Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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III Tütütütü . . . . . .!

Das Haus, wo sich Gert Liffers eingetan hatte, war der Sophie Boß oder, wie sie die Leute allgemein nannten, der ›Laken-Sophie‹ zu eigen. Nach dem gottseligen Ableben ihrer frömmelnden Eltern, die jedes Kastemännchen aus Sparsamkeitsrücksichten dreimal in den Fingern herumgedreht hatten, war es ihr, als der einzigen Tochter, mit dem gesamten Mobiliar zugefallen. Hierzu kam noch ein kleines, auf der städtischen Sparkasse deponiertes Kapital von nahezu achthundert Talern. Da ferner Sophie von jeher ängstlich darauf gehalten hatte, die beiden Zimmer der oberen Etage gut an den Mann zu bringen, selber aber entweder zu Hause oder auf dem Lande herumschneiderte und gewissenhaft dafür sorgte, alles und jedes, was sie erübrigen konnte, einem dickwollenen Strumpfe einzuverleiben, so hatte sie das angenehme Bewußtsein, sorgenfrei und hoffnungsfreudig bis in die späteste Zukunft blicken zu dürfen. Mit den Jahren hatte der Strumpf ein stattliches Ansehen gewonnen, fühlte sich straff und rund an, als wäre die maschige Wolle über eine pompöse Wade gezogen – aber beileibe nicht über ihre eigene Wade, denn ihr Untergestell war von einer beneidenswerten Fülle soweit entfernt, wie der Gesang einer Dohle von dem eines Kanarienrollers. Alert, schnellfüßig, beweglich, kurz ein vives Frauenzimmer, das war sie, aber Waden hatte die Laken-Sophie leider Gottes in ihrem erbaulichen Leben niemals besessen. –

Eine blitzblau angestrichene Tür schloß den niedrigen Flur ab; die schmalen Fensterruten, hinter denen blendend weiße Mullgardinen hingen, waren von der nämlichen Farbe wie die Tür und die aus Latten gezimmerte Bank, die von der Besitzerin des kleinen Hauses so günstig placiert war, daß man von hier aus die breite und lange Grabenstraße genau zu übersehen vermochte. Im Fenster, rechts neben dem Eingang, paradierte jahraus jahrein ein allmächtiger Kugelkaktus. Saftig, strotzend, über und über mit Warzen und sonstigen Auswüchsen bedeckt, lag er so selbstgefällig auf seiner irdenen Scherbe wie so 'n richtiger Protz mit Plüschpantoffeln und Schlafrock im Lehnstuhl – ein jovialer Protz, der an den lieben, langen Wintertagen nichts weiter zu tun hatte, als durch die Scheiben zu kucken, 'ne Pfeife zu rauchen und mit der goldenen Berlocke auf seinem Bäuchlein zu spielen. Kam aber der Sommer ins Land, wurden die Tage schwüler und heißer, begannen die unverschämten Schmeißfliegen empfindlicher zu stechen, dann trat an Stelle des samtnen Schlafrocks ein solcher von grünem Lasting, der über und über mit ziegelroten Blumen besteckt war. Und die Kelche wurden größer und größer, dehnten sich und streckten sich und schienen auf der spinatgrünen Kugel wie feurige Räder zu liegen. Je besser es die Sonne meinte, um so prächtiger begannen die Blumenkelche zu leuchten – und dann kamen die größeren Kinder aus der Nachbarschaft, hoben sich auf den Zehen in ihren blankgescheuerten Holzschuhen und meinten: »Hendrick, no kiek ens, Wilmke, no kiek ens! – de heelmoije Kaktus van Jöffer Boß het fürige Placke . . .« und die Laken-Sophie begab sich alsdann unter die neugierigen Kinder, erzählte ihnen Wunderdinge von dem merkwürdigen Verhalten ihres eigentümlichen Pfleglings, der wohl an hundert Stunden hinter Amerika zu Hause wäre, nie Wasser bedürfe und so rund und groß werden könnte wie das mannshohe Bierfaß, dessen Inhalt der dicke Brauer Kobes van de Kamp alljährlich am ersten Kirmestage verzapfte. Sperrangelweit rissen alsdann die Kinder Augen und Mund auf, wunderten sich aber noch mehr über das pompöse Aussehn der Jöffer Boß, die so vornehm und feierlich tat, als wäre sie eine verwunschene Märchen-Prinzessin gewesen; denn sie war ganz in Schwarz gekleidet, hatte ihre strohblassen Haare mit Quittensaft an die Schläfen geklebt und trug auf ihren Schultern ein faltiges Pelerinchen, das aus wenigstens fünf geschachtelten Kragen zusammengestellt war. Dazu funkelte auf ihrem kaum nennenswerten Busen das emaillierte Goldkreuz, das an Größe dem des hochwürdigen Weihbischofs von Münster nicht um ein Titelchen nachgab; und der Kaktus blühte immer schöner und schöner – und die Laken-Sophie erzählte immer interessanter und seltsamer, gestikulierte dabei mit ihren langen Armen immer grotesker auf die gaffenden Kinder ein, reckte sich auf, bis sie schließlich so groß wurde, daß sie fast in das Zimmer der niedrigen ersten Etage zu sehen vermochte. Und der schwefelgelbe Kanarienvogel, der neben dem blühenden Kaktus schon seit vielen Jahren ein beschauliches Dasein geführt hatte, bekam's mit der Sehnsucht, gluckste und begann leise zu schlagen, bis er allmählich eine sanfte Wasserflötenrolle riskierte, die so lieblich klang, daß die kleine Gesellschaft in die Händchen klatschte, mit den Holzschuhen klapperte und glücklich davonlief. Der Kugelkaktus jedoch brachte eine neue Blume hervor; da ging die Laken-Sophie über die Schwelle und machte die blitzblaue Tür zu. –

Auf der anderen Seite der Straße, dem bescheidenen Häuschen schräg gegenüber, standen sieben stattliche Linden. In ihrem Schatten lag ein gefälliges Anwesen. Grüne Jalousien hoben sich freundlich von der weißen Verkalkung. Seitwärts der Tür befand sich ein schwarzes Brett, auf dem zu lesen war, daß hier Johann Peter Gerechtsam als öffentlicher Notarius fungierte. Nicht weit vom Hause des Notars machte sich ein altertümlicher Giebel bemerkbar; er mochte dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts seinen Ursprung verdanken. Ganz aus roten Ziegeln aufgeführt, verkragt und mit derben Fialen ausgestattet, schickte er fünf sich immer mehr verjüngende Etagen nach oben, die hinsichtlich des Fensterschmuckes alle die gleiche Ausstattung aufwiesen. Die gehäkelten Vorsetzer, die Schirtinggardinen mit dem aufgedruckten Zeichen ›J.H.S.‹, welches ›Jesus, Heiland, Seligmacher‹ bedeutete, die Kollektion Nachtviolen hinter den Scheiben, in deren Mitte eine stattliche Meerzwiebel prangte – alle diese Dinge bewiesen zur Genüge, daß durch die Korridore und Stuben des hochgegiebelten Hauses ein stiller Geist schlurfte, der die hier wohnenden Menschen an derselben Strippe bewegte. Arme, gebrechliche Leute, aber auch solche, die auf ihrem Lebenswege einen kleinen Zehrpfennig beiseite getan hatten und sich in der Lage befanden, einen geringen Zuschuß geben zu können, hatten hier auf der Grabenstraße und von Gemeinderats wegen ein angenehmes, sorgenfreies Unterkommen gefunden. Obgleich kein stichhaltiger Grund vorlag, den merkwürdigen Ziegelbau mit dem Namen ›Armenhof‹ zu belegen, so war dennoch diese Bezeichnung schon seit Menschengedenken in der ganzen Bevölkerung gang und gebe gewesen. Ebenerdig, und zwar rechts vom Eingang aus, lagen zwei große Räume, die die ehrsame und schon ziemlich betagte Lisbeth Mömmes bewohnte, eine fünfundsechzigjährige, umfangreiche Dame, die, außer ihrer segensreichen Tätigkeit als Vorsteherin einer Kinderbewahrschule, in ihrem Nebenamt mit der Oberaufsicht des ganzen Hauses betraut war. Zur Winterzeit und an sonst unwirtlichen Tagen hielt sie die ihr anvertrauten Hühnchen und Hähnchen in der vorderen Stube zusammen; begann's aber draußen sommerlich und so recht behaglich zu werden, klebten die Schwalben ihre kunstvollen Nester an das alte Ziegelgemäuer des Armenhofes, dann zog die ganze, kleine Gesellschaft mit Stühlchen und Bänkchen auf die Straße hinaus, spielte im Schatten Ringel-Reihe-Rosenkranz oder machte sich mit Fingerhüten in etlichen Sandhaufen zu schaffen, formte Käschen und Torten und trieb sonstige Kurzweil, während Lisbeth Mömmes, mit einer schwarzen Hornbrille angetan, im Binsensessel neben der Haustür thronte, an einem nie fertig werdenden Wollstrumpf hantierte, zeitweilig über die runden Augengläser fortblinzelte und das kleine Kroppzeug bewachte. Hierbei fand sie noch Zeit und Muße genug, die vielfachen Obliegenheiten ihres Nebenamtes tatkräftig in die Erscheinung treten zu lassen. Eine fast holländische Sauberkeit machte sich bis in die entlegensten Winkel bemerkbar; die Stubendielen gaben sich proper wie gescheuerte Tischplatten, und der heilige Joseph, dessen Gipsbild aus einer Nische des unteren Korridors freundlich auf die Eintretenden herabsah, konnte sich auch nicht im geringsten über Vernachlässigung in betreff der ihm zugedachten Ehrungen beklagen. Auf seinem Postament flämmerte stets die ewige Lampe; zeitgemäße Blumen wurden allwöchentlich in Gestalt eines schmucken Kränzleins um das Bildnis gewunden, und nur wenn der Garten nichts mehr hergeben wollte und konnte, traten an Stelle der frischen Blüten weiße Papierrosen, die so eigentümlich rauschten und knisterten, wenn ein Lufthauch sich auftat und hüstelnd die weißgekalkten Gänge durchirrte. Alles und jedes in diesem Hause gab sich wie an einem seidenen Schnürchen. Die Pünktlichkeit selber ging in Gestalt einer würdigen Matrone, mit Kleisterlöckchen und einer blendendweißen Knippmütze ausstaffiert, treppauf und treppab, huschte lautlos über die weiten Flure, öffnete kaum wahrnehmbar die einzelnen Zimmer, sah hinein, ob alles in Ordnung, und zog die Gewichtsteine an – und fing bei Lisbeth Mömmes die prächtige Kuckucksuhr an zu rufen, so konnte man gewiß sein, daß fast gleichzeitig die sämtlichen Uhren im Armenhof, und zwar bis auf die Sekunde, in Tätigkeit traten. Allerdings: die eine meckerte, die zweite krähte, eine andere machte sich durch ihre sonore Stimme bemerkbar, während die des tauben Christ van de Lucht, der ganz oben in der dritten Etage hauste, so heiser sich anließ, daß Lisbeth stets darüber nachsimulierte, ob es nicht angezeigt wäre, der Ärmsten eine Tasse mit heißem Kamillentee hinter die Binde zu gießen. Aber wie dem auch sein mochte, die Hauptsache ließ sich nicht fortdisputieren: alle Uhren, die ihrem Bereich unterstanden, schlugen präzise zusammen, ein Zeichen, daß ein und dieselbe Pünktlichkeit und Ordnungsliebe alle Insassen des Armenhofes beseelte – und so auch heute. – Vier Uhr!

Prompt begannen alle Uhren zu schlagen, und als der majestätische Kuckuck da unten seinen Schnabel zuklappte und zitternd die Holzflügel anlegte, stieß Lisbeth Mömmes ein scharfes »Tütütütü!« aus.

Es war ihr alltägliches Locken, und die ihr unterstellten Kinder verstanden's. Fast gleichzeitig ergriff ein jedes von ihnen sein Holzstühlchen, seinen Fingerhut oder sonstiges Spielzeug und machte sich fertig, nach gemeinsam eingenommener Stippmilch und unter Führung der alten, gluckenden Henne, die sich inzwischen mit Rute, Hornbrille und Strickstrumpf bewaffnet hatte, auf die Straße zu pilgern. Lisbeth befand sich an der Spitze der kleinen Gesellschaft, und unter stetigem ›Tütütütü‹, das nur zeitweilig durch ein verwarnendes Schnalzen unterbrochen wurde, ging es nach draußen. Hier, unter Gottes freiem Himmel, auf einer fast menschenleeren Straße, machte sich das putzige Völkchen alsbald zwischen den aufgeschütteten Sandhaufen zu schaffen, faßte sich zuerst bei den schmutzigen Händchen und begann singend um die dicke Lisbeth zu tanzen, die sich inzwischen breitspurig auf ihren Binsensessel postiert hatte.

»Schön so,« sagte die Alte, nickte äußerst gnädig und wohlwollend mit ihrer grellfarbigen Bänderfladuse und begann eifrig zu stricken.

»Hopla, Marjännske!« sangen die Kinder; dann fielen sie in die Sandhaufen ein, und mohnblaue Tauben, mit buntem Schiller um den Hals, kamen vom nahegelegenen Rathaus geflogen, rucksten auf den Pflastersteinen herum und blähten ihre Kröpfchen – und die ehrwürdige Dame Lisbeth Mömmes saß mit ihrem runden Bäuchlein, dem hängenden Busen und der blaubedruckten Kattunschürze so steif und regungslos zwischen den Binsen, als wäre sie eine indische Pagode geworden. Und die Stricknadeln klapperten immer leiser und leiser, und über das Gesicht der resoluten Frau lief ein seliges Träumen. Kein Zweifel – sie konnte aber auch immer so angenehm duseln und träumen, ein Zustand, in welchem besonders der schöne Joseph von Ägypten ihre ganze Seele bewegte. Sie hatte überhaupt allwöchentlich zwei Tage zu verzeichnen, die sie die ›Glücklichen‹ nannte. Diese zerfielen ihrerseits wieder in den ›seligen Tag‹ und den ›ägyptischen Tag‹, eine Bezeichnung, die abhängig war von der jeweiligen Stimmung. Beim ›seligen Tag‹ grübelte sie sich in ihre Sterbestunde hinein, brachte ihren Nachlaß in Ordnung, ließ den Herrn Pastor kommen, empfing würdig die letzte Wegzehrung und schlummerte gottselig in ein besseres Jenseits hinüber, nachdem sie zuvor ein Begräbnis bestellt hatte, das sie unbedingt mit dem Tarifsatz ›prima Klasse‹ signiert haben wollte. Hier lag bei ihr jedenfalls der Hase im Pfeffer. Drei Geistliche mußten dabei sein, die Herren von der Orgel durften nicht fehlen, und der Herr Webermeister Janssen, der in seinen Mußestunden das Kornet à piston blies und auch an Kirmessen aufspielte, mußte mit seiner ganzen Kapelle den Trauermarsch ›Nu trinkt sie keinen Rotspon mehr‹ ihrem Sarge vorausblasen. Geld spielte hierbei keinerlei Rolle. Seit Jahren hatte sie für diese glückliche Stunde gespart, und sie freute sich jetzt schon auf den weihevollen Moment, auf die erstaunten Gesichter ihrer lieben Mitbürgerinnen, wenn sie so ›prima‹ auf den Kirchhof hinausfahren konnte. Während des ›ägyptischen Tages‹ hingegen trat sie in eine Art von Seelenverhältnis mit dem ägyptischen Joseph – und dieser Moment, ebenso groß und erhaben wie die ›selige Stunde‹, war für sie jetzt gekommen.

Da saß sie und strickte – und das pharaonische Land wurde vor ihren geistigen Blicken lebendig. Sie hörte die gesprenkelten Schafe blöken, sah die hochbeinigen Kamele durchs Niltal schlendern, die hellen Schellen klingelten auf, und die bunten Fransen der Satteldecken wehten im Wind – und sie selber: mit Joseph, dem Sohne der schönen Rahel, ging sie am seichten Ufer spazieren, und sie führten sich Hand in Hand und sahen, wie große, himmelblaue Kelche auf dem ruhigen Nilwasser schwammen, das ihre Füße benetzte. Und Lisbeth Mömmes war glücklich, hätte es wenigstens sein können, wenn nicht das stolze, üppige Weib gewesen wäre, das sich selbstgefällig in den vollen Hüften wiegte und unter säuselnden Palmenkronen einherkam. Und das war die Potiphar, die Frau des ägyptischen Kämmerers, der den sanften Jüngling von den Israeliten gekauft hatte. Da geschah das Unglück, denn das nacktbusige Weib erwischte Joseph, den Sohn der schönen Rahel, am Ärmel und versuchte alsdann, den ganzen Mantel zu fassen. Und die Potiphar hatte Augen wie zwei glühende Kohlen . . . und das war für die brave Mömmes doch äußerst genierlich.

»Pfui!« sagte Lisbeth, und mit diesem ›Pfui‹ wurde sie wieder auf realen Boden getragen. Die schöne Fata Morgana löste sich auf, die schlanken Palmbäume, deren sanftes Rauschen wie Harfenklingen getönt hatte, schrumpften zu Kappesköpfen zusammen, die im Vorgärtchen des Armenhofes die schmalen Rabatten bedeckten, an Stelle der ägyptischen stand eine simple niederrheinische Sonne am Himmel, und wo bislang der heilige Nilstrom geflutet, gurgelte ein trübes Wässerchen durch die Straßenrinne vorüber.

»Nichts mehr!« meditierte die würdige Dame und begann wieder in ihrer monotonen Weise zu stricken.

»Nichts mehr!« – – –

Seit dem Begegnen des Deichgräfs mit dem armseligen Kiwi waren etliche Tage vergangen. Die Linden vor dem Hause des Notars hatten ihren besten Blütenschmuck angelegt. Die Bäume sahen aus, als seien dichte Allongeperücken über ihre grünen Köpfe gezogen, rührten sich kaum und verstäubten nur von Zeit zu Zeit ihren gelblichen Puder. Über ihren Kronen lag der helle Mittag gebreitet, während tief unten eine stetige Dämmerung herrschte. In den mattgelben Blütenbüscheln war ein ewiges Summen und Näseln. Dort waren die Bienen beschäftigt. Schwerbeladen summten sie von hier in die benachbarten Gärten. Aber eine vertat sich, flog quer über die Straße und taumelte in die Stube des gegenüberliegenden Häuschens, wo Sophie Boß vor ihrem Nähtischchen saß und damit beschäftigt war, ein Stück Leinwand zu säumen.

Mit einem leisen Aufschrei wedelte sie die Honigträgerin wieder ins Freie, seufzte so recht aus tiefster Brust heraus und begann weiter zu sticheln.

Behaglich strömte der warme Lindenblütenduft von draußen ins Zimmer. Der Kaktus blühte schöner als gestern. Auch die letzte Knospe war aufgesprungen und hatte sich zu einer prächtigen Blume entfaltet. Ein schräger Lichtbalken fiel in eine verlorene Ecke der verschwiegenen Kammer. Glitzernde Sonnenstäubchen tanzten dort auf und nieder. Leise zwitscherte und dichtete der Kanarienvogel seine einfache Weise. – Allein die Laken-Sophie hatte nicht acht darauf, ihre Gedanken waren anderswo. Den rhythmischen Bewegungen der Nadel entsprechend, ließ sie einen Seufzer über den anderen fahren.

»Jes, Marja, Joseph!« kam es von ihren blutleeren Lippen, »noch immer nicht oben! – Er ist gewiß auf dem Kirchhof. – Heut' ist der Sterbetag seiner seligen Mutter. – Wenn er doch käme – wenn er doch wollte! – Fünfhundert Taler im Strumpf, und das übrige auf der städtischen Kasse! – Er könnte den Himmel haben auf Erden. – Und dann die Betten! – Keine Gänseposen – alles nur vornehm. – Er könnte . . .! – Gert Liffers . . .

Sophie Boß erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Wenn sie jemand gehört hätte!

»Jes, Marja, Joseph! – wenn jemand da draußen . . .«

Ihr schweres Ohrgehänge kam in eine nervöse Bewegung. Langsam drehte sie den Kopf über die Schulter und schielte zur Seite. Der Kugelkaktus stand noch immer auf der nämlichen Stelle; der Kanarienvogel dichtete weiter und vergnügte sich damit, eine getragene Rolle zu pfeifen. Nein – nichts Verdächtiges machte sich in der kleinen Stube bemerkbar; aber da draußen . . .

Die Laken-Sophie erhob sich. Auf weichen Pantoffeln, die sie sich selber aus verschiedenfarbigen Selfkantstreifen zusammengebastelt, ging sie lautlos ans Fenster und sah auf die Straße.

»Gott sei gedankt!« sagte die Jungfer.

Keine menschliche Seele war an ihrem Hause vorübergegangen. Alles war ruhig; nur da hinten – über die Straße fort – wer saß da?! – Richtig: die Lisbeth. – Allein, die konnte sie auch nicht weiter genieren. Im Gegenteil – es wäre vielleicht gar nicht so ohne gewesen . . .

Mit dem Bewußtsein, sich einer völligen Sicherheit erfreuen zu dürfen, dachte sie nachgerade daran, vom Fenster wieder an den Nähtisch zu schlurfen, als von drüben her eine wohlbekannte Stimme ertönte: »Mamsell Sophie! – Mamsell Sophie!«

»As't üh belieft, Madam Mömmes?!« rief die Laken-Sophie zurück und streckte den Hals aus.

Es war so eine althergebrachte Gepflogenheit zwischen den beiden geworden, sich wechselseitig ›Mamsell‹ und ›Madam‹ zu titulieren, denn was in den Honoratiorenkreisen der kleinen Stadt zur Tagesordnung gehörte, konnte auch füglich von ihnen beansprucht werden, und wenn auch im Volksmunde diese Bezeichnung im allgemeinen nicht aufkommen wollte – die beiden ließen sich in keinerlei Weise beirren, hielten daran mit zäher Verbissenheit fest und suchten, wenigstens für ihre Person, die obigen Titulaturen über Wasser zu halten.

»Mamsell Sophie! – Mamsell Sophie!« klang es noch einmal.

»Was soll's denn?!«

»Hat Sie wohl Zeit, so' n bischen herüberzukommen?!«

»Gern, Madam Mömmes! – Will nur noch das Bettuch absäumen – dann komm' ich!«

Die Laken-Sophie war vom Fenster verschwunden.

»Schön,« nickte Mutter Lisbeth, setzte ihre stämmigen Beine mit den graublauen Strümpfen und den Glasperlpantoffeln breit vor sich hin und begann wieder über die schwarze Brille zu äugeln. Die freche Potiphar und der sanfte Joseph von Ägypten waren längst vergessen. Sie beobachtete jetzt die kleine Gemeinde, die im Sande herumspielte, allerhand kurzweiliges Zeug trieb und ab und zu durcheinander purzelte, als gelte es, die verschiedenen Sandhaufen nach allen Regeln der Kriegskunst zu stürmen.

Es war ein krauses Kleinkindergemüse, was da unter der energischen Zuchtrute der dicken Lisbeth webte und lebte: Flachsköpfe, Blondköpfe, Hühnchen und Hähnchen, im Alter von zwei bis fünf Jahren, Krummbeinchen und Geradbeinchen, Bürschchen, die noch im Kleidchen herumtrippelten und solche, denen bereits das Hemd wie 'n aufgedrehtes Schweineschwänzchen aus dem Hosenboden hervorsah – kurz, eine ganze Kollektion von knirpsigen Menschlein reifte hier zufrieden und ahnungslos der späteren Leidensgeschichte einer strengen Gemeindeschule entgegen. Und so klein sie noch waren, schon jetzt machten sich bei ihnen die verschiedenen Temperamente in auffälliger Weise bemerkbar.

»Kiekt ens,« schrie es bunt durcheinander, »Nöllecke Kunders . . .!« und wenigstens fünfzehn Patschhändchen deuteten auf ein brombeeräugiges Bürschchen, das still und zufrieden neben Mutter Lisbeth auf einem Stühlchen hockte und sich eifrigst bemühte, Schuh und Strumpf von seinem linken Beinchen zu ziehen. Phlegmatisch, ohne sich im geringsten um die gaffenden Mäulchen seiner Mitkomparenten zu kümmern, hob er alsdann das Entblößte nach oben und schien die dicke Zehe seines rosigen Füßchens als ein passendes Pfeifchen estimieren zu wollen.

Lisbeth Mömmes warf ihm einen strafenden Blick zu.

»Nöllecke – pfui doch!«

Allein Nöllecke Kunders ließ sich auch nicht im geringsten beirren. Mit philosophischem Gleichmut, einem Weltweisen nicht unähnlich, der die Quadratur des Zirkels zu ergründen hoffte, suchte er unentwegt dem gesteckten Ziele näher zu kommen. Endlich gelang's ihm. Mit einem behaglichen Schmatzton begann er alsbald an dem rosigen Pfeifchen zu rauchen.

»Pfui doch!«

Die Nemesis folgte mit glänzender Promptheit. Die dicke Lisbeth hatte ihm ›Eine‹ heruntergehauen.

»Oh!« machte Nöllecke und schlug seine Brombeeraugen zu Boden.

»Een, twee, drie!« zählte sein Nachbar zur Linken, wobei er jedesmal ein Löchelchen mit dem Zeigefinger in den feuchten Sand hineinstieß. Barthje van Bebber kniete vor dem geistreichen Machwerk. Melancholisch, betrübt wie der Schwanz eines sentimentalen Hammels, bammelte dabei sein hinteres Fähnchen aus der fadenscheinigen Hose, aus der die nackten Beinchen wie zwei feste Würste hervorsahen. Wehmütig, fast klagend kam das ›Een, twee, drie‹ von den Lippen herunter; jedes Wort schien Pech an den Schuhen zu haben. Nachdem dreimal sieben regelrecht angeordnete Löcher untereinander standen, setzte sich Barthje van Bebber auf sein trauriges Fähnchen, legte die schmutzigen Finger zusammen und sah den Spatzen zu, die eifrig an einem Roßäpfelhäufchen herumpickten.

Ne – da war Marieke Bärendonk doch ein anderes Persönchen! Das hatte Leben von den kregelen Zöpfchen, die struppig in dem weißen Näckchen standen, bis zu den zierlichen Holzpantoffeln herunter. Geschäftig setzte sie Törtchen neben Törtchen. Unter Zuhilfenahme eines Fingerhutes mit jedesmaliger Spuckbeilage brachte sie diese niedlichen Dinger zustande. Und wenn sie so ein appetitliches Häufchen fertiggestellt hatte, klatschte sie in die Händchen und sang dann:

»Jänsken, want ge freijen willt,
Dann freit ok es met mi;
Ek hef 'nen blanken Dahler,
Denn gef ek gärne Di!«

Und Nöllecke Kunders sang mit, und Barthje van Bebber sang auch mit, bis schließlich vierzehn muntere Kinderstimmen Marieke Bärendonks Kuchenbäckerei akkompagnierten. Und Mutter Lisbeth rückte ihre schwarze Brille nach oben, was so viel bedeutete als: »Man weiter so, Kinder – die Sache is schön so!« und die Sache ging weiter, bis endlich fünfundzwanzig wohlgeratene Törtchen in Reih und Glied standen, und dementsprechend der allgemeine Singsang verstummte.

Nur einer von der kleinen Gesellschaft hatte nicht mitgesungen. Patzig, wie ein selbstherrlicher Bauer auf seinem eigenen Mist, hatte er währenddessen auf dem größten Sandhaufen mit gespreizten Beinchen gethront und standhaft jede Note verweigert. Minutenlang war er dabei mit gierigen Augen der Fabrikation der Kuchen gefolgt. Jetzt aber war's mit seiner Selbstbeherrschung vorüber. Mit einer Stimme, die man dem Dreikäsehohen kaum zutrauen sollte, begann er kategorisch seine Wünsche zu äußern.

»Er auch haben will Törtchen! – Er auch haben will Törtchen!«

»Bäh!« machte Marieke und brachte gleichzeitig ihre niedliche Zunge zum Vorschein.

Allein sie hatte nicht mit der Kampfbereitschaft dieses kleinen Tyrannen, mit der prompten Antwort des Pinkelnikola gerechnet. Eine durch zwei Fäustchen regelrecht geworfene Sandsalve ließ das rote, bewegliche Läppchen so schnell wie möglich verschwinden.

»Er auch haben will Törtchen!« schrie er von neuem und begann ungeduldig mit seinen festen Beinchen zu strampeln.

Ja, der Pinkelnikola – das war so 'n richtiger Kerl noch! Den größten Sandhaufen hatte er von vornherein für sich in Anspruch genommen. Kecklich ragte neben ihm ein Papierfähnchen auf und zwar in den päpstlichen Farben. Das gehörte sich so, das mußte so sein, denn Mutter Lisbeth ließ andere Kulören nicht gelten, weil sie von der wohlüberlegten Voraussetzung ausging, man könne nicht früh genug mit der äußeren Betätigung des christkatholischen Glaubens beginnen, und so wurde denn in ihrem Wirkungsbereich nur eine weißgelbe Zusammenstellung des beliebten Spielzeugs geduldet. Aber auch abgesehen von diesem beherzigenswerten und äußerst löblichen Grundsatze – die päpstlichen Farben harmonierten ausgezeichnet zu dem frischen Gesicht des Fähncheninhabers, der so dreibastig dasaß, als habe sich der kategorische Imperativ des Herrn Immanuel Kant in diesem allerliebsten Bürschchen verkörpert. Das ganze, rosigüberhauchte Köpfchen strotzte von brutaler Gesundheit. Die Äugelchen blitzten, und auf der kugelrunden Stirn drehte sich so 'n lockiges, weißblondes, pfiffiges Toupetchen steil in die Höhe, durch welches die rötliche Kopfhaut, genau so rötlich wie die eines weißen Albinokaninchens, hindurchsah. Und dabei das selbstbewußte, impertinente Gesichtchen . . .! – Kurz, alles in allem: das ganze Kerlchen war wie so 'n Borsdorfer Apfel, frisch, kernig, ohne Flecken und Schäden – direkt zum Anbeißen fertig.

»Er auch haben will Törtchen!«

Kampfbereit hatte er das Fähnchen ergriffen und Miene gemacht, kurzer Hand den ganzen Kuchenbäckerladen zu stürmen. Marieke Bärendonk, die nunmehr allen Grund hatte, ihren sorgfältig hergerichteten Schatz gefährdet zu wissen, verlegte sich auf ein kräftiges Schreien, zu dem sich Barthje van Bebber und Nöllecke Kunders als ausdauernde Helfershelfer gesellten. Ein Heidenspektakel ging los, und es wäre auch zu Tätlichkeiten gekommen, hätte nicht Mutter Lisbeth im richtigen Moment ihre nie versagende Zauberformel gefunden.

Mit verheißungsvoller, etwas verschleierter Stimme begann sie: »Das is nu schon lange her. – Es war aber mal 'ne wunderschöne Prinzessin . . .«

Das wirkte! – Alles drängte sich um die Erzählerin und sperrte die Mäulchen. Nur der Pinkelnikola blieb wo er war, drehte aber doch das vollbackige Köpfchen in Richtung der Alten. Kregel sträubte sich dabei das blonde Toupetchen nach aufwärts.

Lisbeth Mömmes sprach weiter: »Es war also mal 'ne wunderschöne Prinzessin gewesen. Die war so schön, daß man sie nich ankucken durfte, denn sie hatte gläserne Beine, die doch jeden Momang so 'n bischen kaput gehen konnten.«

»Oh!« machte Nöllecke Kunders.

»Tut nichts, Nöllecke,« meinte die Alte, »sie war ja verwunschen un konnte daher gläserne Beine vertragen. Un sie wohnte in 'nem Pallä, das war ganz von Printen gemacht – un von Babbeltjes waren die Fenster – un von Moppen die Pfannen – un in der Plantage standen Bäume von Süßholz; da kam der Syrup man so pieplings herunter.«

Dem Barthje van Bebber lief das Wasser unter der Zunge zusammen. Mit gierigen Augen sog er gleichsam all' die schönen Süßigkeiten und Leckertäten auf, die Mutter Lisbeth mit ihrem Munde zurecht machte und unentgeltlich spendierte.

»Un da kam eines Tages so Schlag Klock gegen acht ein schöner König geritten . . .«

»Wer kam geritten?« fragte Marieke.

»Ein feiner König, mein Kindchen.«

»Der Tönig bin ich!« ließ sich eine herrische Stimme vernehmen.

Nikola hatte von seinem hohen Thron aus gerufen.

»Hast Dich was mit König!« erwiderte Lisbeth. »Ein unartiger Junge bist Du, aber kein König – un wenn Du nich still bist . . .«

Allein der kleine Querkopf blieb auf seinen ›Tönig‹ bestehn, machte ein grimmig Gesicht und schwenkte bedrohlich mit dem gelbweißen Fähnchen.

»Weiter, weiter!« drängten die Kinder.

»Un als er daherkam,« erzählte die Alte von neuem, »da riefen die Babbeltjes: Eß mich! – un die Moppen fielen vor lauter Pläsier von den Dächern herunter un wollten absolutemang dem feinen König ins Mundwerk spazieren.«

»Oh!« rief Nöllecke Kunders dazwischen.

»Un die verwunschene Prinzessin ging ihrem Herzallerliebsten durch die Süßholzplantage un die Syrupstropfen entgegen, hob die gläsernen Beine ein bischen un wollte den Lirumlarumlöffelstiel tanzen; un wie sie so tanzte mit die gläsernen Beine . . .«

»Da – bums!« ließ sich der Pinkelnikola hören.

»Hu!« schrieen fast gleichzeitig die sämtlichen Kinder, aber weniger der armen Prinzessin und der gläsernen Beine halber, die sie wahrscheinlich an irgend einem Gartenkiesel zerschlagen hatte, als vielmehr in einer plötzlichen Anwandlung von Furcht, weil so ganz unverhofft die Laken-Sophie in Sicht kam.

Und richtig, da kam sie – ruhig, bedächtig und so lautlos wie auf Fledermausflügeln, denn sie ging auf weichen Selfkantpantoffeln, die so wenig Geräusch machten, daß viele darauf schwören wollten, die Laken-Sophie habe niemals Beine besessen, sondern schwebe nur sanft dahin und zwar etliche Zoll über dem Boden.

Der prächtige Pfiffikus und Wichtigtuer auf dem Sandhaufen verzog keine Miene. Mit dem unverschämtesten Gesicht von der Welt begegnete er den stechenden, stahlgrauen Augen der Jöffer Boß, die sich inzwischen eingefunden und Lisbeth Mömmes in seltsam hastiger und doch altjüngferlicher Zierlichkeit begrüßt hatte.

»Witt, Witt, Witt!« kommandierte die Alte, »lauft mal so 'n bischen geschwind in die Hintere Stube un bringt für Tante Boß den piekfeinen Sessel.«

Na – das geschah denn. Marieke Bärendonk und Nöllecke Kunders schleppten das Verlangte herbei, suchten aber so schnell wie möglich aus dem Bereich der hageren Jungfer zu kommen, die sich mit ihrer dünnen und gläsernen Stimme bei den Kindern bedankte, gleichzeitig aber ihren langen Hals derartig aus dem schwarzen Pelerinchen vorschob, daß man des Glaubens sein konnte, sie wolle mal in den Zimmern der ersten Etage so 'n bißchen herumvigilieren.

Alsbald saßen die mageren und die fetten Jahre einträchtig nebeneinander, steckten die Köpfe zusammen und versuchten zuerst durch sondierende Blicke die innersten Gedanken sich wechselseitig abspenstig zu machen.

Mutter Lisbeth jedoch, von lebhafterem Temperament, gerade aus und weniger diplomatisch veranlagt, brach zuerst das prüfende Schweigen.

»Um tausend Gottes willen!« begann sie, »wo hat Sie denn in all der Zeit nur immer gestochen?«

»Je, ja,« sagte die Lange und wiegte ihren Kopf rhythmisch auf dem langen Halse, daß sich ihre Ohrgehänge klingend bewegten.

»Na, was denn?! – So spreche Sie doch; man hat doch auch so 'n bischen Interesse in den langen Jahren bekommen.«

»Da drüben,« geheimnißte Sophie Boß und zeigte mit ihrem hageren Daumen über die Schulter.

»Wo war's denn?«

»Auf dem Fingerhutshof.«

»Un was machte Sie da?«

»Die Aleit hat so 'n kleinen Vogel bekommen. Alles wollte sie neu haben, neues Tischzeug und Bettzeug – und da habe ich denn so fünf Tage auf dem Hof 'rumschneideriert, von morgens bis abends, und habe alles extra geliefert.«

»Ja, die da,« fiel die Alte dazwischen, »die kann's auch nich fein genug haben, die will immer Hurra nach oben – immer nobel un bis an die Wolken!«

Um ihren Worten den gehörigen Nachdruck zu geben, schlenkerte sie dabei ihr rechtes Bein in die Höhe, daß die graubestrumpfte Wade in seiner ganzen Fülle sich zeigte, und der perlbestickte Pantoffel lustig davonflog.

»Immer Hurra nach oben . . .

»Stimmt schon,« nickte die Lange, »und erst in vierzehn Tagen – da geht die Sache mal recht los. Denke Sie sich nur, Madam Mömmes . . .«

»Was soll ich denken? Man kann ja zuviel bekommen vor lauter Erregung.«

»Hemden – neumodische Hemden . . .

»Was?!«

»Und das ohne Ärmel . . .

»Nich möglich – nich die Menschenmöglichkeit, Sophie!«

»Vom feinsten Battist . . .!« ergänzte die Lange.

Lisbeth Mömmes schnappte nach Atem.

»Neumodische Hemden!« rief sie entsetzt, »vom feinsten Battist – un das ohne Ärmels! – Pfui, so 'n hoffärtig Fraumensch!«

»Und denn noch mehr, Madam Mömmes.«

»Um tausend Gottes willen! – was kann da noch mehr sein?«

»Mutter Lisbeth!« rief das mit einmal.

»Was soll's denn, Marieke?«

»Der Nikola . . .

»Was macht denn der Nikola?«

»Er tütet immer von hinten.«

»Pfui!«

»Ich bin Tönig – das tann ich,« kam es dicknäsig aus dem Munde des putzigen Kerlchens.

»Noch einmal, dann gibt's was!« drohte die Alte, griff hinter sich und zeigte mit einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung die Rute.

»Oh – Mutter Lisbeth!«

»Wart' Du . . .! – Aber ich komme ja um,« wandte sie sich wieder an ihre Partnerin, »so spreche Sie doch. – Sie weiß was, Sie weiß mehr wie so 'n bischen, Sie weiß 'ne große Geschichte. Was is denn?«

»Sie ist eifersüchtig,« sagte die Laken-Sophie mit aller Bestimmtheit.

»Wer denn?«

»Die Aleit.«

»Auf wen denn?«

»Ach, Madam Lisbeth . . .!« seufzte die Lange, legte die Hände übereinander und begann unheimlich mit ihren Augen zu geistern.

»Nu aber heraus mit die Sprache,« meinte die Dicke, »wenn Sie nich will, daß ich ins Geckenhaus komme.«

In den Blicken der Laken-Sophie begann es elegisch zu leuchten.

»Madam Mömmes, versteht Sie zu schweigen?« fragte sie mit sanfter Betonung.

»Wie 'n Grab,« beteuerte Lisbeth.

»Kann Sie das auf Ihre erste heilige Kommunion nehmen?«

»Ja,« sagte Lisbeth, »das kann ich.«

»Na denn,« lispelte Sophie Boß und schlug verschämt die Augen zu Boden, »die Geschichte ist also . . .«

»Mutter Lisbeth! – Mutter Lisbeth!« kam es abermals in Jammerlauten aus den Reihen der Kinder.

Die Alte war aufgesprungen und gestikulierte mit Armen und Beinen: »Haltet die Münder, haltet die Münder! – Mamsell Sophie, ich bitte, man weiter.«

»Aber ich muß Dir was sagen – ich muß Dir was sagen!« schrie Marieke Bärendonk und schluckte die Tränen herunter.

»Denn 'raus damit, aber schnelles, Marieke.«

»Der Nikola . . .

»Was soll's mit dem Nikola?«

Die Kleine zeigte nach rücklings.

»Jetzt läßt er sein Wässerchen fahren – und unsere ganze Sandbäckerei . . .«

Sie sprach nicht weiter. Das Erzählte genügte und schlug dem an und für sich schon lecken Faß vollends den Boden aus. Mit einer Geschwindigkeit, die man der korpulenten Person kaum zugetraut hätte, waltete Lisbeth Mömmes ihres Richteramtes. All' seiner äußeren Würden entkleidet, wurde der kleine König gepackt, übers Knie gezogen und hinten entblättert.

»Er nicht wiedertun – nicht wiedertun!« versicherte der arme Knirps in allen nur möglichen Lauten.

Es half ihm nicht; der kleine Übeltäter hatte seinen Richter gefunden. Kurzer Hand wurde das hochnotpeinliche Verfahren unter Strampeln und Schreien beendet.

»So!« meinte Lisbeth und schloß wieder die Klappe. »Außerdem sag' ich's noch for Deinen Pappa. Marsch, daß Du fortkommst.«

Heulend und die dicken Patschfinger am Höschen, steuerte der Gemaßregelte wiederum seinem thronenden Sitz zu. Dort ließ er sich nieder und bohrte die schmerzhafte Stelle tief in den Sand ein. Alles war gebrochen an ihm: sein Lebensmut, seine Dickfelligkeit und sein patziges Aussehen – nur das Toupetchen war das alte geblieben. Kregel wie immer stand das weißblonde Lockensträußchen nach oben.

»So!« sagte Lisbeth Mömmes noch einmal, pflanzte die dicken Beine nach auswärts und setzte die Hände in die stämmigen Hüften.

Fast gleichzeitig tönte die sechste Abendstunde vom nahegelegenen Rathaus über die Stadt hin.

»Sechs Uhr,« meditierte die würdige Dame, drehte sich um ihre eigene Achse und meinte, zur Laken-Sophie gewendet: »Nu is die Schule aus – nu kann Sie mir alles noch einmal erzählen, denn nu kommen die Mütters.«

»Schön,« lächelte die Jungfer mit wehleidigem Augenaufschlag, »ich kann warten – und warte.«

»Das soll ein Wort sein, Mamsell Sophie,« entgegnete Lisbeth. »Nur 'nen kleinen Momang noch,« und dann rief sie mit lockender Stimme: »Tütütütü! – Tütütütü! – Nöllecke, Barthje – no kommen de Moders!«

Und sie kamen von allen vier Winden der Stadt her, um ihre Kinder in die ›Heia‹ zu holen.

»Tütütütü . . .! – Mamsell Sophie, nur einen kleinen Momang noch.«

»Ich warte.«

Wie geistesabwesend stierte die Laken-Sophie vor sich hin.

Wo war sie nur mit ihren Gedanken?

Das wußte niemand, auch Madam Mömmes nicht. Aber die sollte es noch in der nächsten Stunde erfahren – und also geschah es.

 


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