit einem Löffelchen den Takt an und näselte hierauf mit ihrer Bindfadenstimme, daß es allen in die Glieder hineinfuhr:

»Guter Freund, ich frage Dir!
Bester Freund, was fragst du mir?
Sag' mir, was is sieben? –
Sieben sind die Anisetten . . .

aberst ich habe bis jetzt nur sechse bekommen – also ich bitte gefälligst, meine liebe Frau Knippscheer.

Silke, salke senke,
Der da gibt Präsente!«

Mit einem spitzen Gelächter hielt das achtzigjährige Weibchen sein Glas hin.

»Fein so! – Prosit, Alte!« krähte Krispinus – und die Damen wurden fidel und gesprächig, vergaßen den Donnerjü und das ganze Begräbnis – und als es neun Uhr abends geworden, konnte Sophie ihr eigenes Glück nicht mehr halten und gab dem Unterkollegen ihres Mannes durch die Blume zu verstehen, daß sie sich in der Hoffnung befände, worauf Sötentitt nichts eiligeres zu tun hatte, als seinem Vorgesetzten, dem Herrn Rat zweiter Klasse, ganz gehorsamst zu gratulieren, was diesen wieder veranlaßte, einige Flaschen Wein zum besten zu geben – und dann sang Lisbeth doch noch das Lied von der ›Kermespopp‹ mit begleitenden Brummstimmen – und so ging das weiter, bis die Babbeltjes-Lena so ganz unerwartet und wie aus heiterem Himmel es mit ihrem sogenannten Zustand bekam und wie'n Leichenhühnchen mit schrillem Gelächter in die Freude hineinschrie: »Kinders, das is ja die reinste Fidelität auf die Totenlade!«

Das trübte die Stimmung in etwa, war aber doch nicht imstande, den günstigen Eindruck ganz zu verwischen. Gegen elf Uhr trennte man sich.

»Un es is doch ein prima Trauerkaffee gewesen, meine liebe Frau Notariatssekretärin,« meinte die Dicke, als sie sich verabschiedete, und Hannibal Pinsgen um die Ehre bat, sie nach Hause begleiten zu dürfen.

So gingen denn alle den behaglichen Federn entgegen. Nur der Herr Sekretarius Knippscheer konnte sich noch nicht entschließen, das Bett aufzusuchen. Der Tag war ein zu ereignisreicher gewesen. Er schwebte in den siebenten Himmel hinein. Seine kühnsten Erwartungen waren in Erfüllung gegangen. Die Begrabenen kommen nicht wieder; zwanzigtausend Taler durfte er sich somit reicher taxieren. Jetzt konnte er doch endlich das verhaßte Joch abwerfen, konnte sich in Kraft des vollwertigen Testamentes selbständig machen und jeden Tag das freie und honette Amt eines Auktionators ergreifen. Für ihn war der Wendepunkt in seinem Leben, die große Stunde gekommen.

Mit diesen Gedanken und Erwägungen duselte er bis tief in die Nacht hinein. Sophie schlief nebenan bereits seit fünfundvierzig Minuten zwischen den schneeweißen Kissen. Er hörte deutlich ihr sanftes und melodisches Schnarchen. Da kam's plötzlich über den einsamen Federfuchser.

Das sollte anders werden. Er hatte Vermögen – mußte es dementsprechend seinem Prinzipal in jeder Hinsicht gleichtun – mußte was prestieren vor der Welt und den Leuten. Mahagonistühle, Plüschsofas, Trumeaux und Spiegel mit Goldrand mußten angeschafft werden . . . drum 'raus mit dem vorhandenen Bettel.

»'raus mit dem Bettel!« schrie der Herr Sekretarius Knippscheer, »'raus mit dem Pröhlzeug!« griff zu und pfefferte, was er zwischen die Finger bekam, durch das geöffnete Fenster und hinaus auf die Straße. Stühle und Bilder . . . dann kam das Geschirr an die Reihe – und dann die große Kaffeekanne mit dem goldenen Rändchen.

»'raus mit dem Bettel . . .

Lustig klang und klirrte es durcheinander.

Die Nachbarn wurden lebendig – und Sophie sprang aus dem Bett, und als sie ins Zimmer trat, da stand ihr Gemahl wie ein Feldherr nach gewonnener Schlacht zwischen den Trümmern, sah sie lächelnden Mundes an und meinte: »Meine teuerste Sophie, wir haben's.«

 


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