Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XXIV Bibel

Es war anderen Tages.

Ein feuchter, duftiger Dunst lag über Wasser und Wiesen. Lauwarme Luft zitterte im weiten Bereich, glitt über die Gräser und faltete den Pfriemenschopf der alten Weide, die beim engbrüstigen Häuschen des Deichvogels stand, sacht auseinander.

Die Sonne stand schon tief. Aus der Ferne kam jenes unsagbare Etwas gegangen, das an frühen Sommerabenden der langsamen Dämmerung vorausschwebt.

Jenseits der neuen Deichanlage, deren Konturen sich durch die frischgeworfene Erde kenntlich machten, wogten die Roggenfelder im Wind. Es war so, als wenn ein stiller Geist durch das heranreifende Getreide ginge und mit liebevoller Hand das unendliche Meer der Halme bewegte. Weiter zur Rechten, über das Totenwasser fort, legten vereinzelte Sensen das Gras um. Ihr eigentümliches Singen klang so deutlich herüber, als wenn sie in unmittelbarer Nähe ihre Arbeit besorgten. Es erinnerte an ein weltfremdes Vogelgezwitscher, das kein Aufhören hatte, die Sinne benahm und sie einschläfern wollte. –

Josias Spettmann stand an diesem Abend hemdärmelig vor der Tür seines kleinen Anwesens und sah in das Licht der untergehenden Sonne. Eine dumpfe Ahnung dämmerte schon seit Wochen in ihm auf. Stundenlang konnte er vor sich hin brüten, unverständliche Worte murmeln und dann wieder auflachen wie ein Kind, dem irgend ein nichtiges Ding, ein Garnichts in die Hand gedrückt wurde. Eine stete Unruhe haftete mehr denn früher seinem Wesen an; dabei hatte er das unbestimmte Gefühl, als wenn seine quälerische Angst Gert Liffers beträfe. Eine verzehrende Sehnsucht ergriff ihn. Er weckte die alte Zeit aus dem Schlaf, grapste darin herum, ohne die richtige Stimmung wieder finden zu können, er streckte die Hand aus, um an dem toten Glück seines armen Freundes zu rütteln, von dem er wußte, daß er es doch nicht mehr zu beleben vermochte – und so war das schon viele Wochen gegangen, in Erwartung von etwas Unheimlichem und einem nahenden Unglück. Und so auch heute. Er stand auf Lauer und wartete auf die kommenden Dinge.

Seitwärts des Fingerhutshofes blenkerte der kreisrunde Spiegel des Totenwassers auf.

Josias wandte den Kopf- Von dorther kam das durchdringende Zwitschern. »Oha!« sagte der Kiwi.

Seine eisgrauen Haare wehten im Wind. Er hörte auf das Singen der Sense und das nadelscharfe Wetzen des Dengeleisens. Es war ein alltägliches Klingen, aber heute erregte es ihn. Er horchte lange hinaus. Mit jeder Sekunde wuchs seine Unruhe.

»Mutter!« rief er plötzlich zurück, »da kommt einer – der will was.«

»Wo?« fragte das Weib und sah zum Fenster hinaus.

»Übern Deich weg – da haut einer mit 'nem blanken Messer über die Erde.«

»Was da so dengelt?«

»Ja.«

»Das ist Ignaz; der mäht die Priesterkoppel herunter.«

»Mutter, das ist kein gewöhnliches Mähen!«

»Und wenn ich Dir sage . . .«

»Mutter, das ist kein gewöhnliches Mähen!«

»Menschenkind!« drohte die Alte, »kommst Du mir wieder mit der verfluchten Geschichte?!«

»Weib!« schrie Josias, »ich kenne doch Ignaz sein Schneiden. Das ist 'ne andere Sense; die singt akkurat wie 'n Totenvogel – hörst Du: Kumit, kumit! – und haut Menschen von der Koppel herunter.«

»Schafskopp!«

Er war wieder allein. Das regelmäßige Zischen verstummte. Die Arbeiter hatten Feierabend gemacht.

»Und es ist doch nicht Ignaz seine Sense gewesen,« sagte der Kiwi, setzte sich auf die Bank, die neben der Tür stand, und spähte den schmalen Pfad entlang, der von der kleinen Stadt her hinunter zum Fingerhutshof führte.

Die Geräusche, die bislang auf und über der Erde gewesen, schliefen ein. Die Stille des Abends machte sich geltend; nur noch verlorenes Hundegebell aus fernen Gehöften, ein näselndes Schwirren, das, ängstlich vor den lauten Stimmen des Tages, nunmehr deutlicher wurde . . . Die Erde streckte sich aus und ruhte; sie war arbeitsmüde geworden.

Auf dem schmalen Pfad, den Josias unter Beobachtung hatte, kam jemand gegangen. Bei seinem Näherkommen blitzte eine Montur auf, die ein kleines Männchen umschloß, das aber tapfer ausschritt und in Richtung des Fingerhutshofes marschierte.

»Zapperlot!« machte der Kiwi, »das ist ja der Herr Polizeidiener Weber.«

Unwillkürlich bemächtigte sich seiner wieder das unerklärliche Angstgefühl. Es züngelte um ihn, wie eine Flamme um ein trockenes Holzscheit.

Der Polizeidiener war näher gekommen und wollte vorüber.

»Buschur, Herr Weber,« sagte der Kiwi, erhob sich und ging ihm etliche Schritte entgegen. »Noch in Amtsgeschäften, Herr Weber?«

»Leider,« konstatierte der karmoisinrote Kragen, »und wenn Sie mal wieder Aale oder Schleie angeln, dann denken Sie, bitte, an so einen geplagten Menschen wie ich bin.«

»Gerne!« sagte der Kiwi, »soll mir 'ne Freude sein, denn Sie haben mich nie für einen Narren gehalten – aber das schwarze Luder dahinten . . .. und wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . .«

»Herr Spettmann, es gibt dämliche Menschen! – Besorgen Sie man die Aale und Schleie, und die preußische Justiz wird sich erkenntlich beweisen. – Auf später!«

»'ne Frage, Herr Weber.«

»Bitte.«

»Hat wer was pexiert?«

»Sie nicht – aber die da!« sagte der Herr Polizeidiener Weber, griff in die Brusttasche und brachte ein versiegeltes Schriftstück zum Vorschein. »Von Amts wegen; die Sache ist schon durchgedrippelt: Beweis ist anzutreten – Kind – Erbschaft – Zeugenbank – Hand in die Höhe – schwören . . . 'ne Heidengeschichte!«

»Die Ärmste . . .

»Dasselbe mit ihm. Hat's auch schon bekommen – das Schriftstück. Wie 'ne Kalkwand ist er geworden, als er's gelesen. Auch nach Kleve – Hand in die Höhe und schwören . . . Konnte mir leid tun, denn er ist doch sonst ein Mann mit Kurasch in den Knochen – und dann so wie Billardkreide zu werden . . .«

»Ja – wenn die Ratten kommen! – Herr Jeses, Herr Jeses, Herr Jeses . . .!« lamentierte Josias und warf den Kopf in den Nacken. »Das war's ja, warum ich gebangt hab'. Nach Kleve – Hand in die Höhe – und die hungrigen Ratten . . .

»Was für Ratten?« fragte Herr Weber.

»Knippscheer, van Bommel und der unbefleckte Empfänger; dann die weiblichen Ratten: die Lange und die gierige Blonde; dann die dicke, schwarze, kirchliche Ratte mit dem Barett auf dem Kopfe . . . Deichgräf, das war's ja – das mußte so kommen! – Hab' ich nicht immer gesagt: Da mußt Du mit toten Augen vorüber. Aber bist Du mit toten Augen vorüber gegangen? – Jetzt kommt's in die Schwurhand gefahren. – Herr Jeses – die Ratten . . .

»Dumme Geschichte – das!« sagte der strenge Mann des Gesetzes, »aber er kann sich ja 'rausschwören aus der Rattengesellschaft – und was sie ist: sie kann ja dasselbige machen.«

»Wenn sie's aber nicht können, Herr Weber!« meinte Josias, reckte sich in seinen Holzschuhen auf und stierte unheimlich mit seinen lichtblauen Augen über das dämmrige Land fort, »wenn sie Hals geben müssen . . .

«Ja – denn,« zuckte der Herr Polizeidiener die Achselstücke und knabberte nachdenklich an seinem Sergeantenschnurrbart, »dann ist eben den armen Leutchen nicht mehr zu helfen. Ich bin zwar ein höherer Beamter, so zu sagen 'ne Instanz, und ich tät' es ja gerne – aber die Ladung liegt vor, der Herr Bürgermeister, das hohe Gericht und der preußische Adler stehen dahinter, und die gehen über die höchsten Instanzen. Also denken Sie an die fetten Aale und Schleien, Herr Spettmann. Zur gefälligen Notiz: ich bin jetzt zu Schreinermeister Pollmann in' der Grabenstraße verzogen . . . Auf später!«

»Adjüs,« sagte der Kiwi.

Mit blödem Gesicht sah er ihm nach und verfolgte ihn, bis er die Einfahrt des Fingerhutshofes erreicht hatte.

»Erst die männlichen und weiblichen Ratten,« mahlte er die Worte langsam zwischen den Zähnen, »dann die Fette mit dem schwarzen Barett auf dem Kopfe und jetzt noch Herr Weber. Auch 'ne Ratte, aber die frißt nur Schleie und Aale; die andern aber fressen menschliche Seelen. Doch ich sage Euch: Es wird Thyro und Sidon erträglicher ergehen am Tag des Gerichtes denn Euch. Und Du, Kapernaum . . .«

»Aus!« rief die Alte aus dem wieder geöffneten Fenster.

»Schön,« sagte Josias. Mit leisem Geklapper, den schmalen Kopf zwischen die Schultern gezogen, ging er dem Haus zu, taumelte in den Flur und von hier in die Küche.

»Mutter, sie prozessieren gegen die beiden.«

»Wer sagt das?« drehte sich neugierig das Weib um.

»Herr Weber.«

»So?! – und das von wegen der Erbschaft?«

»Ja – von wegen der Erbschaft.«

»Da soll aber ein Kind doch noch kommen?«

»Mutter, das ist es ja grade. Unehrlich wollen sie's schwören lassen.«

»Und das sind christkatholische Menschen?!«

»Katholische – ja, aber keine Christen,« sagte Josias dumpf vor sich hin, »und es ist doch nicht Ignaz seine Sense gewesen. Ne, Mutter, die schneidet ganz anders.«

Er war ans Fenster getreten und sah, wie der dunstige Sommerabend sich langsam in die Dämmerung und dann in das Schummerige der kommenden Nacht hineintrödelte. Er beobachtete noch, wie der Polizeidiener Weber vom Gehöft zurückkehrte, durch die Wiesenschwaden ging und bei der Bunten Schleuse untertauchte. Lautloses Schweigen ringsum! Am Fingerhutshof hellte ein Fenster auf. Kränklich und mit einem fast ängstlichen Leuchten blinzelte es durch die massigen Baumkronen, die in der Luft wie stockige Bälle hingen und sich leise bewegten.

Josias Spettmann mußte an Allerseelen denken, an die schwächlichen Lichtchen, die auf den Gräbern waren und durch die Lebensbäume geisterten, als seien sie die Seelen der abgestorbenen Menschen.

Mit der Hand fuhr er sich über die Stirne.

»Oha!« sagte der Kiwi. –

Zwei Tage vergingen; am Abend des dritten konnte Josias seiner Angst nicht mehr Herr werden. Schwer und regnerisch hing es in der Luft. Es war ungewöhnlich früh dunkel geworden. Auch nicht der geringste Sternenflimmer zeigte sich zwischen den hängenden Wolken. Ein schwüler Brodem, der Atem der befruchteten Erde, entströmte den Schollen. Fern über Wissel zwinkerte ab und zu ein gespenstisches Auge.

Es hielt Josias nicht mehr zwischen den Pfählen, Er mußte hinaus. Barhaupt ging er durch die umdüsterten Wiesen. Früher war ihm der Deichgräf fast täglich begegnet – jetzt nicht mehr. Er hoffte noch immer, daß es sich ändern würde – aber es änderte sich nicht. Den Fingerhutshof hingegen besuchte Gert Liffers regelmäßig und scheute nicht mehr das Gerede der Menschen. Er hatte den Kampf offen aufgenommen; an der kleinen Kat aber, wo er sonst so häufig angepocht hatte, ging er vorüber. Es konnte kein Zweifel mehr sein: er mied ihn absichtlich – und dennoch suchte ihn Josias.

Und das tat er auch heute. Er ging in die Irre, und seine Angst wurde größer und größer. Planlos schweifte er über die dunstigen Flächen, ging an den Kolken vorbei und sah in den grauen Spiegel des Totenwassers hinein, in welchem die Widerscheine des fernen Wetterleuchtens sich fingen. Josias hatte furchtbare Bilder und wähnte im Wegekreuz das Kruzifix zu sehen, vor welchem der Deichgräf die Schwurhand aufheben müßte. Drohend stand es jenseits des Wassers und wuchs in den Himmel hinein. Das packte ihn mit Fieberschauern. Josias stieß einen heulenden Ton aus.

Das Kruzifix rückte näher – die mächtigen Weidenstümpfe wurden zu Richtern – das bleierne Wasser streckte sich als Anklagebank – und die Stimmen, die in der Tiefe wohnten . . .

»Deichgräf,« schrie er mit glutenden Blicken, »der Tag des Gerichtes will kommen! – Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan, und der Tauben Ohren werden geöffnet werden . . .

Josias fürchtete sich vor seinen eigenen Worten. Er drehte sich um und torkelte heimwärts.

Sein Weib schälte Kartoffeln für den andern Tag, als er mit verwehtem Geist und verwehten Haaren über die Schwelle stolperte.

Die wackelige, heisere Standuhr, mit den krapproten Blumen auf dem Zifferblatt, schlug neun, als er eintrat.

»Mutter,« lallte er mit ängstlicher Zunge, »heute ist 'ne ähnliche Nacht wie damals vor Jahren.«

»Was für 'ne Nacht denn?«

»Na, damals, wie der Schnee unter den Füßen wie Feldmäuse piepste – wie ich hinaus mußte – mit der Bibel hinaus mußte, um dem Prediger von Neu-Luisendorf . . .«

»Ach, was!« unterbrach ihn die Alte, »damals war Winterszeit und jetzt ist schon der Roggen milchreif geworden. Du hast wieder Deinen gottssträflichen Zustand.«

»So?! – und kein Schnee liegt da draußen?«

»Mäht man im Winter? – Du hast ja die Sense gehört.«

»Richtig, Mutter; ja, das mit der Sense – und es ist doch 'ne ähnliche Nacht wie damals . . . denn geschrieben steht: Komm, laß uns buhlen bis an den Morgen, und laß uns der Liebe pflegen; denn der Mann ist nicht daheim, er ist einen fernen Weg gezogen.«

»Menschenkind, was soll das nur heißen?! – Was willst Du?«

Drohend und mit geballten Fäusten war sie näher getreten.

»Weib!« brüllte Josias, »störe nicht mein Prophetentum und meinen heiligen Zustand, Es ist ähnlich wie damals – und doch so ganz anders, wie es mit dem Neu-Luisendorfer Pfaffen gewesen.«

Widerstandslos hatte sich das Weib in einen Sessel geworfen und die Hände vor die Augen geschlagen.

»Herrgott, das alte Lamento! – Das alte Lamento . . .

»Oha!« machte der Kiwi. »Mutter, die Geschichte von damals . . .«

»Josias, was soll's denn?!«

»Damals sollte einer schwören und wollte nicht schwören . . . Mutter, und übermorgen: ich glaube, da will einer schwören. – Der Mund des Unglücks hat sich aufgetan, und ich fühle die Kraft und das Müssen in mir, ihm das Maul zu verstopfen. Ich kann mir nicht helfen: ich muß mit der Bibel . . .«

Sein Geist wurde so klar, so klar wie er noch niemals gewesen. Der Straminrahmen, der sonst vor seinen Blicken lag, verflüchtigte sich. Erhobenen Hauptes ging er ins Nebenzimmer. Sprachlos sah ihm sein Weib nach.

Gleich darauf kam er wieder – im Sonntagsrock, die Bibel unterm Arm und die seidene Schirmmütze im Nacken. Ohne ein Wort weiter zu sagen, ging er ins Freie. Eine große Mission im Herzen schritt er der Stadt zu.

Es war noch dunkler denn vorhin geworden. Nur undeutlich kroch der Weg vor ihm hin. Rechts und links stand Erlengestrüpp. Es knackte darin, als wenn die alten Strünke Zwiesprache hielten. Jetzt kam freies Gelände – Wiesen und Kleeäcker; tief unten standen die Lichter der kleinen Stadt wie rote Pünktchen, die irgend eine zitterige Hand unregelmäßig ausgestreut hatte. Josias war eine kleine Wegestunde gegangen. Bisher hörte man seine Schritte in den Holzschuhen kaum. Jetzt klapperten sie in regelmäßigen Intervallen über das holprige Pflaster.

Das trübe Licht der Straßenlaternen fiel ihm ins Gesicht. Josias sah merkwürdig, fast unheimlich aus, wie er so in seinem langschößigen Sonntagsrock, mit der Bibel unterm Arm und dem monotonen Holzschuhgerappel einherging. In seiner fast übermenschlichen Größe lenkte er die Blicke der Leute auf sich, die noch vor den Türschwellen saßen und sein spätes Kommen sonderbar fanden.

»Da kommt der Kiwi,« sagten Männer und Frauen. »Buschur, Kiwi!«

»Merci!« nickte Josias, machte eine große Handbewegung und klapperte weiter.

Auf der Grabenstraße, dicht beim Kloster der barmherzigen Frauen, begegnete ihm Petrus Nagel. Er vertrat sich noch so'n bißchen vor dem Zubettgehn.

»Guten Abend, Josias!«

»Geb's zurück,« sagte der Kiwi, »aber wissen Sie, Nagel, was übermorgen passiert?«

»Daß ich nicht wüßte.«

»Die beiden müssen nach Kleve – vor den ewigen Richter. Beten Sie, Nagel! – Beten Sie, Nagel!«

Josias war weiter gegangen.

Noch fünfzig Schritte – und er trat in die Beleuchtung einer Straßenlaterne, die das Häuschen mit der blitzblauen Tür unter ihr dunstiges Licht nahm. Knippscheer und Frau plauderten noch mit den Nachbarsleuten. Sie erklärten ihnen die Einzelheiten und die eventuellen Aussichten des Nachlaßprozesses. Jetzt hörten sie den hölzernen Gang des einsamen Menschen.

»Was will der noch?« fragte die Lange.

»Hat seine Heimlichkeiten,« meinte Herr Knippscheer.

»So'n lutherscher Troddel . . .!« höhnte die Frau Notariatssekretärin. Sie war unduldsam und konnte keinen andersgläubigen Menschen vertragen.

Die andern lachten, blieben breitbeinig sitzen und grinsten dem Ärmsten ins Gesicht. Josias blieb stehen.

»Du sollst Deinen Nächsten lieben,« sagte er schmerzlich, »und vor einem grauen Haupte sollst Du aufstehen; denn Du sollst Dich fürchten vor Deinem Gott, denn ich bin der Herr. – Aber was so'n Rattengezücht ist . . .«

Die Angeredeten vergaßen das Lachen und sahen verdutzt dem grotesken Mann nach, der seinem noch groteskeren Schatten nachstelzte, als sei er gewillt, ihm den Rang abzulaufen. Erst bei der nächsten Laterne gelang's ihm.

Das rhythmische Holzschuhgeräusch ging die Grabenstraße entlang, querte den Großen Markt und bog in ein schmales Seitengäßchen ein, um bei einem niedrigen Haus, das einem Krämer gehörte und dicht an die Sankt Nikolaikirche sich schmiegte, zu verstummen.

Im Fenster rechts und zur ebenen Erde war Licht.

Hier wohnte der Deichgräf.

Josias klopfte mit spitzem Knöchel gegen die Scheiben.

»Wer ist da?«

»Ich – Josias! – Deichgräf, mach auf!«

Und ihm wurde aufgemacht. Mit zerrissener Seele trat ihm Gert Liffers entgegen.

Alsbald standen sich die beiden Männer in einem bescheidenen Gemach gegenüber, wo eine Arbeitslampe auf dem Tisch brannte, die, mit einem grünen Schirm bedeckt, nur eine spärliche Helle ausstrahlen konnte.

»So spät noch?« fragte Gert Liffers.

»Ja.«

»Und was wollt Ihr, Josias?«

Er mochte es sich nicht eingestehen, aber beim Anblick des Alten, wie er so stand, wie er ihn mit den lichtblauen Augen ansah und die Bibel mit seinen knochigen Händen gefaßt hielt, gefror ihm das Blut in den Adern. Eine wilde, schmerzliche Saite begann in seinem Innern zu tönen, und sie weckte eine grausame Schärfe des Denkvermögens, die ihn zur Verzweiflung brachte. Er sah, was kommen würde, und erschauerte vor dem furchtbaren Ernst der gegenwärtigen Stunde.

»Josias,« sagte er mit blutleeren Lippen, »warum seid Ihr so spät gekommen?«

»Oha!« stöhnte der Kiwi. »Deichgräf, Du bist mal so'n ganz kleiner Junge gewesen – und hast gehungert, gehungert, gehungert . . . Und da ist auch so'n kleines Mädchen gewesen mit Holzschuhen an den Füßen und Zöpfchen im Nacken . . . Und Ihr zwei beide seid immer größer geworden, immer größer und größer . . . Und meine Katzen sind versoffen im Kalkflack, und es wäre alles noch gut geworden, wenn nicht das mit der Bibel . . . Aber das Weib hat 'nen andern genommen, und geschrieben steht: Wer die Ehe bricht mit jemandes Weib, der soll des Todes sterben.«

»Mensch!« fuhr Gert Liffers auf, »Du willst also sagen . . .«

»Nichts will ich sagen, denn wer zu seinem Bruder Du Narr sagt . . .«

»Was soll's denn?! – Josias, was wollt Ihr?!«

»Du bist geladen?« fragte der Kiwi mit entsetzlicher Ruhe.

»Ja.«

»Und Frau Aleit van Laak?«

»Auch geladen.«

»Und wann?«

»Übermorgen um acht.«

»In Kleve?«

»In Kleve.«

»Und Du willst sie heiraten, Deichgräf?«

»Ja – sobald es mir das Gesetz erlaubt.«

»Deichgräf . . .!« schrie der hagere Mensch. Seine Stimme dröhnte. Und seine Gestalt wuchs empor; nichts Irres spielte in seinen Augen – nichts Krankhaftes. Der Mann ging über sich fort, er sprach sich selber Hohn – er war gewaltig geworden.

Er tastete nach Gert's Hand und ergriff sie.

»Deichgräf, was hast Du vor?!«

»Ich?«

»Ja – Du! – Übermorgen ist für Dich und sie der Tag des Gerichtes. Ich weiß nichts; keiner weiß was. Niemand hat gesehen, was zwischen Euch passiert ist – damals, als das Wasser kam und das Herz des Deiches nicht mehr wollte, als es kapott ging, kapott ging! Aber einer weiß es. Kannst Du vor diesem bestehn, kannst Du dem in die Augen kucken und sagen: So wahr mir Gott helfe! – gut, dann geh übermorgen mit ihr nach Kleve und schwöre. – Kannst Du es aber nicht . . .«

Der Kiwi machte eine bedrohliche Pause.

Gert wollte antworten, eine Entgegnung stammeln, aber kein Laut drang von seinen verzerrten Lippen. Einen Moment blieb er bewegungslos stehen, dann stieß er einen kaum hörbaren, heiseren Laut aus, schlug sich mit der Faust vor die Stirne und knirschte: »Großer Gott! – wenn es so käme . . . Josias . . .

Der Augenblick ersparte ihm nichts; er mußte sich halten, sonst hätte ihn die Stunde zu Boden geworfen.

Aber der Kiwi reckte sich auf, immer höher und höher. Die Mütze war ihm vom Kopfe gefallen. Das gedämpfte Lampenlicht glitt über die spärlichen Haare. Etwas Heiliges legte sich um den Mann, den der Himmel gezeichnet hatte. Eine furchtbare innere Helligkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er war näher getreten. Mit beiden Händen hatte er die aufgeschlagene Bibel in die Höhe gehoben.

»Deichgräf . . .

Gert Liffers beugte sich vor der Gewalt der Erscheinung,

»Hier ist die Bibel,« rief Josias mit tönender Stimme, »und in der Bibel stehn die Gesetze des Herrn! Drum gehe hin und lege Zeugnis ab, wenn Du vor Deinem Herrgott bestehen kannst – kannst Du es aber nicht – wisse Du: wer falsches Zeugnis ablegt und tut's mit gestreckten Fingern, dem wächst die Schwurhand späterhin mal aus dem Grabe heraus – heraus aus dem Grabe!«

Langsam ließ er die Bibel herunter. Ein schmerzliches Lächeln glitt über die harten Züge. Fast in stiller Milde sah er auf den Mann, dem er einst die Jugend verschönt hatte. »Höre mich, Deichgräf . . .

Josias drehte sich um. Barhaupt und mit harten Schritten verließ er das Zimmer.

Draußen ging gleich darauf wieder das monotone Holzschuhgeklapper. In steter Gleichmäßigkeit durchzog es die vereinsamten Straßen. Mit aufgerissenen Augen horchte Gert Liffers ihm nach, bis es verhallte.

»Ich habe meine Arbeit getan,« sagte der Kiwi im Vorwärtsschreiten, »aber es bleibt so: es ist nicht die Sense von Ignaz gewesen; die schneidet ganz anders, schneidet ganz anders – und die Sense kommt wieder.«

 


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