Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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II Der Deichgräf

Der werdende Abend hatte den Wind aufgetan. Es war so ein recht steifer, ordentlicher Westwind geworden, der vom Vorland her über den Deich ging und das tiefgebräunte Gesicht eines hohen Mannes in den dreißiger Jahren anblies. Lässigen Schrittes und mit seinen Gedanken beschäftigt, strebte er der kleinen Stadt zu, die ihm schon geraume Zeit vor Augen gestanden. Erst vor wenigen Tagen von dem Gemeinderat und den Geschworenen als Deichgräf bestätigt, hatte er sich in seinem neuen Wirkungskreis umgesehen, hatte Schleusenwerke und die ihm unterstellten Dämme besichtigt, war bei einzelnen Landgemeinden vorgesprochen, um Einsicht in die pflichtigen Grundstücke, die Korporationsrollen und Reallasten zu nehmen, und stand nun im Begriff, heimwärts zu schlendern. Verschiedene Mißstände waren ihm während des Rundganges aufgefallen. Vieles ging ihm durch den Sinn, und er wußte schon jetzt, daß an mehreren Stellen tatkräftige Hebel angesetzt werden mußten, um erfolgreich Wandel zu schaffen. Mit seinen Bedenken hatte er bereits den Schöffen im benachbarten Wissel gegenüber nicht hinter dem Berge gehalten, war aber noch vor der Hand harten Köpfen begegnet, denn die vom Niederrhein haben's nicht eilig, sind schwerfällig im Denken und Handeln wie ihre Ackergäule, die breithufig und mit schellengeschmückten Kummetgeschirren durchs Land klingeln, eine Schwerfälligkeit, die besonders dann in die Erscheinung tritt, wenn es heißt, im allgemeinen Interesse einen Griff in den Beutel zu tun und die harten, blanken Taler auf den Tisch des Gemeindehauses zu legen. Allein das sollte schon werden; er, Gert Liffers, ließ sich nicht so ohne weiteres den Bauerndaumen auf seinen klaren Verstand drücken; er hielt sich Mannes genug, die Sonder-Atouts mit seinen eigenen Trümpfen überzukarten, ein Vorhaben, bei dem er allerdings nicht an den Kartenkönig, an den Donnerjü gedacht hatte, der drüben auf dem Fingerhutshof saß, dem bedeutenden Anwesen, dessen weitverzweigte Gebäulichkeiten mit den tiefhängenden Pfannen- und Strohdächern nunmehr weiter zur Linken in Sicht kamen.

Jetzt hielt der Deichgräf den Fuß an und sah über die Landschaft. Ein gesegnetes Stück Erde lag vor ihm, eine grenzenlose Fläche, deren grüne Halme sich sanft gegen den Abendhimmel bewegten. Es war ein immenser Plan, der, nur von einzelnen Gehöften durchsetzt, sich bis ins Unendliche hinzog. Scharfbegrenzte Linien liefen hindurch, querten sich wechselseitig und gaben der weiten Ebene das Aussehn eines gewaltigen Netzwerks, in dessen Maschen sich kreisrunde Wasser befanden, die wie aufgeschlagene, unergründliche Augen gen Himmel blinkten. Bis weit zum Horizont hin ließen sich die charakteristischen Linien verfolgen, die der des Landes Kundige als Deiche erkannte und die, nach bestimmten Gesetzen geführt, den Zweck hatten, das vornehmlich im Frühjahr zurückgestaute Rheinwasser zu bannen, oder es in weniger gefahrdrohender Weise ins Binnenland überströmen zu lassen. Und ein kräftiger Geruch nach Ringen und Arbeit, ein wohltuender Odem nach fruchtbaren Schollen, nach Schweiß und Brot und Vieh war mit dieser niederrheinischen Erde verbunden, die jetzt vor den Blicken des Deichgräfs sich streckte und da lag, als wäre flüssiges Sonnenfeuer über die unabsehbare Fläche gelaufen. Und der Deichgräf konnte nicht anders, er beugte sich nieder, griff eine Hand voll Humus vom Boden, zerbröckelte ihn zwischen den Fingern und führte die warmen, kräftigen Partikel nach aufwärts. Seine Nüstern öffneten sich. Gierig zog er den Duft ein. Ha, wie das wohl tat! – Ein Hauch von Heimatserde war um ihn; dann ließ er die einzelnen Krumen zu Boden fallen, wo sie achtlos zerstäubten.

Gert Liffers regte sich nicht von der Stelle. Er wurzelte fest, und träumerisch fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Er glaubte sich allein – und war doch nicht allein; er merkte es nicht, aber lautlos war die Erinnerung an seine Seite getreten. Sie sah ihn mit großen, sehnenden Blicken an, streckte die Hand aus und zeigte hierhin und dorthin. Und sie raunte ihm alte Geschichten ins Ohr, alte Geschichten, die so wehmütig klangen, und die ihm schon seine Mutter erzählt hatte, wenn sie an der Waschbütte stand, verloren ins Weite stierte, als wenn sie dort ein seliges Glück zu finden hoffte, das sie einstmals besessen. Und die Erinnerung bewegte die duftigen Gräser, weckte allerlei Stimmen im Erlengebüsch, erzeugte riesige Schatten, die mit langen Beinen über die Erde stelzten – und dann kam eine alte Frau mit grauen Haaren und stechenden Augen und ging an der Krücke. Das war die Sorge. Und sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn heimwärts. Aber was sollte er da? – Allerdings – da stand ein wackliges Bettchen; auch ein Tisch war vorhanden, ja, sogar in einer Ecke der erbärmlichen Stube ragte ein Ding auf, das mit einem Brotschrank eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Und um den Tisch piepsten und tanzten die Mäuse und machten allerlei Männchen. Aber bei Leibe nicht aus Lebenslust und zum Vergnügen! Es war lediglich Galgenhumor, der die viven Nagerschwänzchen noch lustiger machte und die Mäuseherzchen bewegte. Sie hatten ihr Bündel geschnürt und beschäftigten sich mit Ausziehgedanken, denn was sich im Brotschrank noch an Eßbarem vorfand, lohnte sich kaum der Mühe anzuschroten, geschweige denn hinunterzuknuspern, und endlich: die emsigen Tierchen waren barmherzig, wollten dem kleinen Gert die letzte Schnitte nicht nehmen, und so tanzten und piepsten sie denn hinaus auf die Straße, um anderwärts ihr Glück zu versuchen. Und Mutter Liffers sah ihnen nach und brachte die Schürze nach oben. Sie hörte schlurfende, mühsame Schritte; dann wurde die Klinke gedrückt – hüstelnd war jemand ins Zimmer gekommen. Das war die Alte von eben. Sie führte den kleinen Gert in die Stube, knöchelte auf den leeren Tisch und meinte: »Nu kann's wieder losgehn. Vorwärts!« Und Mutter Liffers war das Herz zum Zerspringen; sie sah sich um und um, nahm den kleinen Gert in die Arme und weinte bitterlich. – Und die Jahre vergingen. Ein kleines, unscheinbares Holzkreuz stand auf dem Friedhof da draußen. Die Inschrift war schon lange verwaschen . . . Die Erinnerung wandte sich und deutete auf den Fingerhutshof, hinter dessen Gebäulichkeiten die verschwommene Ferne einen violblauen Schimmer angenommen hatte. Inmitten desselben ragten die Türme von Rees auf. Ein silberlichtes Band kroch am tiefen Horizont hin. Es war der Rhein, der dort langsam vorbei schlich. Der Fingerhutshof lag im Abglanz der untergehenden Sonne. Lichte Reflexe standen in den Fensterscheiben und blitzten ins Land fort. Ein Wagen knarrte und holperte durch die Niederung und fuhr ins Gehöft ein.

»Das ist der Fingerhutshof,« sagte eine raunende Stimme.

Unwillkürlich zuckte der Deichgräf zusammen.

Was wollte die Stimme?

Er suchte seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, aber sie blieben, und die Stimme begann in weichen Tönen zu sprechen, sie drang auf ihn ein und war schließlich so mächtig geworden, daß er sich ihres zwingenden Einflusses kaum noch zu erwehren vermochte.

Die Vergangenheit wollte sich auftun . . .

»Ich habe genug gehört,« sagte der Deichgräf, stieß die Erinnerung zurück und ging seines Weges – und als er weiterging, als er in Höhe des Gehöftes gekommen, da saß ein kleines Mädchen an der Böschung des Deiches, still und in sich zusammengekauert, und hielt ein Bündel Wucherblumen im Schoß.

Die näherkommenden Schritte störten es auf. Verlegen ließ es die abgerupften Blumen zu Boden fallen.

Der Deichgräf wollte vorüber – da sah ihn das Kind an. Große Augen standen in dem feinen Gesichtchen. Die dunklen Haare waren auf der Mitte des Kopfes zu einem Knötchen vereinigt. Das kleine Mäulchen öffnete sich, die Hände versuchten unter die Schürze zu schlüpfen, aber Gert Liffers ergriff eine Patschhand und fragte: »Was machst Du hier, Kleine?«

»Da – Blümchen für Mutter.«

»Wie heißt Du?«

»Threschen.«

»Und weiter?«

Das wußte das Kind nicht, oder die Verlegenheit ließ es nicht sprechen. Es schlug die Augen zu Boden und steckte den Zeigefinger verschüchtert ins Mäulchen.

»Wo gehörst Du denn hin?«

»Dahin,« sagte das Mädchen und deutete rücklings. Gleichzeitig hob es das Köpfchen – und da war es dem Manne, als wenn dunkle Wolken zerrissen, als wenn Schleier sich höben, als wenn vergangene Tage ihn ansähen, traurig und in stummer Entsagung.

»Auf den Fingerhutshof?!« stöhnte der Deichgräf.

»Ja,« sagte die Kleine.

Gert hätte aufschreien mögen. Es kam über ihn, als müßte er sein verlorenes Glück, seine begrabenen Hoffnungen, seine einstigen Freuden und Leiden, sein Ein und sein Alles in diesem Kinde umarmen.

Er hob es zu sich empor. Preßte es an sich, und lange, lange ruhte sein Mund auf der Stirn des verschüchterten Mädchens.

»Aleit! – Aleit! – Aleit . . .!« klang es aus zerrissenem Herzen. Eine Träne war auf die Wange des Kindes gefallen.

Sanft ließ er es zu Boden gleiten.

Noch einmal sah er das Kind an – tief in die Augen; dann war er weitergegangen. Aber vor ihm ging eine hohe Gestalt, und der Wind wehte einen florigen Schleier gen Himmel, und als er genauer zusah, da war es das Weib, das er verloren hatte für immer.

Threschen hatte sich inzwischen wiedergefunden. Eilig grapste sie mit flinken Händchen die Wucherblumen zusammen, rutschte die steile Böschung herunter, und es währte nicht lange, da klapperten ihre blankgescheuerten Holzpantöffelchen auf ebener Erde. So schnell die hurtigen Beinchen es zu schaffen vermochten, ging es dem nahegelegenen Hof zu.

Gert hatte sich noch einmal gewendet. Mit traurigen Blicken folgte er dem eiligen Mädchen, von dem nur das Köpfchen mit dem braunen Flechtenkrönchen aus den hohen Grashalmen hervorsah. Aber das Geklapper der zierlichen Holzschuhe dauerte weiter, und dann klang ihm eine fröhliche Kinderstimme zu Ohren. Und also tönte es in den Abend hinaus:

»Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

»Helder op den Telder . . .« sagte der Deichgräf. Die Brust krampfte sich ihm bei diesen Worten zusammen. Das hatte er doch auch früher gesungen – mit ihr gesungen, als sie noch klein war, Holzschuhe trug und in einem kurzen Röckchen umherging. Aber das war schon lange gewesen – lange, lange . . . Und seine Augen füllten sich mit Tränen, er sah in den Abend hinaus, und seine Lippen wiederholten wieder und wieder:

»Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

und ob er wollte oder nicht: die Erinnerung ließ sich nicht verscheuchen. Sie war stärker wie er, sie war bei ihm, raunte ihm allerlei ins Ohr, und er bemerkte es nicht, daß die Schatten sich längten, daß so ein feuchter, kühler Hauch über die Wiesen dahinzog, und daß dahinten, wo der Deich eine scharfe Krümmung machte, ein eigentümlicher Mensch stand, der blaue Rauchwölkchen aus einer irdenen Pfeife in den Abend hinausblies und ihn schon lange beobachtet hatte.

Der langaufgeschossene Mensch mit den sonderbaren Gesten, dem kleinen Schädel auf den mächtigen Schultern, setzte sich jetzt in Bewegung. Über seine harten, eingetrockneten Züge lief ein heiterer Abglanz. Ja, Josias Spettmann konnte auch freudig gestimmt sein, und er war freudig gestimmt, denn der dort hinten, der so allein stand, den hatte er seit langen Jahren nicht mehr vor Augen bekommen – und er hatte ihn doch schon als Junge gekannt, hatte mit ihm Barsche geangelt und ihm die Strömung des Wassers erklärt, wenn die Stauflut kam und die mulmigen Eisschollen übereinanderknirschten und sich wechselseitig zerrieben. Und der kleine Gert war ein gelehriger Schüler gewesen, hatte den Kopf auf die Dammflanke gelegt, als wenn es dort etwas zu hören gäbe und dann plötzlich gerufen: »Ohm Kiwi, da rummelt's, da will das Qualmwasser ans Taglicht!«

»Qualmwasser?! – Unsinn! – Das sagen die Dämels!«

»Ohm Kiwi, was ist's denn?«

»Schwere Brett noch mal! – das ist das Herz des Deiches – das ist unruhig im Leibe geworden – das will 'raus – das will prophezeien.«

»Ohm Kiwi!«

»Na, was denn?«

»Da laufen die Ratten!«

»Die Ratten – mein Jüngsken?! – dann komm man; nu kann ich's auch nicht mehr halten: das will übers Land weg – das Wasser. Oha! was ich immer schon sagte . . .«

Und dann hatte er ihm eine Weidenflöte geschnipselt.

»Da flöt' mal; mußt Dich proper durchs Leben hindurchflöten. Ein Kerl mußt Du werden, so 'n richtiger Deichgräf. Kannst es schon machen, denn Du hast mehr Akki dazu, wie alle die Hammels zusammengenommen zwischen Niedermörmter und Wissel. Nu aber lauf' man nach Hause, grüß' Mutter und laß Dir 'ne Brotschnitte geben.« –

Und der kleine Junge war größer geworden, immer größer und größer, ließ, nachdem er seine Mutter begraben, die Scholle, wo er geboren, schleppte sich mit seinem Päckchen Sorgen und seinem Leid da draußen herum, hatte was prestiert in der Welt und war dann wiedergekommen. – Und nun stand er dahinten als Deichgräf, als ein Mann, den das Leben gerüttelt, der Schwielen in den Händen hatte, die er sich im Kampf ums Dasein erworben – und stierte und stierte . . . Und der Wind ging säuselnd über das Tief, und die Grasspitzen wellten sich im laulichen Hauch – fern drüben wurde eine Sense gedengelt. Ein Wetzen und Schleifen glitt über die endlose Fläche. Ein kräftiger Erdgeruch entströmte dem Vorland, die Kolke begannen seltsam zu leuchten. Im nahen Gehöft wieherte ein Pferd auf, eine Kuh brüllte . . . und dann wieder die angenehme, helle Kinderstimme von eben:

»Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es!«

Die Stille des Abends gab alles in kristallischer Reinheit wieder.

Der Deichgräf zuckte zusammen.

Da hielt es den Kiwi nicht länger,

»Buschur!« schrie er über den Deich fort.

»Gert . . .

»Kiwi . . .

Und da standen die beiden: der kräftige, blühende Mann mit dem gebräunten Gesicht und dem stolzen Bewußtsein im Herzen, das Leben noch formen zu können nach seinem Geschmack und wie ihm es beliebte – und der andere, der armselige Mensch, der Gottesnarr, durch dessen Gesichtsfeld traurige Schatten huschten, irre Sterne lichterten, als müßte das sein, als wäre das so immer gewesen; und sie hielten sich bei den Händen gefaßt und konnten zuerst die richtigen Worte nicht finden. Und dann kamen die Worte.

»Zehn Jahre . . .!« sagte der Kiwi. »Schwere Brett noch mal! – das hat Euch zusammengeritten da draußen – nobel geworden – Kurasch in den Knochen . . . Hahahaha! – es hat Euch gut gegangen, das seh' ich.«

»Stimmt schon,« meinte der Deichgräf. »Und Ihr – wie steht's denn bei Euch noch unter den Pfannen?«

»Noch immer bei Wege. Bastle an meinen Schälweiden 'rum, skandaliere mit Mutter, wenn die Schleie nicht beißen, höre, wie's rummelt im Deich – unsere Katze hat Junge gekriegt . . .« und er zählte an den Fingern herunter: »Oha! – zwei hat Barthes van Laak auf dem Fingerhutshof, zwei sind zu Hause, drei sind versoffen und liegen im Kalkflack, und es wäre alles noch zu mäntenieren gewesen, wenn nicht immer die Bibel . . .«

Ein häßliches Lachen schlug dem Deichgräf entgegen.

»Ja, Gert, wenn nicht das mit der Bibel . . .! – Und er mußte doch schwören – der Schwarzrock. Aber er tat's nicht – tat's nicht, und er hat mich auch für 'nen Narren gehalten, und wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . .«

»Ja, ja,« suchte Gert Liffers einzulenken, »das ist aber schon lange gewesen.«

»Was – schon lange gewesen?! – Erst gestern, mein Junge. – Aber die da hinten über den Berg weg, die lassen keinen Propheten nicht gelten. Und unsere Katze hat Junge gekriegt – aber ich sage Euch, Deichgräf,« und seine Stimme nahm einen prophetischen Ton an, »es wird Thyro und Sidon erträglicher ergehen am Tag des Gerichtes denn jenen, denn sie haben mir 'nen zölligen Knüppel zwischen die Beine geschmissen – und der Prediger hat nicht auf die Bibel geschworen – und ich mußte mit Mutter von unserm Acker herunter. Aber, Gert, das ist gut so gewesen, denn hier, mang den Katholischen, estimieren sie noch so 'nen alten Propheten. Und die jungen Katzen, die im Kalkflack liegen, mach' ich wieder lebendig, und die mit der Blässe kriegst Du denn, mein Junge. – Oha! – und was ich gesagt hab', brauchte ich nicht herunterzufressen, denn ich habe gesagt: Gert Liffers wird Deichgräf. Na, und bist Du nicht Deichgräf geworden?!«

»Ich danke Dir, Kiwi.«

»Nichts zu danken, mein Junge. Aber Freundschaft – die will ich.«

»Freundschaft?! – die hast Du,« lachte der Deichgräf und hielt ihm die Hand hin.

Über die kantigen Züge des Ärmsten lief ein freudiges Grinsen.

»Na, denn . . .« und er schlug kräftig in die dargebotene Hand ein. »Oha! – wie das gut tut, und da wir nu Freundschaft haben, darf ich auch wohl sprechen so frisch von der Leber herunter, denn die toten Katzen schenieren nicht weiter – und wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . . Aber das ist nu schon lange gewesen – und da muß ich doch sagen: Deichgräf, paß Achtung – hier stimmt's nicht.«

Mit einer grotesken Bewegung deutete der Kiwi just auf die Stelle, wo sie Fuß gefaßt hatten.

»Hier rummelt was unten! – Hörst Du's nicht, Deichgräf?«

»Ich verstehe so recht nicht.«

»Nicht?!« machte der Kiwi, »aber das räsonniert schon, so lang ich's besinnen kann in meinem dämlichen Schädel. Hier sind die pursten Hammels vergraben.«

»Ja, so,« meinte Gert Liffers, »von wegen des geringen Vorlands und der Führung des Deiches. Das eckt ja – und deshalb bin ich schon bei der Gemeinde vorstellig geworden. Hier muß der Spaten 'ran und abgewallt werden.«

»Brav so,« freute sich der Kiwi. »Paß Achtung! – wenn hier nichts kunträr steht, kein Flügeldeich herkommt – beim nächsten Hochwasser biegt das und baucht das, und denn adjüs, Barthes van Laak; dann kriegst Du das Maul voll, dann schreit das, und brüllt das: Wasser – Wasser – Wasser!«

»Stimmt schon,« sagte der Deichgräf, »und ich wundere mich, daß schon so lange in dieser gottssträflichen Weise . . .«

»Bauern,« grinste der Kiwi, »niederrheinische Bauern . . .! – Hartköppe – Sturköppe . . .! – Das geht so lange, wie's gut geht. – Aber die Blässe, die schwarze Katze mit dem weißen Stern auf der Schnauze, ist wieder lebendig geworden, und da haben die Sturköppe Einsehn bekommen, und Du bist Deichgräf geworden – und nu wird die Sache schon flutschen, denn ich und die Bibel . . . Deichgräf, paß Achtung!«

»Darauf verlaßt Euch,« versetzte Gert Liffers und schickte sich an, weiter zu gehen.

»Halt!« sagte der Kiwi; in seinen wasserblauen Augen begann es seltsam zu leuchten,

»Was soll's noch?«

»Sieh' mal,« meinte der Alte und tastete nach der Hand des vor ihm stehenden Mannes. »Du bist mal so 'n ganz kleiner Junge gewesen – und Deine Mutter hatte nicht so viel wie das Schwarze vom Nagel – und Du hast gehungert, gehungert, gehungert. Und dann ist da so 'n ganz kleines Mädchen gekommen, so 'n Kiekindiewelt – und hatte Holzklumpen an und schwarzbraune Haare im Nacken . . . Und Du hast mit mir Ratten gefangen, Ratten und Mäuse – und wir haben Barsche geangelt – und Du sahst, wie die Kiebitze flogen – und Du hast gehört, wie's in den Deichen kloppte und kloppte . . . Und dann bist Du größer geworden – und das Mädchen ist auch größer geworden – und wir haben Freundschaft geschlossen – und Du hast mich für keinen Narren gehalten wie der schwarze Prediger in Neu-Luisendorf, denn wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . . Oha! – und das ist angekreidet, angekreidet für immer. Und darum . . .«

Der Alte reckte sich auf. Der kleine Kopf mit den glutenden Augen hob sich auf den mächtigen Schultern. Der überlange Körper schien in den Abendhimmel zu wachsen.

Er stand regungslos.

Jetzt streckte er die rechte Hand über die Landschaft.

»Deichgräf, was liegt da?«

»Der Fingerhutshof.«

»Richtig. – Wer wohnt da?«

»Barthes van Laak«

»Und wen hat er gefreit und geheiratet?«

»Die Aleit.«

»Richtig,« sagte der Kiwi, und seine Stimme nahm einen sonderbaren, fast drohenden Ton an: »Und ich sage Dir, Deichgräf«, und wieder deutete er auf das stille Gehöft hin, »das dürft Ihr nicht sehn, da müßt Ihr immer mit blinden Augen vorüber; der Fingerhutshof ist für Euch nicht da, der ist tot für Euch mit allem, was drin ist.«

»Kiwi . . .

Gert Liffers fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Tot für Euch!«

»Der da?!«

Der Deichgräf wußte nicht mehr, was er fragte.

»Ja,« sagte der Kiwi. »Streckt Ihr die Hand nach dem da – und ihr . . . Der Donnerjü hat's geschworen: Gert Liffers ist nu wiedergekommen, hat er gesagt, aber versucht er's – streckt er die Hand aus . . . Oha! – 'ne Bouteille mit Rotspon schlag ich ihm auf seinem Deichgräfenschädel zusammen. Und was Barthes van Laak sagt . . .«

»Kommt,« meinte Gert Liffers.

Die beiden Männer gingen zusammen. Sie sprachen nicht weiter. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Dämmerungen krochen über das Land fort. Die Fernen hatten eine hyazinthblaue Tönung angenommen. Der Kalkflack, der jetzt so friedlich zur Seite des bauchigen Dammes vorüberflutete, gurgelte in weichen Lauten. Wasserblasen stiegen auf und zerplatzten an der ruhigen Oberfläche. Im Schilf war ein Flüstern und Säuseln. Hin und wieder wurde eine Dommel lebendig. In den nahen Erlenbeständen zwitscherte ein verschlafener Vogel. Das Dengeln hatte aufgehört. Vereinzelte Schnitter gingen nach Hause. Sie hielten die blanken Sensen geachselt. Das ersterbende Licht des Abends ruhte auf den blitzenden Schneiden.

An der Bunten Schleuse trennte sich Gert Liffers vom Kiwi.

»Auf Freundschaft,« sagte der Alte.

»Auf Freundschaft.«

Der Deichgräf wandte sich der kleinen Stadt zu.

Nach einer halben Wegestunde hatte er seine Wohnung erreicht. Nicht weit von dem unscheinbaren Hause standen breitgeästete Linden. Ein warmer Lindenblütenduft kam ihm entgegen. Gert Liffers hatte sich bei der Laken-Sophie eingetan.

Als er das Haus betreten wollte, stand die hagere Person auf der Schwelle. Sie war ganz in Schwarz gekleidet; ein großes, schwerkarätiges Goldkreuz trug sie auf der Brust.

Sie machte eine tiefe Verbeugung.

»Moijen Abend, Herr Deichgräf.«

»Guten Abend.«

Gert Liffers war auf sein Zimmer gegangen.

Bis spät in die Nacht hinein brannte die Lampe auf dem Tisch des einsamen Mannes.

 


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