Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XII Butterblume

Threschen war weiter gelaufen – über die Wiesen, über den Kleeacker . . . Eine tödliche Angst hatte sich der Kleinen bemächtigt. Es saß ihr im Nacken wie ein scheußliches Tier, das sie nicht mehr los werden konnte. Keuchend schlug sie den Weg ein, der vom Gutshof auf die breite Masse des Deiches hinaufführte. Jetzt stand sie oben, genau an derselben Stelle, wo vor vierzehn Tagen Gert Liffers mit ihrer Mutter gestanden. Ihr zur Linken raschelte das Erlengestrüpp. Sie schreckte zusammen. Noch immer glaubte sie, den Schrei ihrer Mutter und die gehässige Stimme ihres Vaters zu hören. Sie drehte den Kopf um. Da lag der Fingerhutshof; sie hätte ihn mit ihren Ärmchen greifen können. In den Scheiben der Giebelfront blenkerte das rote Licht der untergehenden Sonne. Es hatte durch den Haarrauch eine merkwürdige Färbung bekommen. Etwas Blutrünstiges war in ihm, und blutrünstig warfen die Fensterscheiben es wieder von sich.

Threschen sah es. Die Kleine wußte nicht, daß dort die Sonne drin spielte. Blutige Finger . . . Die Angst drehte ihr wieder das Gesicht nach vorne. Sie glaubte eine ekelhafte, graue Ratte im Nacken zu haben, eine von den dicken, langsamen Ratten, die die Pferdeställe bewohnen. Da bekam sie das Grauen . . .

»Mutter! – Mutter!«

Aber die Mutter hörte sie nicht.

»Mutter! – Mutter!« rief sie noch einmal.

Keine Antwort erfolgte.

Da lief Threschen van Laak über den Deich fort. –

»Wo is Nikola?« fragte Lisbeth Mömmes, als sie ihre kleine Gesellschaft wie 'ne besorgte Glucke und mit lockendem ›Tütütütü‹ wieder von draußen ins Zimmer geführt hatte.

Alle Kinder sahen sich erstaunt um.

Der kleine Nagel war nicht da.

»So 'ne Kröte!« erregte sich Lisbeth. Instinktiv richteten sich ihre Blicke auf den Spiegel, hinter dem eine Birkenrute einträchtiglich neben einer Pfauenfeder steckte.

»Er ist der Letzte gewesen,« stellte Nöllecke Kunders fest.

»Dann will ich mal nachsehen,« sagte die Alte, »vielleicht is er draußen geblieben. Un Du, Barthje van Bebber, kuckst mal in den hinteren Garten. Aber sag' ihm man gleich – 'ne Watsche bekommt er.«

Lisbeth begab sich auf die Straße und Barthje durch den langen Flur in den Garten.

Beide kamen unverrichteter Sache zurück. Sie hatten den kleinen Ausreißer weder auf dem Spielplatz noch im Garten gefunden.

»Merkwürdig,« sagte Frau Mömmes. Sie setzte die Hornbrille auf, um besser sehen zu können, ging in ihr Schlafzimmer, vigilierte hinter den großen Schrank, bückte sich nieder, um festzustellen, ob der dreibastige Schlingel vielleicht unter ihre Bettstelle geflitzt sei.

Es war ein schweres Stück Arbeit, wie sie so mit ihrem breiten Gestell auf den Dielen herumkriechen mußte.

»Nikola, bist Du da?« Alles blieb still.

Sie verlegte sich nunmehr aufs Bitten,

»Nikolächen, bist Du unter mein Bettchen gekrochen? – Nikolächen, sag's man; Du sollst auch ein Babbeltje haben.«

Keine Antwort erfolgte.

»Junge – wenn ich Dich kriege!«

Schwerfällig hob sie ihre breite Masse vom Boden. Ihre Blicke fielen auf die prächtige Kirschholzkommode. Auf dem gehäkelten Deckchen stand der heilige Aloysius noch immer zwischen den beiden Porzellanvasen mit Goldrand.

»Heiliger Aloysius, hilf mir!«

Sie sah ihm flehend und hilfesuchend in die gipsernen Augen. Der heilige Aloysius von Gonzaga wußte es auch nicht.

Da flog ihr so etwas wie Angst an. Aufgeregt ging sie zu den Kindern zurück. Unterwegs fiel ihr der taube Christ van de Lucht ein, der oben in der dritten Etage wohnte.

Sie wußte: der kleine Querkopf war schon früher einmal zu dem alten Armenhäusler geschlichen, um auf seinen Knieen ›Hoppa-Reiter‹ zu spielen.

Das war ein erlösender Lichtblick. Sie freute sich ordentlich über ihren guten Gedanken.

»Barthje,« sagte sie mit fliegendem Atem, »lauf' mal rasch zu Ohm van de Lucht in die dritte Etage, ob Nikola nich da is. Mußt aber schreien, sonst versteht es Ohm van de Lucht nich.«

Stolz auf die ihm übertragene Mission stiefelte das putzige Kerlchen nach draußen.

»Mußt aber schnell sein,« rief ihm Madam Mömmes nach, »die Sache pressiert mich!«

»Ja,« bestätigte Barthje van Bebber und machte sich dran, in die höheren Regionen des Armenhofes zu steigen.

Gewiß, die Sache pressierte, und Barthje war auch von dem heiligsten Willen beseelt, so fix wie möglich nach oben zu kommen, hatte dabei aber seine kleinen Potentaten nicht in Rechnung gezogen, denn die einzelnen Treppenstufen konnten schon einem ausgewachsenen Menschen zu schaffen machen, geschweige denn einem Kerlchen mit so knirpsigen Beinchen.

Der Aufstieg fiel dementsprechend auch aus.

Ein Füßchen wurde aufgesetzt, das andere nachgezogen und dann erst die folgende Stufe genommen.

»Een – twee,« zählte Barthje van Bebber.

Drinnen hörte man deutlich die emsigen Bemühungen des in wichtiger Mission abgeschickten Gesandten.

Es war zum Verzweifeln. Das monotone Zählen wollte nicht aufhören.

»Een – twee, een – twee, een – twee . . .«

»Herr Jeses!« entsetzte sich Madam Mömmes und schlug die Hände zusammen. Jetzt hörte sie nichts mehr.

»Gott sei gedankt!«

Aber Barthje blieb lange.

Jetzt mußte er da sein – jetzt hatte er seinen Auftrag erledigt – hoffentlich hatte er deutlich gesprochen – hoffentlich war der Alte oben gewesen . . .

Natürlich war er oben gewesen. Aber das dauerte ewig. Madam Mömmes blies Trübsal. Das nahm ja kein Ende.

»Hätte ich doch dem Jungen nich die Jacke verhauen . . .

Sie hatte eine ganze Portion von Selbstanklagen auf Lager. Sie hielt sich für eine pflichtvergessene Frau, für eine schlechte Person, für eine Entehrte, der man unbedingt die Konzession, einer Kinderbewahranstalt vorzustehen, abknöpfen mußte. Sie hatte ein selbstquälerisches Vergnügen daran, sich in ihren eigenen Augen erbärmlich und verächtlich zu machen, ja, sie glaubte schließlich das Bedürfnis zu haben, sich mit einem alttestamentlichen Weib, das sie aus tiefster Seele verabscheute, in Parallele setzen zu müssen.

Ja – das wollte sie.

Energischen Schrittes trat sie vor den Spiegel, hinter dem Rute und Pfauenfeder steckten. Sie sah ihr eignes Konterfei in der glasigen Fläche und hatte ein häßliches Wort auf der Zunge. Es tat ihr leid, daß sie als christkatholische Person einen solchen Entschluß fassen mußte – aber sie durfte nicht schwach sein. Sie wollte sich ihre eigene Erbärmlichkeit schonungslos ins Gesicht schleudern; deshalb war sie vor den Spiegel getreten.

»Potiphar . . .

Das Wort war heraus.

Da wieder das monotone Zählen von eben.

»Endlich . . .

Wie eine Erlösung kam es über Frau Mömmes.

»Een – twee, een – twee . . .!« – dann nichts mehr.

Aber jetzt . . . Barthje van Bebber war ins Zimmer gewackelt, und hinter ihm . . .

Das Männchen trug eine Jacke von Wollgarn, hatte ein durchscheinendes Gesicht, etwas Verwehtes in den ausgebleichten Augen, ließ die Ohren fledermausartig über den Rand der tiefgezogenen Zipfelmütze herauswachsen, hatte die Enden seiner hechtgrauen Pantalons mit Zwirnsgarn über den Knöcheln zusammengebunden – und gähnte.

»Barthje! – Herr van de Lucht! – Un Nikola . . .?!«

Lisbeth erstarrte.

»Herr van de Lucht,« schrie sie ihn an, »war er nich bei Sie?!«

»Natürlich – da gehört Öl an die Feder; aber ich kann's nicht. Da muß der Uhrmacher dahinter.«

»Christus!« entsetzte sich Lisbeth, hielt sich die Hand seitwärts des Mundes und brüllte ihm direkt in die Ohren: »Herr van de Lucht, ich meine nich Ihren heiseren Kuckuck, ich meine: ob Nikola, Petrus Nagel sein Nikola, nich bei Sie gewesen?!«

»Gestern?«

»So eben!«

»Nä.«

»Nich?!«

Der Armenhäusler schüttelte den Kopf: »Nä, seit vierzehn Tagen ist er nicht mehr oben gewesen.«

Die Ärmste glaubte in den Boden versinken zu müssen, besann sich aber und schrie, was das Zeug halten wollte, dem Tauben entgegen: »Hier muß absolutemang was geschehn. Ich selbst kann nich fort, sonst täte vielleicht noch ein größeres Unglück passieren. Aber Sie – würden Sie nu vielleicht die Freundlichkeit haben un bei Hannibal Pinsgen anfragen, ob Nikola nich da is?«

»Bei Hannibal Pinsgen?«

»Ja!«

»Ob Nikola nicht da ist?«

»Ja!«

»Gerne,« sagte Christ van de Lucht, zog sich die weiße Zipfelmütze noch tiefer und schlurfte nach draußen, »'ne Tränenkomödi!« seufzte er im Weitergehn.

»Kinder, betet!« wandte sich Lisbeth Mömmes in ihrer Herzensangst an die kleine Gesellschaft, die still und verschüchtert in den Ecken umhersaß. »Kinderchen, betet, daß wir Nikolächen Nagel wiederbekommen!«

In ihrer wilden Not und Bedrängnis verfiel sie auf die Geheimnisse des freudenreichen Rosenkranzes, zog die Perlenschnur, die sie für alle vorkommenden Fälle immer bereit hatte, aus der Tasche und begann in Stammellauten zu beten.

»Heilige Jungfrau Maria – unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns mit Deinem Sohne, empfiehl uns Deinem Sohne, stelle uns vor Deinem Sohne. – Den Du, o Jungfrau, vom heiligen Geiste empfangen hast.«

»Bitte für uns!« responsierten die Kleinen.

»Den Du, o Jungfrau, zu Elisabeth getragen hast.«

»Bitte für uns!«

»Nöllecke Kunders, Du darfst jetzt an Deine Nagels nich knabbern. – Den Du, o Jungfrau, geboren hast.«

»Bitte für uns!«

»Den Du, o Jungfrau, im Tempel geopfert hast. – Pfui, Barthje van Bebber, Du darfst nu keine Fliegen nich fangen.«

»Oh, Mutter Lisbeth . . .

»Barthje, sei artig. – Den Du, o Jungfrau, im Tempel wiedergefunden hast.«

»Bitte für uns!«

»Marieke Bärendonk, willst Du wohl mit die Finger in die Nase nich fühlen. – Hat Dir Deine liebe Mutter nich ein Sacktuch gegeben? – Vater unser, der Du bist in den Himmeln . . .«

Immer inbrünstiger schickte Lisbeth in ihrer Todesnot die besten Stoßseufzer und Gebete gen Himmel, gelobte, eine Wallfahrt gen Kevelaer zu machen und 'ne pfündige Wachskerze am Bildnis der allerseligsten Jungfrau zu opfern, wenn der liebe Gott nur ein menschliches Einsehn haben wolle und nicht jetzt schon gesonnen sei, einen Sargnagel für den kleinen Nagel zu machen.

»Herr, erbarme Dich unser!«

Während auf diese Weise das Geheimnis des freudenreichen Rosenkranzes gebieterisch bei dem Alleserbarmer anpochte und eindringlich um Erhörung flehte, hatte Christ van de Lucht bereits eine ganze Kollektion von Gerüchen, die ihm aus dem Nagelschen Spezereiwarenladen entgegenwehten, unter die Nase bekommen.

Herr Hannibal Pinsgen, der knapp mit seinem Radieschengesicht über die Theke fortsah, war gerade damit beschäftigt, den Erlös eines soeben verkauften Pfundes Korinthen in die aufgelegte Kladde zu tragen, als der Armenhäusler in den Laden hineinkeuchte.

»Servus, Mynheer van de Lucht,« komplimentierte dienstbeflissen Hannibal Pinsgen und praktizierte das Fragment eines Bleistiftes zwischen Spucklocke und den oberen Teil seines Ohres. »Womit kann ich dienen?«

»Mit . . .«

»Sehr obligiert,« dienerte Pinsgen.

»Sind Sie vielleicht Herr Hannibal Pinsgen?«

»Servus.«

»Merci!« wehrte der Taube ab, »ich brauch' keine Muschkatnuß und wollte nur fragen: ob Sie Herr Hannibal Pinsgen wären, Mynheer Nagel sein Pinsgen?«

»Bin ich!«

Er hatte sich dabei in den Zehen gehoben, um besser schreien zu können.

»Dann wissen Sie auch, ob Nikola nicht hier ist?«

»Nikola . . .

»Ob er nicht hier ist?« brüllte der Alte.

»Hier nicht – aber bei Madam Mömmes in Pensionierung!«

»Nä!« entsetzte sich Christ van de Lucht und kroch in sich zusammen, »da ist er nicht, bei Sie ist er nicht und bei mir ist er auch nicht gewesen . . .«

Jetzt ging auch dem jungen Mann ein Licht auf.

»Was los?!« fragte er mit aufgerissenen Augen und versuchte sich größer zu machen.

»Was los ist?! – Alles ist los – der Düwel ist los! – Wir können uns einmachen lassen! – Reinweg verschwunden! – Fort! – 'raus! – Nicht mehr zu finden! – Ich hör' schon, wie der Nagel in seine Totenlade gekloppt wird. – Das pinkt so und pinkt so! – Jesses – Maria . . .

»Malör!« zeterte Pinsgen, wollte seine Mütze erwischen, vergriff sich aber und stülpte sich eine wäscheblaue Papiertüte über die Ohren, turnte schnellbeinig, um sich einen Umweg zu sparen, über den Ladentisch, klatschte dabei aber eine Flasche mit feinstem Speiseöl von der Theke herunter und stürmte mit Papiertüte, Sackleinewandschürze und dem Vermerk ›Vor Nässe zu hüten‹ hinaus auf die Straße.

»Brand! – Brand! – Zu Hilfe!« brüllte Hannibal Pinsgen.

»Zu H–i–l–f–e!«

An diesem Nachmittage saß der Bäckermeister Jan ten Hompel, der im Nebenamt die erste städtische Wasserspritze kommandierte, in seinem Hinterstübchen und stippte sich ein Korinthenbrötchen in die vor ihm stehende Kaffeetasse, die es hinsichtlich ihres kubischen Inhalts bequem mit einem bayrischen Literkrug aufnehmen konnte.

In diesem Augenblick blieb ihm das eingeweichte Korinthenbrötchen teilweise im Halse stecken.

»Frau,« schrie er mit blaurotem Gesicht, »was ist draußen für'n Spermang?! – Ich glaube, da brüllt wer – ich glaube, da brüllt meinem Nachbar Petrus Nagel sein Pinsgen. – Frau, das Vaterland ruft – da muß ich kräftig mit mang sein – das will mein Dekor so,« sprang auf, langte sich den Freiwilligen-Feuerwehrhelm vom Nagel, setzte sich das freiwillige Ungetüm mit 'ner auserwählten Forsche auf den Kopf, schnallte sich noch einen Ledergürtel mit 'nem Brandeimer aus Segeltuch um den Bauch und stolperte bäckerbeinig und in seiner Eigenschaft als Spritzenmeister der städtischen Handdruckspritze Numero Eins ins Freie.

Man konnte es nun der Frau ten Hompel keineswegs verübeln, daß sie mit einem gewissen Stolz ihren braven Ernährer bis an die Haustür begleitete. Sie fühlte sich in diesem Moment so recht des Glückes voll, daß ein gütiges Geschick sie würdig befunden, ihr ein solch auserwähltes Stück von Mann mit in die Ehe gegeben zu haben. Herrgott im hohen Himmel, was war ihr lieber Manne überhaupt nicht alles! Gelernter Bäcker war er. Spritzendirektor, Vertrauensmann im Ausschuß des ultramontanen Wahlkomitees, ging bei der Fronleichnamsprozession mit 'ner dicken Wachskerze direkt hinter dem Allerheiligsten her, war stimmberechtigtes Mitglied der Mastviehprämiierungskommission und hatte es mit Gottes Hilfe fertig gebracht, sie, abgesehen von einem kleinen Malörchen vor der Ehe, siebenmal glückliche Mutter werden zu lassen. Das war denn doch 'ne große Sache! – und sie wollte mal sehen, ob sie es durch den Herrn Pastor nicht fertig bringen könne, ihm für diese Leistungen den Sankt Gregoriusorden zu verschaffen. Es brauche dem heiligen Vater nur richtig vorgestellt werden, aber das müsse nun fix geschehen, denn wenn der heilige Vater erführe, daß ihm so ein verdienstvoller christkatholischer Bürger noch nicht zur Dekorierung vorgeschlagen sei, dann könne es dem Herrn Pastor doch mal eklig in die Bude hineinregnen. Na, sie wollte nicht vorgreifen; der Herr Pastor würde schon alles richtig besorgen, und sie freute sich schon jetzt auf die Ehrungen, die ihrem Manne zuteil werden sollten, denn, Hand aufs Herz, er verdiente es wirklich – und nun ging dieser charakterfeste Ausbund von Familienvater, der Erzeuger von acht lebendigen Kindern noch hin, um sein unersetzliches Leben bei diesem fürchterlichen Brande in die Schanze zu schlagen. Sie sah ihn schon, wie er mit seinem fünfzig Meter langen Spritzenschlauch zwischen den brennenden Dachsparren stand, dem heillosen Feuerspektakel mal von so oben herab seinen fachmännischen Standpunkt klarmachte und überhaupt das Ganze kommandierte.

»Männe, sei vorsichtig!« rief sie ihm noch nach, als er, mit dem ganzen feuerwehrlichen Apparat ausgestattet, auf die Straße hinaustrat.

«Zu H–i–l–f–e!«

Hannibal Pinsgen hatte das Unglück, ihm grad in die Finger zu laufen.

»Pinsgen, wo brennt's denn?«

»Zu H–i–l–f–e!«

»Na, wo denn?«

»Servus, es brennt nicht, ich hab' mich versprochen, aber der Nikola . . .

»Und brennt nicht?«

»Brennt nicht – aber der Nikola . . .

»Was?!« geriet der Bäckermeister in Harnisch, »es brennt nicht mal, und ich hab' mich schon in meine neue Montierung geworfen! – Sie Drecksprophet, Sie Schweinemarkör von 'nem duseligen Rindvieh – mir nicht mal dieses Pläsierchen zu lassen und reelle Staatsbürger und Steuerzahler auf so 'ne infamige Leimrute zu locken! Da, Pinsgen . . .«

Herr ten Hompel war der gutmütigste Mann von der Welt, der ein Späßchen vertragen konnte. In seiner Eigenschaft als Spritzenmeister hingegen war er anderer Ansicht. Dann duldete er auch nicht das geringste Konträrchen, dann konnte er fuchsteufelswild werden, dann erinnerte er sich, daß er ein rechtes Handgelenk hatte, und dieses Handgelenk konnte mit fünf Fingern aufwarten – und diese fünf Finger dirigierte er nun so regelrecht in das Radieschengesicht von Hannibal Pinsgen, daß dieser sich dreimal mitsamt seiner Packleinewandschürze im Kreise herumdrehte.

»Nichts für ungut, Herr Pinsgen,« empfahl sich der verärgerte Bäckermeister und ging mit Brandeimer und Feuerwehrhelm wieder nach Hause.

Frau ten Hompel jedoch, die etwas von ›Nikola‹ gehört hatte und die Situation überschaute, wandte sich an den armen Handlungsbeflissenen und fragte: »Is er dot, Pinsgen?«

»Halb!« brüllte dieser und war gleich darauf wie von der Erde verschlungen.

»'ne Tränenkomödi!« schüttelte Christ van de Lucht den Kopf, machte noch der Bäckermadam 'nen ›Baselemanes‹ und ging dann gleichfalls nach Hause. –

Ja, es war eine Komödie, wenn auch noch keine Tränenkomödie – aber das sollte bald kommen. – – –

»Klipper – klapper . . .

Mit ihren blankgescheuerten Holzpantöffelchen arbeitete sich Threschen über das Fahrgeleise des schlüpfrigen Dammes. Sie lief in Richtung der Bunten Schleuse und ließ das Häuschen, in welchem Josias Spettmann wohnte, linker Hand liegen. Der Kiwi war gerade mit einer Last frischgeschnittener Weidenruten nach Hause gekommen, als er das Kind gegen den Abendhimmel bemerkte.

»Schwere Brett noch mal!« dachte Josias, »da geht ja noch das Fingerhutsthreschen,« legte der Sache aber keine weitere Bedeutung bei, tauchte die schwanken Gerten in einen bereitgehaltenen Bottich mit Wasser und steckte eine Portion Grundangeln zu sich, um sie noch vor einbrechender Nacht in die benachbarten Kolke des Binnenlandes zu setzen.

»Oha!«

Ein Liedchen vor sich hinpfeifend, stakelte er dann durch die feuchten Wiesen, wo die Kibitze auf und nieder schwankten und sich in allerhand Flugkünsten versuchten.

Jetzt flogen sie schaukelnd und mit runden Flügeln gegen den Deich an.

Dem armen Threschen saß noch immer die Angst wie eine graue, bissige Ratte im Nacken, und wie die Kleine auch mit den Ärmchen gestikulieren mochte – der ekelhafte Nager ließ sich nicht abschütteln, behauptete seinen Platz und sah ihr mit seinen blutschwarzen Äugelchen über die Schultern. Ihre müden Füßchen sputeten sich immer schneller und schneller. Wahllos lief sie dem Deich nach, der sich jetzt in einer fast schnurgraden Linie durch die weite Niederung hinzog. Rechts von ihr lagen die noch immer angeschwollenen Wasser des Kalkflacks.

Die Sonne war tiefer gesunken. Sie brauchte nicht mehr lange, um gänzlich unterzutauchen. Vor ihrem Scheiden hatte sie noch glühende Tupfe über das Wasser geworfen. Blank und totenstill ruhten sie auf der endlosen Fläche; manchmal schien es so, als riefen traurige Stimmen aus weiter Ferne herüber. Es lag etwas Dumpfes, Brütendes, Ahnungsvolles unter dem Himmel, das sich auch der ruhigen Tiefe mitgeteilt hatte. Ja, es war so, als wenn sich drüben etwas Weißes erhübe, näher käme, eigenartig heraufblenkerte und sich in Richtung der Bunten Schleuse bewegte. Die schwarzweißen Vögel, die bislang ob den Wiesen geschwankt hatten, erschienen jetzt über dem Wasser, strichen mit langsamen Schwingenschlägen dahin, überschlugen sich, um dann lautlos und in seltsamen Schnörkeln um Threschen zu rudern.

Die Kleine kannte die gaukelnden Flieger. Immer enger zogen sie ihre säuselnden Kreise. Sie vernahm deutlich das weiche Sausen und Wuchteln der gerundeten Schwingen. Es hatte fast den Anschein, als wenn sie das Kind hindern wollten, weiter zu gehen. Aber die graue Ratte saß ihm noch immer im Nacken und trieb es weiter und weiter. Da gaben die großen Vögel ihre Warnungsversuche auf und strichen landeinwärts.

»Klipper – klapper . . .!« Threschen war voran gehastet.

Aber wer stand da, an der Bunten Schleuse da hinten . . .?! – Ach, Gott! – der hatte da schon lange und mutterseelenallein auf seinen strammen und festen Beinchen gestanden, und war ein kleines Kerlchen mit einem lustigen Vivatsträußchen über der Stirne, trug ein blaubedrucktes Leinewandschürzchen und rotwollene Strümpfchen und sah quietschvergnügt auf die blanken Häuschen von Wissel, die winzigklein in der Ferne lagen, als wären sie eigens hierzu aus einer Nürnberger Spielschachtel in die Gegend gestellt worden. Die Häuschen schienen ihn magnetisch gefesselt zu haben. Hin und wieder hatte er allerdings nach einer saftigen Butterblume geäugelt, die, in der steilen Böschung des Deiches wurzelnd, nur mit ihrem oberen Teile aus dem Wasser hervorsah. Blätter und Kelch ruhten strotzend auf der ebenen Fläche. Seine Fingerchen zuckten danach, aber er wußte: er stand hier auf Posten, durfte nicht fortgehn, auf die Gefahr hin, den schönen Moment zu verpassen, wo sein Vater weit hinten auftauchen würde. Und so stand er denn da, der kleine Sünder, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, daß Madam Mömmes Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, ihn wieder zum Vorschein zu bringen, daß Christ van de Lucht zu Pinsgen gelaufen, daß Hannibal Pinsgen in seiner gerechtfertigten Angst und Bedrängnis die feinste Bouteille mit Speiseöl von der Theke gerissen, daß er ›Brand‹ und ›Zeter‹ gerufen, daß Jan ten Hompel, von Kaffeetasse und Korinthensemmel fort, in die neue Feuerwehrmontierung gefahren, daß sein braves Weib ihm für diese wackere Tat schon so halber den Sankt Gregoriusorden verliehen, daß Pinsgen sich wegen zu voreiligen Schreiens mit einer handfesten Maulschelle abfinden mußte, und Christ van de Lucht die traurige Begebenheit für hoffnungslos erachtet und weinerlich als eine Tränenkomödie allererster Klasse signiert hatte.

Nein – der kleine Sturkopf hatte keine Ahnung von der babylonischen Verwirrung. Er stand ruhig wie ein putziger Bleisoldat auf Posten und war nur von dem Wunsche beseelt, so bald wie möglich auf dem Vehikel seines Vaters nach Hause zu fahren. Er befand sich so ganz allein inmitten der weiten Niederung und hörte mit einer gewissen Beängstigung, wie es in den Schleusentoren rumorte. Nur der Westwind war bei ihm. Der blies ihn an und trieb seine Schürzenbändel nach aufwärts, daß sie fidel mit seiner kregelen Tolle hofierten. Hinter ihm, von der Stadtseite her, tönten verwehte Klänge.

»Seß,« sagte er, als ihn lautes Holzschuhgeklapper aufschreckte. Jetzt erst bemerkte er das kleine Mädchen, das atemlos auf ihn zustürmte und sichtlich erfreut war, ein Lebewesen gefunden zu haben, dem es sein armes Herzchen ausschütten durfte.

»Du . . .!« meinte Threschen mit fliegendem Atem.

»Was soll ich?«

»Du bist Nikola Nagel,« sagte sie hastig.

«Ja.«

»Und bist bei Mutter Lisbeth in der Benehme?«

»Ja – ich bin bei Mutter Lisbeth in der Benehme. Und Du?«

»Ich bin Threschen vom Fingerhutshof,« schluchzte die Kleine.

»Da hinten . . .

»Ja.« Jetzt sah er auch, daß sie geweint hatte. »Warum weinst Du?« fragte er kleinlaut.

»Weil meine Mutter geweint hat.«

»Weint die immer?«

»Ja,« sagte Threschen.

»Warum denn?«

»Das darf ich nicht sagen,« versetzte sie schüchtern.

»Sag's doch.«

»Weil Vater . . .«

»Oh!« machte Nikola und wischte ihr mit seinem Schürzenzipfel die Tränen herunter. »Hat er ihr gehaut?«

»Das weiß ich nicht; aber so hat er vor ihr gestanden . . . und da hab' ich Bange bekommen.«

»Wenn er ihr gehaut hat,« patzte der Kleine auf, »dann muß sie's for den Schandarm sagen.«

»Das darf man doch nicht.«

»Ja. – Ich sag's auch for den Schandarm, weil mich Mutter Lisbeth gehaut hat.«

»Und da bist Du fortgelaufen?«

»Bin fortegelaufen.«

»Worauf wartest Du jetzt?«

»Auf meinen Pappa, ob er mir was mittegebracht hat.«

»Und der ist immer lieb zu Dir?«

»Immer lieb,« sagte er.

Da kam's über Threschen, als wenn sein Herzchen alles verloren hätte. Die Kleine wußte nicht mehr, was sie anfangen sollte.

»Mutter! – Mutter . . .

Wimmernd richtete sie ihre Blicke auf die braunroten Dächer, unter denen sie das Entsetzliche gehört und gesehn hatte.

Da mußte der kleine Junge auch weinen. Erst tastete er verlegen nach der Hand seiner Gefährtin, dann aber legte er sein Ärmchen um ihren Nacken und sagte: »Threschen lieb sein, Threschen nicht weinen, Schandarm soll kommen und Vater zum Bullemann bringen.«

Und Nikola war kleiner wie sie, und da geschah es, daß sein lustiges Haarsträußchen ihr Näschen berührte. Und das kitzelte so – und da mußte sie lächeln, und aus dem Lächeln wurde ein heiteres Lachen, und da sprang die ekelhafte Ratte mit einem großen Satz von ihrem Nacken herunter.

»Bums!« sagte Nikola, griff Threschen herzhaft bei den Händchen, schwenkte die strammen Beine, daß es nur so eine Art hatte und meinte: »So, nun wollen wir tanzen.«

»Und singen!« stimmte sie ein, und mit hellem Geklapper strampelten die Füßchen im Kreise umher, und Nikola krähte wie ein übermütiges Hähnchen, dem noch die Spuren der erst vor kurzem entschlüpften Eierschale an der lustigen Kehrseite klebten.

»Klipper – klapper . . .

»Weiter!« kommandierte der ausgelassene Tänzer, und »weiter!« fiel Threschen dazwischen, und die Kinder hörten es nicht, daß wieder die traurigen Stimmen weithin über den Wassern laut wurden und immer näher und näher kamen. Auch der weiße Nebelstreifen von eben wanderte geheimnisvoll gegen den Deich an. Flattertücher waren's, die sich langsam voran bewegten, keine Ruhe hatten, sich drehten und wanden, als wenn sie etwas suchten und finden müßten, um es still und geräuschlos zu bedecken. Und eine weiße Hand streckte sich vor . . .

»Weiter, weiter!« lachten die Kinder. Sie tanzten und hopsten, bis Threschen die Holzschühchen anhielt und in den Abend mit heller Stimme hineinsang:

»Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, wank de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

»Helder op den Telder . . .!« jauchzte Nikola, »und jetzt mußt Du meine Frau werden, denn ich bin Tönig, und denn wirst Du Tönigin vom Fingerhutshof, und denn singen wir immer:

»Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

»Das will ich,« sagte die Kleine und spitzte die Lippen. So heiter und guter Dinge wie in dieser Stunde war sie selten gewesen. Sie dachte an nichts mehr, sie vergaß Vater und Mutter und das Leid, was noch kurz vorher sich in ihr kleines Herzchen gefressen.

»Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

wiederholte sie lachend, schlang die Ärmchen um ihren Partner und küßte den kleinen Hosenkönig mit ihrem roten Mündchen so recht aus tiefster Seele, als müßte sie sich ihm hierdurch für alle Zeiten verpflichten.

Und der putzige Knirps hielt still und hatte Gefallen daran. Er kam sich vor wie der verwunschene Königssohn in der schönen Geschichte, die Mutter Lisbeth immer und immer wieder erzählen mußte. Er war wie verzaubert, rein wie verzaubert . . .

Seine blanken Äugelchen strahlten. Er suchte in ihren Blicken zu lesen, ob sie's noch einmal tun würde.

Ja – er durfte hoffen; da hob er sich mit den Zehenspitzen und sagte: »Gib mir noch ein Küßchen.«

Und sie küßten sich wieder. Es war ein seliges Kinderglück auf hoher Deichkrone – zwischen Himmel und Erde. Und die Sonne sah es und war lächelnd untergegangen, und der Wind sah es und wurde steifer und straffer, und das Wasser sah es und wurde seltsam und unruhig – und die Butterblume sah es und blühte schöner denn vorhin.

Das Wasser furchte sich merklich und trieb große Zirkel gegen das Ufer. Es war so, als habe eine unsichtbare Hand einen Stein in die Tiefe geworfen.

Leise begann die Butterblume mit ihrem schwefelgelben Kelche zu schwanken. Auf und nieder bewegten sich ihre leberförmigen Blätter.

»Jetzt wollen wir ›Engelchen‹ spielen,« dekretierte der verwunschene Königssohn, setzte auch gleich seinen Befehl in die Tat um, indem er seine Ärmchen bewegte, als seien ihm Flügel gewachsen.

»Nein,« sagte Threschen dagegen, »das tu' ich nicht gerne.«

»Oh!« machte Nikola und hielt mit seinen Flügelbewegungen inne, »aber warum nicht?«

»Weil es meine Mutter nicht gern hat, denn Mutter sagt immer, wenn man das täte, dann würde man selber bald ein Engelchen werden – und ich will noch kein Engelchen werden. Aber König und Königin wollen wir spielen . . .«

»Wollen wir spielen«, gab sich Nikola zufrieden und stellte sich hin, als könnte es für seinetwegen mit dem ganzen Hofstaat und allen einschlägigen Zeremonien gleich losgehn.

»Aber es fehlt was,« sah sich Threschen jetzt um.

»Was fehlt denn?«

»Das goldene Ding, wie's im ›König Nußknacker und dem armen Reinhold‹ steht, und was richtige Könige immer in der Hand haben müssen, – Aber wart' mal ein bißchen . . .«

»Da kuck mal!« jauchzte sie auf und starrte auf eine einzige Stelle, als wenn sie in tiefer Überlegung stände.

Es war plötzliche Dämmerung eingetreten. Der Abend warf seine Schatten weit über die Tiefen hinaus. Die Fernen verloren sich in einem ungewissen Duft. Keine Lichter spielten mehr auf der verschwommenen Fläche. Das Wasser hatte eine düstere, fast schwarze Färbung angenommen und quirlte murrend gegen die Deichflanke. Selbst in unmittelbarer Nähe der Böschung waren nicht alle Gegenstände mehr deutlich erkennbar. Nur die Butterblume winkte herauf, scharfumrissen und leuchtend, als wäre sie aus lauterem Golde geschlagen. Sie kam frisch aus der schöpferischen Hand des ewigen Gottes. Eine magnetische Kraft ging von ihr aus. Sie lockte mit ihrem gelben Stern und winkte mit ihren Blättchen herüber, Saftgrün schwankten sie auf dem Wasser, das sie immer lauter umspielte und weiße Schaumspritzer über sie fortwarf.

»Da steht ja das Ding, was Du in der Hand haben mußt!« jubelte Threschen. »Wart' mal ein bißchen, dann wirst Du so'n richtiger König.«

»Oh!« machte der Kleine und streckte schon die Hand aus, um das Blumenszepter in Empfang zu nehmen.

Und die Böschung war steil, und der Boden war schlüpfrig geworden . . .

Und Threschen beugte sich vor.

»Wart' noch ein bißchen . . .«

»Ich warte.«

Wieder riefen die klagenden Stimmen über das Wasser; dann war es wie ein dumpfes Rumpeln und langgezogenes Seufzen da unten. Mit schwarzen Augen sah es aus der unbekannten Tiefe. Der Nebel schwemmte herauf, und die weiße, geisterhafte Hand . . .

»Nikola . . .

In diesem Augenblick stieß Threschen einen gellenden Schrei aus. Der kleine Junge wußte nicht, wer geschrieen hatte, denn die Stelle, wo Threschen gestanden, war leer. Da drehte ihm die Todesangst den Kopf auf dem Nacken herum.

»Threschen! – Threschen . . .

»Herr Jesus Christus . . .

Hinter der Deichkrone tauchte ein hageres, bleiches Gesicht auf, dann eine Gestalt . . . Es war Josias.

Mit hastigen Schritten, einen heulenden Ton von sich gebend, lief er die Deichkrone entlang.

Die eisgrauen Haare flatterten im Wind, der immer heftiger aus Westen nach dem Binnenland zublies.

Von der Stadtseite her machten sich laute Stimmen bemerkbar, die wirr durcheinander riefen. Auch die von Hannibal Pinsgen war unter den Stimmen – dann ein dumpfes Schweigen und Brüten.

Plötzlich ging ein jäh abgebrochener Laut durch die Totenstille. Es war weiter stromabwärts und hatte Ähnlichkeit mit der Klage eines verwundeten Tieres.

Josias Spettmann hatte gefunden, was er suchte – aber er war zu spät gekommen. Heulend und mit seiner geringen Last in den Armen lief er in Richtung des Fingerhutshofes.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi . . .

Trüb und verschüchtert, fast nebelhaft, dämmerte die erste Sichel des Mondes durch die Schleier des dichter werdenden Haarrauchs.

Das Geheul des Kiwi drang bis auf das stille Gehöft.

»Da muß ein Unglück passiert sein,« sagte der Knecht, der vorhin das widerspenstige Pferd longiert hatte und jetzt schwerfälligen Fußes vom Abfüttern kam, »der Deichvogel schreit so. – Aber was schadet's denn; 'ne Hand voll Kirchhofseide bringt wieder 'nen richtigen Dreh in die ganze miserable Geschichte. Die hier auf dem Fingerhutshof können's vertragen.«

 


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