Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XI Wenn des Haarrauch weht

Es war anderen Tages. – Der Westwind blies noch immer über den Deich hin; allein es war anders wie vor kurzem, wo er die Pappelkronen für Spielbälle hielt und weiße Schaumspritzer über die Dammkrone schickte. Es war ein Westwind wie gestern: weich wie Watte und wohltuend wie ein laulicher Odem. Mit liebevoller Hand streichelte er Wiesen und Felder, pochte an Borke und Bast und zupfte die Himmelschlüssel aus dem lockeren Erdreich. Dabei ging so ein feiner Duft über die Gegend, der in die Nasen hineinkribbelte und die Turmspitzen mit einem zartbläulichen Dämmer umhüllte.

Haarrauch, nichts weiter als Haarrauch! – der aus Gelderland wehte und der Gegend von Zütphen, wo sie Heide versengten.

In zarten Bändern nestelte er sich über die Erde. –

Langsam, aber stetig kroch das zurückgestaute Wasser des Kalkflacks wieder dem Rheinstrom entgegen. Das überschwemmte Wiesengelände kam mit seinen höher gelegenen Stellen allgemach und hoffnungsfreudig zum Vorschein und gab den leberförmigen Blättern der Sumpfdotterblume Raum und Bewegung. Ja – es war heute so ein schöner, mit feinen Nebeln durchsetzter Frühlingsmorgen gekommen, der die Sinne erheiterte und aller Welt zurief: »'raus, und freut Euch des Lebens!«

»Wollen wir,« sagte auch Herr Petrus Nagel gleich nach dem Mittagessen, gedachte aber das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, schlürfte noch sein Schälchen Kaffee herunter und dekretierte dann durch das Guckloch seines Kontörchens: »Junger Mann, anspannen lassen, Kollis verpacken, aber tuttswitt; ich mach' auf Geschäftstour.«

»Servus!« antwortete eine vergnügliche Stimme.

»Bong!« sagte Herr Nagel, schnellte vom Stuhl auf, tänzelte vor den Spiegel, brachte ein Taschenkämmchen zum Vorschein und striegelte seine Bonjourtolle noch etliche Zoll weiter nach aufwärts, nicht ohne dabei von Zeit zu Zeit einen Blick in den Laden zu werfen, wo Hannibal Pinsgen sich damit beschäftigte, den Befehl seines Prinzipals prompt in die Wege zu leiten.

Hannibal Pinsgen war alles – aber auch alles und jedes. Er war der Sohn des in hiesiger Stadtgemeinde domizilierten Gendarmen, drei Käse hoch, war auf der humanistischen Bildungsleiter bis Quinta gestiegen, hatte dann aber die Papiertüten des Herrn Petrus Nagel gegen den langweiligen Cornelius Nepos in Umtausch genommen, hatte bei dieser Gelegenheit den ›Servus‹ aus seinen alten Verhältnissen mit hinüber gerettet, war der glückliche Inhaber von zwei bis tief in das Frühjahr hinein krebsroten und erfrorenen Händen, herrührend von winterlicher Beschäftigung mit Salzlake und Heringsbrühe, hatte ein radieschenfröhlich Gesicht, Stubsnase und kregele Augen, versuchte, nach dem Vorbild seines Prinzipals, sich 'ne Tolle wachsen zu lassen, begnügte sich aber wegen Mißlingens mit zwei Haarsechsen à la Sergeant, war eifrig, beflissen, sparsam, hatte siebenzehn Lenze auf seine Schultern geladen und schätzte sich glücklich, bereits im dritten Jahre sich in seiner jetzigen sozialen Stellung zu wissen.

Wie gesagt, Herr Hannibal Pinsgen war alles. Er war Lehrling, Kommis, Packmeister, Verkäufer, führte die Bücher, sah kaum über die Theke, wenn er seine Kunden bediente, nahm den Warenbestand auf und zog die Bilanzen, war befehlender Herr über Essigtonne und Salzfaß, servierte bei Tisch, stand bei seinem Prinzipal in Kost und Logis und war jahraus, jahrein mit einer improvisierten Schürze aus Sackleinewand bekleidet, die mal einer Zuckerhutsendung als Umwicklung gedient haben mochte und in schablonierter Schrift die Worte enthielt: Vor Nässe zu hüten.

Postskriptum. Er liebte; war sterblich und bis über die Ohren verliebt, leider aber ohne reelle Gegenliebe zu finden; zudem hatte er die Oberaufsicht über den Petrus Nagelschen Marstall, bestehend aus: Zweirad, Stallaterne und Handkarren, welch letzteren er selber handhabte, waren größere Sendungen von der Post zu holen oder dorthin zu bringen, während sein Prinzipal per Zweirad die Briefpost besorgte und auf demselben Vehikel häufiger auswärtige Kunden bediente.

»Servus . . .

Die Nagelsche Frisur stand in tadelloser Richtung und Haltung, als Herr Hannibal Pinsgen nach viertelstündiger Tätigkeit Meldung erstattete.

»Servus, Herr Nagel . . .«

»Na?«

»Alles parat.«

»Bong! – Wie Packung?«

»Lenkstange rechts 'nen Holländer Käse; Lenkstange links drei Pfund Zichorienkaffee. Beides für Hendrik Kermes in Wisset.«

»Schön, junger Mann – und am Sattel?«

»'ne Tüte Muschkatnüss', dito mit Nägelkens, dito mit gestoßenem Pfeffer à Konto Kaldenhoven, dito 'ne solche mit Pottlot, 'ne Dose mit Hering und zwei Pfund Kaneelsbork mit beigesteckter Rechnung für Witwe Trompätt in Moyland. Und hier, aneinandergebunden, 'ne Bouteille ›Ollen Klaren‹ und 'ne dito solche mit Rübsenollig für dieselbigte Firma.«

»Bong!« sagte Herr Nagel, legte sich die siamesischen Flaschen wie 'ne Bürgermeisterkette um den Hals, steckte sich noch 'ne Pfeife in Brand und begab sich, von seinem ›jungen Mann‹ begleitet, nach draußen, um hier sein aufgeschirrtes Stahlroß nach allen Regeln der Kunst zu besteigen. Fort ging's, als müsse er dem fliegenden Holländer in die Parade fahren und ihm Konkurrenz machen.

»Servus!« rief Herr Hannibal Pinsgen noch hinter ihm her, begab sich dann in den Laden zurück und voltigierte hier mit seiner drei Käse hohen Statur, seinem Radieschengesicht und seiner improvisierten Schürze aus Packleinewand über die Theke, während Herr Petrus Nagel über den großen Marktplatz chassierte, die Giebelfronten vorbeitanzen sah, in die Grabenstraße einbog und die hinter prächtigen Linden geduckte Wohnung des Herrn Notars Johann Peter Gerechtsam passierte.

Mit Klingeln und Volldampf ging es vorüber.

Jetzt kam der Armenhof mit seinem angefressenen Giebel, seiner Kleinkinderbewahranstalt und seinen Schirtinggardinen in Sicht.

Lisbeth stand breitbeinig, mit Hornbrille, Strickstrumpf und blaubedruckter Kattunschürze bewaffnet, inmitten der Haustür. Das schöne Wetter hatte sie mit ihrer kleinen Gesellschaft für einige Viertelstunden ins Freie gelockt, wo der Buchfink im Vorgärtchen sang, und die jungen Grastupfer sich schon neugierig zwischen den Pflastersteinen ans Licht drängten. Barthje van Bebber und Nöllecke Kunders spielten Schweineschlachten, indes Nikola mit grimmigem Gesicht, krummen Beinchen und geschultertem Fähnchen als Schildwache vor Madam Mömmes auf- und niedermarschierte.

»Schön so,« lächelte Lisbeth, »man weiter so, Nikola; wirst mal Schersant bei's schwere Getränke.«

»Nein – Tönig,« dekretierte der Buxenknopp und schilderte weiter.

»Schön,« sagte Lisbeth, »kannst auch meinetwegen König bei die Japanesers werden,« hielt mit Stricken inne und ließ ihre Blicke liebevoll über die sauber abgeteilten Rabatten ihres Vorgärtchens gleiten, wo ihre dicken Bohnen bereits mit zartgrünen Läppchen durch die lockere Erdkruste drangen.

Sie dachte dabei an den kommenden Sommer, an Schweinespeck und ihr Lieblingsgericht mit Dillsauce.

»Heil'ge dicke Bohnenzeit!« freute sie sich im wonnigen Vorgefühl der zu erwartenden Dinge. Ihre Lippen wurden feucht. Instinktiv bewegten sich ihre Hände in Richtung des Magens . . . und Barthje van Bebber quiekste dabei wie ein wirkliches Schweinchen, und Nöllecke Kunders praktizierte ihm sein Zeigefingerchen an die kitzeligste Stelle, daß er immer lauter quiekste und lachte und ein natürliches Ferkelchen abgab – und Madam Mömmes war gerade dabei, von ihrem Speck- und Bohnengericht auf Joseph von Ägypten überzuspringen, als Herr Petrus Nagel mit dampfender Pfeife und diversen Päckchen am Horizont auftauchte.

»Kuck mal, Nikola,« sagte Frau Lisbeth, »da kommt Dein Pappa gefahren.«

Die Aufforderung hätte sich Madam Mömmes sparen können. Der Kleine war wenigstens so hellsichtig wie sie selber gewesen.

»Mittenehmen!« schrie er seinem Erzeuger schon von weitem entgegen.

»Geht nicht, mein Junge!«

»Ich will aber . . .

Nikola sprach nicht mehr in der dritten Person. Die verflossenen Monate hatten glättend auf ihn gewirkt. Abgesehn von seiner Sturigkeit, war er gebildet geworden und hatte gelernt, den kategorischen Imperativ auch in der Ichform von sich zu geben.

Petrus Nagel kam näher.

Zwei Ärmchen streckten sich aus.

»Mittenehmen!« klang es zum andern, aber noch energischer und unter kurzem Gestrampel der lustigen Beinchen.

»Geht nicht; ich mach' auf Geschäftstour nach Wissel und Moyland. Tag, Frau Mömmes . . .«

»Herr Nagel . . .«

Weg war der Kerl. – Wie 'ne Schnuppe gekommen, wie 'ne Schnuppe zum Teufel! – Von der Nagelschen Sippe war lediglich Nikola mit seinem Geheul und seiner Patzigkeit übrig geblieben.

»Mittenehmen . . .

Es war ein vergebliches Rufen.

Barthje van Bebber und Nöllecke Kunders hielten mit Schweineschlachten inne und kniffen ihn scherzhafterweise in die strampelnden Beinchen.

Da war's alle mit ihm. Aus dem kleinen König entpuppte sich ein Tyrann in optima forma. An allem hätte er seine knirpsige Wut ausüben mögen: an Lisbeth, an Barthje van Bebber und Nöllecke Kunders; da er sich aber an die respektsvolle Dame nicht heranwagen durfte, die beiden Kumpane ihrerseits wieder über fixere Beinchen verfügten, er seinen ohnmächtigen Zorn aber irgendwo auslassen mußte, verfiel er unglückseligerweise auf Lisbeths Bohnenrabatten. Hinspringen, sein blondes Haarsträußchen wie so'n Maulwurfrüsselchen in den lockeren Boden hineinbohren, vor Erregung wiehern und quietschen, strampeln und mit seinen Pfötchen die Erde hinter sich werfen – das folgte alles so prompt aufeinander, hing so folgerichtig zusammen, daß ein Unbeteiligter seine helle Freude an dem Tun und Treiben des giftigen Mineurs haben konnte.

Madam Mömmes hingegen dachte anders darüber.

»Meine Rabatten . . .! – Jüngsken . . .!« schrie sie entsetzt, trollte sich zu ihm und meinte mit ironischem Beigeschmack: »Was man nich im Koppe hat, muß man auf den Hintern haben,« und – schnaaf dich! – die Katastrophe setzte prompt und mit elementarer Gewalt ein.

«Ich sag's for meinen Pappa!« brüllte der Kleine.

»Tu's man,« entgegnete Lisbeth, »mußt Dir aber dazu lange Beine besorgen, mein Jüngsken,« und wie ein sorglicher Gärtner den sammetpelzigen Wühler mit spitzen Fingern und an seinem Stummelschwänzchen aus der Röhre hervorzieht, so wurde auch Nikola durch einen kurzen Griff am Hosenboden wieder an das Licht der allbelebenden Sonne gefördert.

»Nu sag's Deinem Pappa,« dekretierte die Alte.

Das war nun allerdings leicht gesagt, aber schwer getan. Der Gemaßregelte machte daher auch gar keinen Gebrauch von der liberalen Erlaubnis, verlegte sich vielmehr auf das, was für ihn dem Bereiche der Möglichkeit angehörte: setzte sich auf seine torquierte Stelle, fauchte wie ein kleiner Kater hinterm Ofen und drohte ständig damit, es doch seinem Pappa sagen zu wollen, wenn dieser zurückkommen würde. –

Vorwärts . . .!

Petrus Nagel war bereits in Höhe der Bunten Schleuse erschienen. Flüchtig strampelte er an jungen Erlen vorüber, die eine Zeit lang den hohen Fahrdamm begleiteten. Eine prächtige Merle sang in den grüngesprenkelten Zweigen. Der Haarrauch wehte darüber hin, glitt die Böschungen entlang und kroch von hier aus über die glatten Wiesen des Binnenlandes, wo die Angestellten des Fingerhutshofes damit beschäftigt waren, die mit dem Beginn des Frühjahrs entstandenen Maulwurfshaufen auseinanderzustreuen.

Weiter zur Rechten lag das Anwesen selber. Die Elstervögel lärmten in den Pappelkronen, wo schon ihre rundlichen Nester entstanden. Nur mit einem scheuen Blick streifte Herr Petrus Nagel den protzigen Gutshof. Seit der Billardaffäre war er auf Barthes van Laak überhaupt nicht mehr gut zu sprechen gewesen. Wer gab ihm, dem Donnerjü, in aller Welt nur das Recht, sich so als Treffeljunge zu fühlen! – Warum und weshalb denn?! – Weil er über achtzig melkende Kühe und zwei Kutschpferde im Stalle hatte, einer Pulle nach der anderen den Hals brechen konnte, auf Gott und alle Welt skandalierte und im Schummern um die Mägdekammern herumstrich? – Eine von den Dirnen war ihm schon unter die Finger gekommen, daß sie mit einem vorne zu kurzen Rock in ihr Malör hineinkriechen mußte. Roggenstrohhaare hatte das Weibsbild, schön war sie auch und hatte zwei Augen im Kopfe . . . Da war denn weiter auch kein großes Kunststück bei der ganzen Affäre! – Das hätte jeder andere auch besorgen können, und was die Bouteillen mit Langkork anbetraf . . .

»Bong! – können wir auch,« sagte Herr Petrus Nagel und flitzte verärgert an der unsympathischen Wirtschaft vorüber. –

An diesem Nachmittag stand Barthes van Laak mit Kniestiefeln, kurzer Joppe und einer Zigarre zwischen den Zähnen in der Toreinfahrt einer seiner weitläufigen Scheunen und sah zu, wie sein Oberknecht ein neu angeschafftes Reitpferd im Kreise longierte.

Nichts war ihm recht, er mäkelte an allem herum, schimpfte auf die erbärmlichen Gänge, auf den dämlichen Kerl und die verluderte Schindmähre, als ein kleines Männchen mit braunem, abgeschlissenem Rock, den Kragen bis über die Ohren geschlagen, hinter dem Staketenzaun auftauchte, mit seinem schwanken Rohrstöckchen an den Latten herumratterte und mit heller Stimme über den Hofraum hinwegkrähte: »He, Freundchen! – Freundchen . . .

»Gotts den Donner noch mal!« muckte Barthes auf, »der kommt mir grade gepfiffen. Was gibt's denn?«

»Haarrauch,« keuchte Krispinus van Bommel, haspelte näher und legte seinem Neffen die zittrige Hand auf die Schulter. »Haarrauch, mein Junge – und, ich kann mir nicht helfen, derselbigte erinnert so'n bißchen an 'ne brandige Sache. Es raucht wo und schwelt wo – und wo so'n brandiger Muff ist . . .«

»Kenn' das.«

»Je – aber . . .«

»Was aber?«

»Zackerzucker! – soll ich ihm so'n kleines Feuerchen unter der Nase abbrennen? Das macht 'nen klaren Kopf und bringt so'n wenig Licht in die Sache.«

»Pressiert's?«

»Wie man's nimmt, Herr Vetter.«

Der Donnerjü merkte auf.

»Etwa wieder die verdammte Deich- und Wiesengeschichte?!« schrie er ihn mit blaurotem Gesicht an. »Die gottssträfliche Affäre ist mir nun grade bis ans Maulwerk gegangen – oder . . .«

Langsam drehte er sich nach einem drallen Weibsbild um, das hochgeschürzt, mit roggenstrohtrockenen Flechten und einem blanken Milcheimer in der Hand über den Hof ging.

»Oder«, der Donnerjü stieß seinen Ohm mit einem kurzen Lachen in die unteren Rippen, »meint er vielleicht . . .«

»Hihihi!« krähte van Bommel und musterte wie ein abgefeimter Kenner das Gangwerk und die derben Reize des schwerfällig sich entfernenden Mädchens. »So 'ne Waden . . .! – I, Gott bewahre, Herr Neffe! – 'nem mausenden Kater soll man das Handwerk nicht legen. – 'ne alltägliche Schose! – Reinste Privatsache! – Jeder ist sich selber der Nächste! – I, Gott bewahre, Herr Neffe! – ne – es muffelt aus 'ner ganz anderen Ecke.«

Listig drehte er sein Fuchsgesicht im Kragen herum und deutete mit seinem schwanken Spazierstückchen in Richtung des Herrenhauses.

»Freundchen! – Freundchen! – die mein' ich.«

Barthes van Laak hatte das Aussehn einer gereizten Dogge bekommen. Er wäre dem impertinenten Menschen unmittelbar an die Kehle gesprungen, wäre nicht der Pferdeknecht gewesen, der gleichgültig und mit stoischer Ruhe noch immer an dem widerspenstigen Gaul herumexerzierte.

»Du, Ohm . . .« knirschte der Donnerjü und war näher getreten. Man sah es ihm an, wie es in ihm wühlte und bohrte.

»Ruhe, Ruhe,« begütigte Krispinus van Bommel. »Ein wenig gelinder mit die tollrigen Pferde. Man tut ja sein Bestes, man will ja sein Bestes – aber nur nicht gleich mit ›Heidi‹ über den Zaun weg. Immer mang den Fahrgeleisen geblieben. Nur pure Vermutung, man weiß nichts Bestimmtes; vielleicht ist alles aus den bloßen Fingern gesogen – aber so 'nem Rattenkönig von ›Wenn‹ und ›Aber‹ soll man auch auf die Schnauze . . .«

»Stimmt,« keuchte der Fingerhutshöfer. Er schnappte nach Atem, wollte lachen, konnte aber nicht. Ihm war so'n Dings wie'n Wergstrick um die Kehle gezogen. »Kutt ki kutt!« stöhnte er endlich, »entweder so oder so, aber los dafür . . .«

»Hier?« fragte Krispinus und deutete auf den Pferdeknecht, der schon etliche Male herübergeschielt hatte.

»So'n Viechskerl!« knirschte Barthes zwischen den Zähnen, »denn da hin.«

Er machte eine nicht mißzuverstehende Geste, ging voraus, betrat, von dem fröstelnden Männchen begleitet, den Hausflur, warf die Tür zu seinem Privatzimmer auf, in welchem er seine Geschäfte mit Vieh- und Getreidehändlern abzuwickeln pflegte, und riegelte hinter sich und Krispinus van Bommel die Tür zu. –

Für einige Augenblicke blieb es totenstill unter den Pfannen des Fingerhutshofes, als sei über seine Dächer ein schwarzes Laken gefallen. Selbst die Elstervögel, die ab und zu flogen, hatten ihr Lärmen eingestellt. Der Pferdeknecht lockerte die Longierleine, steckte sich 'ne frische Pfeife an und ließ den abgeäscherten Gaul verschnaufen. Mit stumpfem und leerem Gesicht, das wie rissige Borke aussah, grinste er der Milchkammer zu, aus der das trockenhaarige Mädchen von eben wieder herauskam. Mit bloßen Armen, die bis über die runden Ellenbogen mit Milch bespritzt waren, querte es den sandigen Platz, auf dem das angeleinte Pferd einen regelrechten Zirkel ausgetramst hatte. Die ganze Person atmete einen begierlichen und würzigen Duft aus.

»Du, Stina . . .«

»Was soll's?«

»Schlecht Wetter,« sagte er mit eckigem Lächeln.

»Wieso denn?«

»Es düstert und donndert.«

»Wo denn?«

»Da, wo die Großmoguls sitzen.«

Er deutete mit breitem Daumen über die Schulter.

»Beim Baas?« fragte sie lebhaft.

»Wo denn anders! Da sitzt Hagel drin und kloppt Strunk und Stiel auseinander.«

»Na, so was!«

»Du, Stina . . .«

»Und . . .

»Mußt ihm mal wieder verliebt kommen. Das lenkt ab; sonst kriegen wir armen Kerls die ganze Prostemahlzeit zu fressen. Es paßt grad: die kommoden Hafersäcke stehn noch von früher.«

Das Mädchen verfärbte sich.

»Pferdsgesicht!« keuchte sie mit verhaltenem Ingrimm. »Was kümmert's Dich – und wenn es so wäre? Bin ich etwa mit Dir verheiratet – Du Schandmaul?!«

»Ich meinte man, Stina. Oder willst Du's mit mir mal probieren?«

»Rutsch mir den Buckel runter, Du Saukerl!« fauchte sie bitter und ging ihres Weges.

»Te–r–a–a–b!«

Die Leine straffte sich und wieder trabte das Pferd an.

Inzwischen war eine bange Viertelstunde vergangen. Die Elstervögel, die sich eine Zeit lang still verhalten hatten, bäumten abermals mit lautem Geschrei auf. In den Ställen wurden die Gäule unruhig. Der drückende Alp löste sich, und die Stimmen im Herrenhaus, die sich bisher einer ängstlichen Zurückhaltung befleißigt hatten, waren plötzlich aus ihrer Reserve getreten.

»Prosit, Ihr Bauern! – nu aber nichts mehr.«

»Aber, Herr Neffe . . .

»Viechskerle alle! – Das ist ja nichts anderes, als einem 'ne Laus in den Pelz praktizieren.«

»Freundchen! – Freundchen . . .!« krähte van Bommel dazwischen.

Er kam nicht weiter. Eine derbe Faust wurde krachend auf die Tischplatte getrieben.

»Nichts mehr!«

Polternde Schritte kamen; dann wurde die Tür aufgerissen.

Barthes erschien auf der Zimmerschwelle, wandte sich aber nochmals zurück und streckte die Hand aus.

»Selbst soll sie's sagen, was an dem ganzen Brimborium dran ist. Selbst soll sie's sagen.«

Die ausgestreckte Faust geriet in ein nervöses Zucken und Zittern.

»Aber mir ist so – ist so, als wenn ich so manchem das ganze Gerede rechts und links ums Maul klatschen müßte.«

»Freundchen . . .

»Ruhe . . .

Bei dieser Wendung der Dinge rieselte dem alten Zwischenträger so etwas wie ein ungemütliches Behagen den Rücken herunter. Das hätte er sich vorher sagen können: mit dem Donnerjü war es nicht praktisch, gemeinsam Kirschen zu essen. Die ganze Mission hatte ihre bedenklichen Seiten. Das erkannte er jetzt. Sie war ihm so halber in die Kniee gefahren.

»Zackerzucker! – man kann ja immer nicht wissen . . . Ich will nichts gesagt haben.«

Barthes sah ihn mit vernichtenden Blicken an.

»Nicht?!« fragte er mit glutenden Augen. »So seid Ihr aber – alle miteinander! – Erst legt Ihr die Flinte an und knallt einem 'ne Ladung Schrot in den armen Kadaver, und nachher ist es nur ein pures Versehen gewesen.«

Die zuerst nur zwischen den Zähnen mühsam gekauten Worte waren schließlich von einem verächtlichen Lachen begleitet gewesen. »Nichts gesagt haben?! – Das ist ja zum Schreien, das ist ja um die Kränke zu kriegen! – Aber jetzt,« und er reckte sich in seiner ganzen Größe und Kraft auf, »aber jetzt hab' ich was zu sagen. – Aleit . . .

Kleine Kalkpartikelchen lösten sich von den Wänden des Korridors, als er ihren Namen gerufen.

»Aleit . . .

»So,« meinte Krispinus van Bommel, »jetzt kann ich wohl gehen, Herr Vetter?«

Verschüchtert drehte er sich dem Ausgang entgegen.

»Du? – Gehen?« fragte Barthes mit ironischem Beigeschmack.

»Freundchen! – Freundchen . . .

»Hiergeblieben!«

Der Alte prallte ins Zimmer zurück. Über den Fingerhutshöfer war eine eiserne, fatalistische Ruhe gekommen. Den Rücken gegen den Türpfosten gelehnt, ließ er den stiernackigen Kopf brütend auf die Weste herabsinken. Seine Blicke suchten etwas, konnten aber nicht finden, was sie suchten.

Da kam sie.

Sie kam schleppenden Ganges, als müßten ihre Füße sich von jedem Fleckchen Diele erst mühselig losreißen. Große Tränen waren in ihren Augen. Sie wußte, was ihr bevorstand.

»Du hast mich gerufen,« meinte sie tonlos.

Er sah ihr mit aufgerissenen Augen ins Gesicht, sagte aber nichts, sondern machte eine herrische Handbewegung ins Zimmer.

Da ging sie hinein . . .

Wiederum nahte sich die unheimliche und fast beängstigende Stille von eben. Sie trug das monotone Geräusch der Standuhr, die sich draußen im Flur befand, deutlich und in bestimmten Pausen ins Zimmer.

Plötzlich gab sich der Donnerjü einen Ruck und zerriß das quälende Schweigen. Er hatte die erlösende Wendung gefunden, nahm sich aber zusammen und sagte: »Du, sieh Dir den an; der will was.«

»Aber, Herr Neffe . . .«

»Nicht?« lachte Barthes mit heiserer Stimme. »Er will nichts – er hat die Kurasch nicht – und hat mir doch 'nen Rattenkönig unter die Sparren geschmuggelt! Aber das will ich: hören soll er, wie ich diesem Rattenkönig die ekelhaften Köpfe zerkloppe.«

Er war näher getreten.

Ruhig hielt sie seinen stechenden Blick aus.

»Darf man sich eine Frage erlauben?«

Zäh kamen die Worte von seinen Lippen herunter.

»Das darf man,« sagte sie zögernd.

Sie wußte nicht mehr, was sie geantwortet hatte.

»Na, denn . . .«

Er beherrschte sich und fuhr sich gedankensammelnd über die Stirne.

»Wo bist Du an dem betreffenden Abend gewesen?«

»An welchem Abend?« fragte sie mit erkünstelter Ruhe.

»Wo die Sache passiert ist.«

Sie sah ihn schweigend an.

»Na, an dem Abend, wo ich nicht hier war – wo der Sturm ging – wo ich in Wissel . . . Du weißt ja . . . Gottverdammich! – wo ich den Bauern 'ne richtige Laterne aufstecken mußte. Du, wo bist Du an diesem Abend gewesen?«

»Hier im Hause.«

»Und bist nicht draußen gewesen?«

»Ja, ich bin auch draußen gewesen.«

»Was?! – In dem Luderwetter da draußen, bei den Erlen dahinten?«

»Ja.«

»Und niemand war bei Dir?«

Sie gab keine Antwort.

»Und niemand war bei Dir?«

Seine Stimme zitterte, als er die Worte zum zweiten Male herausstieß.

»Warum fragst Du?«

»Weil es mein Recht ist.«

»Und wenn ich nicht wollte?!« trotzte sie auf. »Ich bin kein Kind mehr und bin Herrin über mein Tun und Lassen geworden. Aber ich will Dir die Antwort nicht vorenthalten. Ja, ich bin bei ihm gewesen. Vielleicht liegt eine Sünde darin, aber ich konnte nicht anders. Ich habe mich abgefunden damit – was früher war. Es liegt hinter mir und ist jetzt tot.«

»Was?!« schrie Barthes.

Er verstand alles so recht nicht. Er wollte dem verfluchten Hinterbringer das Gegenteil beweisen und hörte nun aus ihrem eigenen Munde . . .

Er war sprachlos geworden.

In der Ecke räusperte sich Krispinus van Bommel. Es war ein infames Räuspern, gewissermaßen eine Quittung auf das soeben Gehörte.

Da verlor der Donnerjü seine Fassung.

»Also doch!« knirschte er zwischen den Zähnen, »Ich bin kein Mensch mehr – ich bin in die Pfanne gehauen . . .«

Mit einem Satz war er bei ihr. Eisern griff er nach ihr und zwang sie vor einen Spiegel, der an der Schmalseite des Zimmers zwischen den Fenstern hing.

»Da sieh hinein – Du!«

Ein jähes Entsetzen fiel sie an.

»Ich verstehe Dich nicht.«

Ein verzerrtes Lächeln entstellte ihr Gesicht. Sie starrte ihn mit weltfremden Augen an, in denen es nicht mehr aufleuchten wollte.

»Was soll ich?«

»Da hinein sehn. – Da findest Du alles – da erkennst Du Dich selbst – da steht alles geschrieben – das kann kein Photograph besser machen und ist ein Stümper dagegen . . .«

»Barthes . . .

»Ausreden lassen – Gottverdammich! – ausreden lassen,« drang er, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf sie ein. »Da steht das Weib – das Weib, das mich betrogen und es mit 'nem andern gehalten!«

»Hör auf!« schrie sie entsetzt und taumelte rücklings. »Ich kann Dich nicht hören.«

»Das glaub' ich,« sagte er mit heiserem Lachen. »So sieht eine Ehebrecherin aus. – Dirne . . .

Sie griff in die Luft, als hätte sie eine Kugel getroffen, und war zu Boden geschlagen. Auf die Hände gestützt, mühselig und kaum ihrer Glieder mächtig, hob sie langsam den Kopf und sah ihn wie eine Sterbende an.

»Das – sagst – Du – mir . . .« hauchte sie schmerzlich; dann stieß sie einen markerschütternden Schrei aus.

Es war wie der Schrei eines Abgestürzten, dem der letzte Halt unter den Füßen gewichen.

»Mutter!« rief eine wimmernde Stimme.

Beide Fäustchen gegen den Mund gestopft, war Threschen in die Stube gedrungen.

Da schüttelte sich Barthes. Er hatte das Gefühl, da er das Kind sah, als sei ihm eine kalte Hand in den Nacken gefahren.

Ihr Kind – sein Kind . . .

»Mutter, was hast Du?«

Zwei Ärmchen hatten sich um ihren Nacken geschlungen.

»Mutter, lieb sein – nicht weinen . . .

»Weg da!« donnerte Barthes. »Hier haben Vater und Mutter zu reden.«

Die Ärmchen strafften sich fester.

»Gottverdomie! – mach, daß Du fort kommst – oder . . .«

Da schlug ein Köpfchen zurück, und das Grauen war in ihm.

Eine Kinderstimme durchgellte das Haus, als müßte sie das Unglück beschreien. Ein unheimliches Ding war auf die Kleine übergesprungen. Sie lief über den Hof und ins Freie hinaus – und drehte den Kopf um . . .

»Mutter! – Mutter!«

»Zackerzucker, Herr Neffe,« drückte sich Krispinus van Bommel in eine verlorne Ecke. Das hatte er nicht gedacht, daß seine Mission auf solche Weise endigen würde.

»Ach, was!« keuchte der Donnerjü, »was geht mich das Kind an?! – Mir ist was Richterliches in die Knochen gedrungen. Wissen will ich, woran ich bin. Ich muß doch reine Bahn schaffen zwischen uns beiden im Hause. Weib . . .

Er riß sie mit stummer Gewalt in die Höhe.

Sie war bleich wie der Tod geworden. Mechanisch strich sie eine gelöste Strähne aus dem Gesicht; dann ging sie der Tür zu.

»Wohin?«

»Leb' wohl.«

»Das sollte Dir passen: auf und davon gehn!«

Seine Faust war ein Schraubstock, der sich um ihr Handgelenk legte.

»Das sollte Dir passen . . . Später – ja, dann findet sich alles. Aber jetzt, in diesem Momang: Schicht wird gemacht und das mit allen Klarnetten. Bekenne – oder . . . Hier mit diesen zwei Fäusten . . .

Wie er aufstöhnte der Mensch! – Sein Stolz war um die Ohren geschlagen. Mit verbissener Wut konstruierte er sich die Dinge zusammen, reihte Glied an Glied und Schake an Schake. Er war mit seiner Gedankenkette fertig geworden.

»Du bist seine Geliebte gewesen,« stöhnte er sinnlos, »er hat Dich besessen – der Viechskerl!«

Ein Riß ging durch ihren gemarterten Körper.

»Du lügst!«

»Was . . .?!«

Er warf ihre Hand aus der seinen.

»Der Viechskerl . . .! – Aber in der Matsche und Patsche läßt ihn das Weib nicht. Natürlich! – Erfinderisch, brutal seid Ihr alle.«

Sie reckte sich. Alle Duldsamkeit hatte sie von sich geworfen.

»Und wenn es so wäre?!«

Sie lachte bitter und höhnisch auf.

»Ja, brutal ist das Weib,« fuhr sie fort, »das weiß ich, das hab' ich schon lange gewußt – und das seh' ich an der da – an Stina. Brutal bis zur bodenlosen Gemeinheit.«

Das saß wie ein Peitschenhieb. Er stieß einen tierischen Laut aus, und eine tierische Wildheit ergriff ihn.

»So helfe Dir Gott . . .

Er hatte die Fäuste erhoben.

»Wag' es!«

Furchtlos begegnete sie seinen funkelnden Augen. Ein Ruck ging durch ihre Gestalt. Ihr Oberkörper beugte sich rücklings; ihre Brust war straff und schwellend geworden.

»Brutal bis zur Niedertracht – das ist die da gewesen . . . Und Du . . .?!«

»Hier handelt es sich nicht um mich – Gottverdammich! – um mich nicht.«

»Aussprechen lassen, aussprechen lassen!« fiel sie herrisch dazwischen, »nun bin ich an die Reihe gekommen und mache Gebrauch davon, Dir jetzt den Spiegel, aber ohne Zerrbild, vor Augen zu bringen. Unterbrich mich nicht. Warte ab, bis ich zu Ende gekommen, und kannst Du dann noch mit freier Stirn den Stein vom Boden nehmen – gut, dann nimm ihn vom Boden und wirf ihn; ich will ihn ertragen. Du weißt: ohne eigene Existenzmittel, arm und bedürftig, im Taumel, einem halben Zwange gehorchend, bin ich damals an der wahren Liebe vorübergegangen, um mein Schicksal in toller Verblendung an das Deine zu ketten – und das ist unser Unglück gewesen. Du allein warst nicht schuldig – gewiß nicht, aber ich bin Dir nur Ware gewesen. Daß meine Seele nach dem Verlorenen aufschrie, daß ich ihn noch einmal begrüßen wollte und ein Begegnen herbeiführte – das war Sünde, Verfehlung, aber menschlich entschuldbar, denn Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß ich bei Dir die echte Liebe gefunden.«

»Und das steht alles in Deinem Katechismus geschrieben?«

»Nein – aber hier in meinem Herzen geschrieben – und das sage ich Dir: hätte ich damals, vor Jahren, mehr Achtung vor mir und dem Weibe gehabt – es wäre anders gekommen, anders gekommen, wenn nicht Threschen gewesen. Langsam aber sicher keuchte ich den Kalvarienberg hinan – Stufe für Stufe, und jetzt bin ich oben. Und Du? – Betrogen hast Du mich, schändlich betrogen, hier in diesem Hause betrogen, mit der ekelhaften Dirne betrogen – und jetzt hast Du noch das raffinierte Vergnügen, sie mir Tag um Tag in diesem Aufzug vor Augen zu führen. – Wenn das nicht . . .«

Sie tastete sich apathisch über Schläfen und Haare und meinte: »So, nun habe die Stirn, den Stein aufzuheben und ihn auf mich zu werfen. – Nicht ich, aber Du . . . Wenn einer die Ehe gebrochen: Du bist es!«

Hochaufgerichtet stand sie ihrem Mann gegenüber. Aleit war schön in ihrer wilden Erregung. Ihr frauenhafter Körper legte die Milde beiseite. Aus der Angeklagten war eine Klägerin geworden. Etwas Dämonisches wuchs aus ihrem Leibe heraus. Das legte die Tatze auf seine Schulter und drückte ihn nieder. Ein Rätsel stand vor ihm – aber das wußte er: sie war in diesem Augenblick stärker wie er selber geworden.

Er wollte ihr eine Antwort ins Gesicht schleudern und noch einmal die Klage erheben, allein ihm fehlten die Worte. Das quälende Schweigen dauerte Minuten. Der Augenblick im Leben zweier Menschen war da: zehn Jahre zusammengelebt, um jetzt auseinandergerissen zu werden.

Langsam, fast hündisch, wendete er die Blicke auf Aleit.

Etwas wie Scham, wie ein Empfinden, das nach Reue schmeckte, war in ihm. Es ließ sich nicht abschütteln, es krallte sich an ihn, es kroch in seine Seele hinein und brachte die niedergekämpften Gluten verhaltener Leidenschaft wieder ins Flackern. Mit gierigen Blicken glitt er an ihrem Körper herunter. – Roher Genußmensch, der er war, gewohnt seinen Leidenschaften keine beengenden Fesseln anzulegen, sah er ihren Reiz durch die Kleider hindurchleuchten. Während dieser Stunde war sie ihm fremd, aber um so begehrenswerter geworden. Es fröstelte ihn, und dann packte ihn wieder die Leidenschaft und trieb ihm das Blut stürmisch zur Schläfe. Hatte er sie denn nicht schon Jahre besessen? Mußte erst ein anderer kommen und ihn aufmerksam machen auf die berückenden Geheimnisse, die dem Leibe seines eigenen Weibes entströmten? Er phantasierte sich in einen Rausch hinein, in einen Rausch, der zur Begierde wurde, als er ihre stumme Ergebenheit und ihre stille Duldermiene gewahrte, als sie sich achtlos zurückbog, um ihre Haare zu ordnen, und er hierbei bemerkte, wie ihre Brust unter dem schmucklosen Kleide sich straffte. Etwas wie Wildgeruch war in seine Nase gedrungen. Sein stärkster Trieb, zugleich seine schwächste und verwundbarste Seite, das unbezähmbare Verlangen, sich an ihren herben Reizen betören zu wollen, erregte ihn mächtig. Sie war doch sein eigen, und nun wollte ein anderer kommen, ihn verdrängen und Besitz von ihr nehmen . . . Einfach zum Lachen! – Da konnte ja jeder vorsprechen, um dieses begehrenswerte Leben zu kosten. Ja, das Verlangen war in ihm und rüttelte ihn, wie der Sturm den Baum in der Frühlingsnacht rüttelt . . .

Beschämt trat er näher. Sein Wille war niedergebeugt; das Weib in ihr hatte triumphiert und war Sieger geblieben.

Kalt wie Stein, halb schuldig, halb schuldlos, aber noch ungebrochen in ihrer berückenden Schönheit, das Rätsel von eben, sah sie ihm starr in die Augen.

»Du . . .« keuchte er mit verhaltener Stimme.

»Rühr' mich nicht an, bevor Du nicht . . .«

»Gottverdammich . . .

Er wollte sich aufbäumen – aber wieder wuchs das Dämonische aus ihrem Leibe heraus, und die Tatze von eben . . . Scheu sondierten seine Blicke in ihrem ruhigen Antlitz.

»Und er hat Dich nicht besessen – er hat Dich nicht . . .

»Nein.«

»Und das kannst Du vor Deinem Herrgott beschwören?«

»So wahr mir Gott helfe.«

»Ah!«

Er vermied ihren Blick, ging ans Fenster und sah über den Hof in die Wiesen hinaus, wo die Baumkronen bereits im Haarrauch schwammen und größer und grotesker erschienen, als sie in Wirklichkeit waren. Graue Tücher legte der Abend über Himmel und Erde. Nur im Westen, weit jenseits des Deiches, stand noch eine düstere Röte, die wie eine Fackel lohte. Und diese Fackel brannte ihm in die Seele hinein.

Er wandte sich.

»Gut, daß Du rein bist . . .«

Seine Kraft war gebrochen. Auch über seine tierische Lust strich in diesem Augenblick eine lähmende Stumpfheit. Menschliches Fühlen und Wollen war in ihm rege geworden.

»Nachdem was soeben passiert ist – Aleit, ich bin im Unrecht gewesen – willst Du bleiben unter meinem Dach, unter den Sparren des Fingerhutshofes?«

Ein Frieren kroch über sie hin. Sie beugte sich, mußte sich beugen, denn sie wußte, sie war nicht schuldlos. Ihr haftete ein Makel an, der drückte sie nieder, und dieses Makels wegen wollte sie ihr Kreuz tragen.

»Aleit . . .

»Ja – um des Kindes wegen.«

»Und um meinetwillen . . .

»Auch um Deinetwillen.«

Da war ihr auch die letzte Spur von Sünde aus dem Herzen genommen, ihre Flügel aber waren gebrochen.

»Und Du . . .«

Barthes drehte sich zu Krispinus van Bommel und streckte die Faust aus.

»Wag's mir noch einer,« stöhnte er mit heiserer Stimme, »meinem Weib und mir an die Ehre zu kommen – Gottverdammich! – in der schwarzen Lake, am Leeloch, soll er verenden. Viechskerle alle miteinander!«

Aleit hatte schweigend das Zimmer verlassen.

»Freundchen! – Freundchen . . .!« krähte der Alte.

»Nichts mehr! – Und wer mir nicht Maul hält und weiter in der Sache herumrührt . . .«

Krachend schlug er sich auf die Brust.

»Ihr kennt mich alle – der mag sich beim Fingerhutshöfer bedanken.«

»Irren ist menschlich, Herr Neffe.«

Krispinus griff nach Hut und Stöckchen und drehte sich scheu aus der Tür.

Der Donnerjü begab sich ans Fenster.

Alles lag grau in grau da draußen.

Die Sonne war untergegangen.

 


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