Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XVI Das Testament

Die sieben stattlichen Linden vor dem Hause des Notars Johann Peter Gerechtsam neigten sich respektvoll voreinander, und jedes Mal, wenn sie eine Verbeugung gemacht hatten, wirbelte es goldig von den halbkahlen Ästen. –

Es war Allerseelen geworden. Am Tage zuvor hatte der Frost eingesetzt, und während der Nacht hatte es geheimnisvoll geflirrt und geflimmert. Sternchen um Sternchen fiel, und am frühen Morgen lag die erstarrte Erde unter einem schimmernden Schneetuch. Der hölzerne Kruzifixus, der inmitten des Friedhofes aufragte, sah milde auf die Gräber hinab, die, nach großen und kleinen geordnet, sich in schnurgerader Richtung zu seinen Füßen gruppierten. Hinter dem eingeschneiten Holzstock streckte sich eine leuchtende Fläche. Es war so, als sei ein safrangelbes Brett auf den tiefen Himmel genagelt. Der Wind spielte mit den dürren Gräsern, die aus der Schneedecke vorragten.

Viele Leute kamen und gingen; die wenigsten aber beachteten das kleine Grab, das mit einem gußeisernen Kreuzchen geschmückt war.

Hier ruhte Threschen.

Die Welt vergißt so leicht. Selbst die traurigsten Ereignisse flackern nur für eine kurze Spanne gen Himmel, ähnlich einem Strohfeuer, das aufflammt, um plötzlich in sich zusammenzufallen. Die Menschen haben etwas anderes zu tun, als solchen Ereignissen nachzuhängen. Sie kommen und gehn, schaffen und hasten, sorgen und mühen, hassen und lieben, bis endlich ein stiller Geist erscheint, leise die Fiedel spielt und mit ihnen, just wie es mit dem armen Threschen der Fall war, nach den vielen Kreuzen und Kreuzchen hinaustanzt. Und wie es dem unglücklichen Kinde erging, so wird es auch ihnen ergehen: sie werden vergessen.

Nur wenige Menschen dachten an Threschen.

Am frühen Morgen war eine schwarzgekleidete Frau an seinem Grabe gewesen. Lange hatte sie dort auf den Knien gelegen, hatte den kalten Schnee geküßt und die starre Erde mit ihren Tränen erwärmt und befeuchtet. Um die Mittagsstunde war der kleine Nikola gekommen. Mit verklammten Händchen legte er ein Kränzchen von getrockneten Blumen auf den Hügel seiner heimgegangenen Freundin. Traurig wehte der Wind seine Schürzenbändel über das Grab fort. Als es dann dunkel wurde, der hohe Kruzifixus sich mit den Floren des werdenden Abends umhüllte, wurden sieben kleine Geisterstämmchen auf der einsamen Stätte lebendig. Sie lebten eine geschlagene Stunde.

Als sie ausgebrannt hatten, verließ Gert Liffers gesenkten Hauptes den Kirchhof. –

Allerheiligen und Allerseelen vergingen.

Der Frost war stärker geworden. In der Nacht, die dem Allerseelentage folgte, glänzten die Sterne in seltener Klarheit. Anderen Morgens hatten die alten Linden nur noch wenige Blätter. Der Wind grapste hinein und warf die letzten, goldgelben Herzen gegen die Fensterscheiben der Notariatsstube, in welcher die Sekretäre saßen und emsig mit ihren Federn auf den glatten Papierbogen hantierten.

Die Tür, die in das Privatkabinett des Notars führte, stand geöffnet.

In dem vorderen, blautapezierten Bureau, das auf die Straße hinaussah, standen verschiedene Regale, die einen Geruch nach Aktenstaub und eingetrockneter Tinte ausströmten.

An einem schwarzangestrichenen Pult arbeitete Knippscheer, während Fritze Sötentitt ihm gegenüber saß und sich damit beschäftigte, Aktenschwänze zu schneiden, sie zu signieren und in die bereit liegenden blauen Deckel zu kleben.

Knippscheer war wieder der gallige, grämliche, verbitterte Knippscheer geworden. In den ersten Tagen seliger Hoffnung hatte ihm der Himmel voller Geigen und Cymbeln gehangen; er war freundlich, aufgeräumt gegen jeden, beglückte sich zweimal in der Woche mit einem frischen Vorhemdchen, schob sich keinen Papierbogen mehr unter den Hintern und ließ die abscheuliche, tintenbekleckste Ärmelstauche beiseite – und zwar alles à Konto der zwanzigtausend Tälerchens, die ihm nach Aussage van Bommels der Donnerjü zu vermachen gedachte. Allein sein weitläuftiger Vetter kam nicht und kam nicht; seine Freudigkeit schrumpfelte wie ein überwinterter Apfel in sich zusammen, und je länger er harrte und hoffte, um so intensiver fiel er in seinen früheren Zustand, in seine Sparsamkeits- und Tyrannengewohnheiten zurück, bediente sich wieder des Hosenfallreeps, brachte die antiquierte Ärmelstauche aufs Frische zum Vorschein und traktierte Sötentitt genau in derselben Weise mit den obligaten Ohrfeigen, wie es der arme Bengel von früher gewohnt war.

Sulpiz Knippscheer ärgerte sich über alles und jedes. Er konnte keine Fliege sehn, der er nicht den Garaus machen mußte, schimpfte auf das stetige Rascheln der Lindenblätter da draußen, behauptete, der infame Kerl von Materialist habe die miserabelste Tinte geliefert und sah dem Kanonenofen griesgrämig zu, wenn der fidele Gesell rote Backen bekam und lustig in die Stube hineinknackte.

»Klatschdich . . .

Der arme Zeilenschreiber, von dem plötzlichen Glauben besessen, der wohlgezielte Hieb habe ihm gegolten, wäre vor lauter Schreck beinah von seinem Kontorstuhl gepurzelt, sah aber noch zur rechten Zeit, daß er daneben geglaubt hatte. Dagegen war die allerletzte Winterfliege, die ihm durch ihr anheimelndes Summeln und Summsen die Langeweile des Bureaus erträglich gemacht hatte, endlich ihrem Schicksal verfallen. Unwillig hatte sie Knippscheer mit einem breiten Lineal niedergehauen und auf einen funkelnagelneuen Stempelbogen geheftet. Ungewollt paradierte sie nun als Siegel unter dem ›Wir Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen‹.

»Die wird nicht mehr mausig,« grinste der Notariatssekretär, »und so mag's allen ergehn, die da räsonnieren: gegen Demokraten helfen nur Soldaten.«

»Herr Knippscheer,« sagte plötzlich der Junge.

»Was soll's?« herrschte ihn der Angerufene an, unwillig über die verursachte Störung. »Bengel, was gibt's denn?!«

»Herr van Laak kommt,« klang es verschüchtert, »und Krispinus van Bommel ist bei ihm.«

»Wer?! – Wo?!« machte Knippscheer und war, ohne die Antwort abzuwarten, ans Fenster gesprungen, überzeugte sich von der Richtigkeit der aufgestellten Behauptung, schwang sich fidel auf den Büreaustuhl zurück, riß sich den Papierbogen unterm Sitz fort und praktizierte die Stauche mit unbändig-frohem Gekicher unter den Deckel des rasch aufgeschlagenen Pultes. Hierauf setzte er eine Gönnermiene auf, wie sie Sötentitt noch niemals erlebt hatte, griff kichernd in die Seitentasche und offerierte ihm, immer heftiger kichernd, das aufgeklappte Zigarrenetui.

»Herr Sötentitt, ich bitte darum, sich gefälligst bedienen zu wollen.«

Zum zweiten Male in seinem Leben sah sich das Aktenmännchen vor die unumstößliche Tatsache gestellt, daß der liebe Gott noch immer mit Zeichen und Wundern bei den Menschen umherging, besann sich auch keineswegs lange, da er die Launen seines Vorgesetzten kannte, griff dieserhalb mit einem alleruntertänigsten Diener in das volle Zigarrenleben hinein und langte sich ›Eine‹, während sein hoher Gönner die zusammengeklatschte Fliege betrachtete und in die fast wehmütig klingenden Worte ausbrach: »Tot, um nicht wieder aufzuwachen zu einem freudigen Dasein! Wie schade, wie schade! Soeben noch gelebt und gesummelt – die Ärmste! Und jetzt . . .?!«

»Herein!«

Barthes und Krispinus waren ins Zimmer getreten.

»Tag, Herr Geheimrat,« sagte der Donnerjü, »ist der Notarius zu sprechen?«

»Bitte, hierneben.«

Vor innerer Erregung war er kaum im Stande gewesen, zu antworten. Wie bei einer Walzermelodie prickelte es ihn bis in die Zehenspitzen hinein. Den demokratischen Standpunkt schmiß er beiseite, obgleich er sich ihm neuerdings wieder zugeneigt und noch vor einer halben Stunde sich selber das feierliche Versprechen gegeben hatte, in dieser allein richtigen und trätabelen politischen Ansicht leben und sterben zu wollen. Er betrachtete Barthes mit verklärtem Gesicht.

In diesem Augenblick erschien der Notar, ein Mann in den sechziger Jahren, in der Tür seines Privatkabinetts. Mit seinen durchgeistigten Händen strich er sich langsam durch das graumelierte Schläfen- und Barthaar und meinte: »Herr van Laak, was verschafft mir denn die Ehre?«

»Nur so'n kleines Äktchen auf Leben und Sterben.«

»Also Testierung des letzten Willens?«

»Richtig,« nickte der Donnerjü, »und wenn's angeht, noch heute. Die Geschichte muß mir doch endlich von der Leber herunter.«

»Herr Knippscheer, zwei Zeugen,« wandte sich der Notar an seinen ersten Gehilfen und betrat mit seinem Klienten und Krispinus van Bommel sein eigenes Amtszimmer.

Sötentitt wurde geschickt, die Zeugen zu holen.

»ten Hompel und Pollmann!« rief ihm sein Gönner noch nach, dann ließ Knippscheer in nervöser Eile die Feder wieder über den gestempelten Papierbogen hasten. Die Buchstaben lachten ihn an, und die Schnörkel, die er in seiner Herzensfröhlichkeit machte, schnitten so vergnügte Gesichter, als sollten sie selber Miterben werden. Nein, was lag in dem Wörtchen ›Testament‹ doch nicht alles verborgen! Ehefreuden, 'ne mollige Stube, auch zwei, auch drei und ein sorgenfreies Leben für später . . .

»Sophie, Sophie . . .!« kicherte und lachte Knippscheer in sich hinein, rieb sich die Hände und schlenkerte die Beine verliebt um den Drehstuhl. Die Ohren wurden ihm lang und versuchten durch die gemaserten Türfüllungen ins Nebenzimmer zu dringen. Sie hörten nur wenig. Die Besprechung nebenan bewegte sich in den Grenzen des üblichen Konversationstons, blieb ruhig und sachlich und erhielt nur zeitweise durch ein abmahnendes oder zustimmendes Krähen vonseiten van Bommels eine lebhaftere Färbung.

Mit übereinandergeschlagenen Beinen, den Kopf nach vorne gesenkt und die Augen geschlossen, saß Herr Johann Peter Gerechtsam seinem amtlichen Besuch gegenüber. Mit sichtlicher Spannung schien er den Auseinandersetzungen seines Klienten zu folgen, bis er schließlich die Arme verschränkte, die Blicke erhob und den Kopf in bedenklicher Weise seitwärts bewegte.

»So, das wäre nun alles,« schloß Barthes van Laak seine erläuternden Worte, »wobei ich mir allerdings die Frage erlaube, ob das Gesetz in dieser Form die Betätigung des Aktes gestattet und nicht berechtigt ist, mir 'nen Hemmschuh an den Radkranz zu legen.«

»Zackerzucker – wieso denn?!« legte sich Krispinus van Bommel ins Mittel.

Der Notar machte eine abwehrende Handbewegung.

»Im allgemeinen wohl nicht,« sagte er mit gelassener Ruhe, »obgleich ich Ihnen über die Art und Weise, wie Sie zu testieren gedenken, mein Befremden nicht vorenthalten möchte.«

»So?!« krähte van Bommel, »das wäre denn doch 'ne kuriose Geschichte!«

»Herr van Bommel, Sie sind wohl der Berater Ihres Herrn Neffen gewesen?«

»Allerdings,« bestätigte dieser.

Um die Züge des Fragestellers spielte ein ironisches Lächeln. »Herr van Laak,« sagte er dann mit einer gewissen Erregung und ohne sich weiter an den Alten zu kehren, »ich, in meiner Tätigkeit als amtierender Notar nicht allein, sondern vornehmlich in meiner Eigenschaft als fühlender Mensch, rate dringlich zum Frieden und möchte Sie in Ihrem Interesse und dem einer Zweiten freundlichst ersuchen, von der Niederlegung Ihres letzten Willens in dieser verletzenden Art und fatalen Gestaltung Abstand nehmen zu wollen. Ich weiß aus Erfahrung: auf der Mühle des Lebens reiben oft die Steine hart aneinander, unliebsame Konsequenzen werden gezeitigt, Verstimmungen, eheliche Zwiste laufen mit unter, Irrungen, die momentan das häusliche Glück untergraben, stellen sich ein, schaffen Wochen und Monde der Qual und bringen Unlust zur Arbeit, aber alles will nicht übers Knie gebrochen werden. Die Steine schleifen sich ab und gewöhnen sich allgemach an ein gemeinsames Schaffen, die Charaktere ergänzen sich, und die Herzen, die sich feindlich gegenüberstanden, harmonieren wieder und schlagen in alter Treue zusammen. Jeder voreilige, unüberlegte Schritt ist vom Bösen, und daher: ich bitte Sie dringend, die Angelegenheit vor der Testierung noch einmal prüfen und gewissenhaft überlegen zu wollen.«

»Herr Notarius,« meinte der Donnerjü und schüttelte energisch den Kopf, »das ist ja alles recht schön, aber hier ist nichts mehr zu prüfen. Das ist vorher geschehen, und ich bitte darum, meinen Willen so zu Papier und unter Siegel zu bringen, wie ich das für richtig befunden.«

Die Worte kamen ihm trocken und hart aus dem Munde; mit Mittel- und Zeigefinger klopfte er dabei in lebhafter Weise auf die Kante des Tisches.

»Dann allerdings,« sagte der Notar, erhob sich und durchschritt etliche Male das Zimmer. Plötzlich blieb er stehn, zog mechanisch einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche und spielte wie in Gedanken damit, daß die einzelnen Teile sich klingend bewegten. Gleichzeitig fixierte er den Donnerjü mit milden Augen und fragte: »Also für den Fall, daß Sie ohne leibliche Erben mit Tod abgehen sollten, wird ein Testament in Kraft und Wirkung treten ungefähr des Wortlauts, wie Sie es soeben in meiner Gegenwart mündlich auseinandergesetzt haben?«

»Ja.«

»Ich rekapituliere daher: zum Universalerben bestimmen Sie Herrn Ferdinand van Bommel, Lehrer in Elten.«

»Stimmt,« nickte Barthes.

»Von diesem sind folgende Legate auszuwerfen: dreitausend Taler für die hiesige Kirche von Sankt Nikolai.«

»Richtig.«

»Dem Herrn Krispinus van Bommel, früher Seilermeister, jetzt Kaufmann, in hiesiger Stadtgemeinde domiziliert, beziehungsweise dessen rechtlichen Erben – die Liegenschaften, die im Flurbuch unter dem Titel ›In der Priesterkoppel‹ genannt sind.«

»Freundchen! – Freundchen . . .!« rief der Alte in seiner höchsten Fistelstimme, »wir wollen hoffen: meine rechtlichen Erben!« reichte seinem Neffen die Hand über den Tisch hin und versuchte, eine Träne zu mobilisieren.

Der Notar sah fragend Barthes van Laak an.

»Hat seine Richtigkeit,« bestätigte dieser.

»Inferner: dem Herrn Notariatssekretär Sulpiz Knippscheer, ledig und ebenfalls domiziliert in hiesiger Stadt- und Kirchengemeinde – zwanzigtausend Taler in bar, eventuell Schadloshaltung durch Verpfändung der in der Gemeinde Wisselward liegenden Grundstücke.«

»Wie ich gesagt hab',« konstatierte Barthes, »kein Titelchen fehlt dran, und ich bitte darum, nun voran zu machen und die Geschichte unter Zeugen und Siegel zu bringen.«

»Wenn es an der Zeit ist,« sagte der Notar mit ernster Betonung. »Vorher aber habe ich noch einige Fragen zu stellen.«

»Bitte.«

»Herr van Laak, sind Kinder vorhanden?«

»Nein.«

»Und auch nicht zu erwarten?«

Der Gefragte zuckte die Schultern.

»Kaum,« sagte er schließlich.

»Hat Ihre Frau Vermögen mit in die Ehe gebracht?«

»Die?« fragte der Alte. »Kein Dittchen!« rief er alsdann höhnisch dazwischen.

»Herr van Bommel, ich muß Sie dringend ersuchen, derartige Zwischenrufe unterlassen zu wollen. Sie passen nicht in die ernste Verhandlung.«

Ein heiliger Zorn flammte in den milden Blicken des instrumentierenden Notars auf. Mit Gewalt suchte er seinen Unmut und seine Erregung niederzukämpfen. Endlich gelang's ihm.

»Herr van Laak,« wendete er sich wieder an diesen, »Sie haben der Kirche ein Erkleckliches zukommen lassen, obgleich die ›Tote Hand‹ übrig genug hat und das ihr vermachte Kapital für die Allgemeinheit so gut wie verloren sein dürfte. – Sie sind willens, sich Ihren näheren und entfernteren Verwandten gegenüber äußerst generös und liebenswürdig zu zeigen, und das ist Ihr gutes Recht und ehrt Ihren Charakter in jeglicher Hinsicht, und seien Sie überzeugt: bei Ihrem Vermögen – ich gönn' es den Leuten, aber ich komm' nicht darüber: was – um Himmels willen! – kann Sie nur veranlaßt haben, Ihre Frau so zu behandeln?«

»Oho!« knurrte van Bommel.

»Die?« fragte der Donnerjü mit stieren Blicken und sah den Notar an.

»Allerdings.«

»Herr Notarius,« trumpfte der Donnerjü auf, »das ist meine eigene Sache.«

»So,« machte Johann Peter Gerechtsam mit gelassener Ruhe, »Sie scheinen es allerdings zum Äußersten treiben zu wollen, möchte aber nicht unterlassen, Sie mit den Vorschriften des Erbrechts in Etwa befreundet zu machen.«

»Ich bitte.«

»Der überlebende Ehegatte des Erblassers,« zitierte der Notar unter scharfer Betonung jedes einzelnen Wortes, »ist neben Verwandten der ersten Ordnung zu einem Vierteile, neben Verwandten der zweiten Ordnung jedoch oder neben Großeltern zur Hälfte der Hinterlassenschaft als gesetzlicher Erbe berufen.«

»Ist mir bekannt,« bestätigte Barthes.

»Außerdem,« fuhr der Sprecher fort, »gebührt der hinterlassenen Ehefrau im letzteren Falle noch der gesetzliche Voraus.«

»Auch bekannt – aber das schert mich den Teufel! – Enterbt soll sie werden.«

»Soll sie,« nickte van Bommel.

»Das ist mein Wille auf Leben und Sterben,« ergänzte der Donnerjü, »nur der Schulmeister Fennand van Bommel sei angehalten, ihr als Universalerbe jährlich siebenhundert Taler Mundgeld zu geben – heiratet sie wieder, wird auch dieses gestrichen,«

»So ist es,« setzte der Alte einen gründlichen Strich unter die Auslassungen seines Neffen.

»Kein Punkt soll dran fehlen,« sprach der Donnerjü mit erregter Stimme weiter. »So wird's gemacht und gehalten – nicht anders. Prosit, Ihr Bauern!« dabei nahm er ein Aktenstück, das vor ihm lag, in die Höhe und ließ es klatschend zurückfallen. »Nichts soll sie haben.«

»Ruhe, Ruhe!« meinte der Notar, indem er beschwichtigend die Hand ausstreckte.

»Ja, Barthes – ruhig mit die koll'rigen Pferde,« sagte van Bommel, »Du bist ja in Deinem Recht, und das kann niemand Dir nehmen.«

»Herr Notarius, nu aber vorwärts,« knurrte der Fingerhutshöfer, »und wenn ihr selbst alle Hammel von Gesetzgebern beispringen würden . . .«

»Herr van Laak, ich muß mir ernstlich verbitten . . .«

»Nicht so viel als das Schwarze vom Nagel bekommt sie.«

Der Notar hielt an sich.

»Herr van Laak, ich frage noch einmal: ist das Ihr letzter Wille, den Sie hierdurch bekunden?«

»Mein letzter.«

»Gut, dann bin ich gezwungen, wenn auch schweren Herzens, das Protokoll zu vollziehen,« sagte der Notar und ließ die Zeugen erscheinen, die ihm nach Namen, Stand und Wohnung bekannt waren.

»Tag zusammen!« mit dieser Begrüßung traten der Schreinermeister Pollmann und Jan ten Hompel ins Zimmer.

»Setzt Euch,« meinte der Notar, ließ sich selber nieder, schüttelte etliche Male den Kopf und begann dann zu schreiben.

»Aber ich bitte, alles so in die Reihe bringen zu wollen, wie das mein Herr Neffe von Todes wegen verlangt hat,« glaubte Krispinus noch ermahnen zu dürfen, damit auch die kleinste Bestimmung nicht vergessen würde und ihre Richtigkeit habe.

»Herr van Bommel,« war die ruhige Antwort, »ich ersuche Sie dringend, mich nicht zu stören, auf die Gefahr hin, Sie anderen Falles bitten zu müssen, das weitere hierneben abzuwarten.«

»Na, denn . . .« sagte patzig der Alte, schlug die Beine übereinander und muffelte zum Fenster hinaus, wo die Spatzen in den Pyramidenbäumchen lärmten, und weiterhin eine ehrwürdige Windmühle ihre Flügel bewegte.

Es war still in der Amtsstube geworden; nur das feine Gangwerk der Feder ließ sich vernehmen, die widerwillig ihre Arbeit verrichtete, als Barthes plötzlich unruhig wurde, sich verlegen räusperte und in die Worte ausbrach: »Gotts den Donner! – da ist mir ja eine Legatsbestimmung reineweg durch die Wicken gegangen!«

»Und das wäre?«

»Da ist ja noch die Stina Pannkuk vom Vorwerk!« ergänzte der Donnerjü die Liste der aufzunehmenden Legatare.

»Zackerzucker, Herr Neffe . . .

»Und was wäre mit der?« fragte Johann Peter Gerechtsam.

»Bedacht soll sie werden – sie und ihr Junge.«

»Womit?«

»Mit dem bei Wisselward gelegenen Vorwerk, inklusive Stallung, Remisen und dem hierzu gehörigen Grund und Boden.«

»Ist das Kind unehelicher Abkunft?«

»Allerdings.«

»Und wer ist der Vater?«

»Ist das nötig zu wissen?«

»Es könnte nicht schaden.«

»Gut denn – ich, Herr Notarius.«

»Aber Freundchen! – Freundchen!« rief Krispinus dazwischen und war erregt in die Höhe gesprungen, »das gibt ein Skandälchen!«

»Meine Sache,« hielt ihm Barthes entgegen, »bleibt so, und ich bitte Sie, Herr Notarius, das soeben Gesagte Wort für Wort protokollieren zu wollen.«

Der Notar schrieb weiter. Der Donnerjü stierte auf den Boden. Er ärgerte sich über sich selbst und über die Art, wie er seine Liegenschaften an den Mann gebracht hatte. Sauer erworben und sauer bewirtschaftet! – und nach seinem Tode sollte der prächtige Besitz, auf den er stolz gewesen, den er mit zäher Willenskraft und mit zähen Fäusten gehalten, dem er sein Vergnügen, seine Tage und sein Leben geopfert, in alle Winde und unter Menschen, die ihn eigentlich blutwenig angingen, verstreut sein! – Himmel Sackerment noch einmal! – und hatte er überhaupt die Garantie, daß diese Kerle ihm seine Gutheit noch mal dankbarlich anrechnen würden?! – I, wo! – den ganzen liegenden und mobilen Besitz an Kinder und Kindeskinder verteilen, über den dämlichen Geber noch lachen – das würden die Kerle! – und er läge im Grabe und müßte noch hören, wie die vormals von ihm sauber bewirtschaftete Scholle knirschte und klagte.

»Dummkopf!« murrte er zwischen den Zähnen.

Krispinus van Bommel streifte ihn mit lauernden Blicken – und da erinnerte sich der Testierer wieder an das, was ihm alles begegnet, daß er kinderlos sei, und daß er seiner Frau noch einen Tort antun müßte.

»Bleibt so,« sagte er mit verhaltenem Ingrimm und verfiel wieder in ein bedrohliches Schweigen und Brüten.

Aber die Feder hastete weiter über den glatten Stempelbogen, und nebenan saß einer, dem wurde die Welt zu eng, der zählte die Minuten und spitzte die Ohren, gerierte sich wie ein verliebtes Kanin und suchte nach einem erlösenden Ausgleich, bis er schließlich einen solchen gefunden, die ihm zur Seite stehenden Sandstreufässer ergriff und die ganze Ladung dem armen Fritze Sötentitt über den Kopf stülpte.

»Menschenskind!« jubelte er und umarmte hierauf den verdutzten und von seinem Drehstuhl gesprungenen Sandmann, »hast Du schon jemals in Deinem Leben Champagner getrunken?«

»Nein,« stammelte Sötentitt, der in verzweifelter Überlegung stand, in welches Gefach seiner Herzenskammer dieser erneute Freundschaftsbeweis seines Gönners gehörte und rubriziert werden mußte.

»Dann sollst Du's,« bestätigte Knippscheer und streckte die Hand aus, »auf meiner Hochzeit sollst Du schwimmen in diesem Zauberwasser von Frankreich, und ein Küßchen sollst Du erhalten von dem Weib aller Weiber!«

Sötentitt entsetzte sich.

»Sophie, Sophie . . .!« deklamierte der glückliche Spender, dann ging er hin und verbarg sein Gesicht in die Aktenfaszikel des Repositoriums, um dort seine Rührung herunterzuschlucken.

Drinnen wurde eine klare Stimme lebendig. Nach halbstündiger Arbeit hatte der Notar das Schriftstück vollendet, worauf er, unter scharfer Betonung eines jeden Wortes und unter den erstaunten Gesichtern der zur Instrumentierung des Aktes hinzugezogenen Männer, das Niedergelegte zur Vorlesung brachte,

»Stimmt das alles?« fragte er schließlich.

Mit einem gewissen Bedauern glitten dabei seine sanften Blicke über das robuste Gesicht des Testierers.

Der Donnerjü nickte.

»Dann ersuche ich Sie, Herr van Laak, und die beiden Zeugen, das Protokoll unterschreiben zu wollen.«

Der Donnerjü hatte die Feder ergriffen.

»So geschehen in der Amtsstube des fungierenden Notars und am Tage, wie eingangs gemeldet,« lautete die Schlußformel.

Er setzte seinen Namen darunter, desgleichen ten Hompel und Pollmann.

»Adjüs, Herr Notar.« Die Konferenz war zu Ende.

Im Nebenzimmer hatte Sulpiz Knippscheer in seiner Herzenspläsierlichkeit mit dem Daumen der rechten Hand ein Kreuz in der Hosentasche geschlagen.

»Actum ut supra!« sagte er dann mit tiefer Verbeugung, als der Donnerjü, Krispinus und die beiden Zeugen vorbeidefilierten.

Johann Peter Gerechtsam war indessen in seinem Privatkabinett ans Fenster getreten und sah in den Garten. Der letzte Herbstschmuck war von den schlanken Pyramidenbäumchen gefallen. Nichts Lebendiges mehr zeigte sich auf den gefrorenen Schollen. Die bunten Astern, die noch vor wenigen Tagen in Flor gestanden, hatten die Köpfe gesenkt und waren vom Frost über die starren Rabatten geworfen. Nun ruhten sie aus von ihrem kurzen Blühen auf Erden. Zarter Flutterschnee legte sich barmherzig über die abgestorbenen Blumen. Keine verspätete Vogelstimme ließ sich vernehmen; nur die Spatzen, die Bettelvögte, lärmten wie vorhin.

»Winterszeit!« sagte Johann Peter Gerechtsam.

Er mußte an den Donnerjü denken.

»Alles kalt, starr, tot,« dachte er weiter, »nichts Erfreuliches, Herzerquickendes mehr unter dem Himmel, und so mag es auch in der Brust des Mannes aussehn, der soeben testiert hat. Gott gebe, daß bei ihm noch nicht alle Keime gestorben, daß sie aufwachen mögen, wenn der Buchfink wiederum schlägt, und die ersten Veilchen im Holz stehn.«

Dann ging er hin, nahm das Testament und legte es zu den übrigen Akten. –

Schon um die Mittagszeit spazierte Herr Sulpiz Knippscheer mit Jöffer Boß im Arm offenkundig und vor erstaunten Gesichtern über die Grabenstraße. Der erste Brautbesuch galt der hochverehrten Frau Mömmes. Sophie hatte ihr Bestes angelegt. Ihr Gesicht strahlte; nun hatte sie doch endlich den langersehnten Himmel auf dieser Erde gefunden. Und die dicke Lisbeth sah sie kommen, legte ihre Hände ergeben und zukunftsfreudig zusammen – und knickste und knickste.

 


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