Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XIX Ruhe – und dann . . .?!

Verschläfert räkelten sich die Stunden in den Abend hinein. Der bis zur Deichkappe angeschwollene Kalkflack hatte keinen steigenden Trieb mehr. Die Flut stand wie in Betrachtung, was nun weiter beginnen. Auch unter dem Himmel herrschte eine flaue Bewegung. Das Ungewisse, Flattrige hatte sich fast gänzlich verloren. Zeitweilig schob sich die Mondsichel durch die zerrissenen Fetzen. Die bedrohlichen Zeichen schrumpften in sich zusammen, und trotzdem: die Nacht war wie das rätselhafte Weib von Theben. Sie schlief mit offenen Augen und streichelte mit eingezogenen Krallen. Das Schreckhafte war aus ihrem Antlitz gewichen. Eine schmerzhafte Entsagung ging über sie hin, eine selbstquälerische Ruhe war in ihr, nur ab und zu unterbrochen von einem kurz abgestoßenen Wimmern, das, kaum gehört, in unmittelbarer Nähe verhallte.

Die Wolkenbank am tiefen Horizont, über die in längeren Zwischenpausen ein verlorenes Licht fiel, hatte den Vormarsch eingestellt. Nur vereinzelte Glieder griffen nach vorn, als wollten sie sich weiter durch die schwere Luft tasten. Sonst herrschte auch hier das lähmende Brüten, das allgemein unter dem Mond war.

Die Arbeiterkolonnen atmeten auf. Von allen Posten kam die gleichlautende Meldung: »Damm hält sich – kein weiteres Steigen bemerkbar.«

Der Deichgräf hielt mit der Aufladung inne; nur das Eindämmen des Klüverwassers nahm seinen geregelten Fortgang.

Gert Liffers befand sich in Höhe des Fingerhutshofes.

Der Kiwi trat auf ihn zu. Er hatte kurz zuvor auf dem Boden gelegen. An seinem rechten Ohr haftete noch klebrige Erde.

»Ich glaube, die Gefahr ist vorüber, Herr Deichgräf.«

»Möglich.«

Das ›möglich‹ kam gepreßt von den Lippen und lautete fast, als wäre ihm das Gegenteil lieber gewesen. Eine ähnliche Regung war in ihm. Zum ersten Male in seinem Leben beschlich ihn eine nichtswürdige Feigheit. Er scheute sich vor einem etwaigen Triumph seines Gegners. Wenn der Donnerjü recht haben sollte, wenn er sich selber getäuscht hätte . . .?!

»Erbärmlich!« stöhnte Gert Liffers.

Der Böse wich von ihm.

Es ging auf zwölf, als hastige Schritte neben ihm waren.

»Wo ist der Deichgräf?« fragte eine vornübergebeugte Gestalt, die sich durch die Dunkelheit tappte.

»Hier!«

»Ah, guten Abend, Herr Deichgräf.«

»Wer will was?«

»Ignaz vom Fingerhutshof.«

»Was soll's denn?«

»Uns bangt so'n bißchen im Hof. Der Baas ist nicht da, kümmert sich den Düwel um Vieh und um gar nichts, hat keine Orders gegeben, und da wollt' ich mal fragen, wie's steht, und ob wir 'ne Hand voll Schlaf in die Augen tun können?«

»Die Gefahr flaut ab,« sagte Gert Liffers, »wenn das schwarze Ding da hinten überm Wasser nicht 'raufkömmt. Ich aber an Eurer Stelle . . .«

»Hab' selbst dran gedacht,« unterbrach ihn der vierschrötige Mensch, »aber so auf eigene Kappe das Vieh aus den Ställen zu treiben . . . Nachher schlägt uns der Donnerjü 'ne Forke über den Bregen.«

»Oha!« machte der Kiwi.

»Haltet wenigstens die Augen auf,« sagte der Deichgräf. »Momentan ist das Schlimmste vorüber – aber man kann immer nicht wissen.«

»Wachet und betet, auf daß Ihr nicht in Anfechtung fallet!« rief Josias mit drohender Stimme.

»Tun wir,« entgegnete Ignaz. »Die Pferde sind aufgehalftert, und die Kühe stehen mit dem Maul nach der Tür zu. – Gute Nacht denn.« Ignaz stolperte wieder von der hohen Böschung herunter.

»Wachet und betet . . .! – Man sollte ja den gottssträflichen Barthes wie 'ne Katze bei lebendigem Leibe versaufen!«

Ingrimmig ballte Josias die Faust in Richtung des Weges, den der Donnerjü vor etlichen Stunden mit seinem Schäschen eingeschlagen hatte; dann legte er wieder das Ohr auf die linke Flanke des Deiches.

Schaurig hallten die Stimmen der einzelnen Posten herüber, die sich gegenseitig anriefen.

Im Pferdestall des Fingerhutshofes war Licht; dort stand Ignaz Kerkhoff auf Wache.

Und Barthes . . .?! – – –

In der Wirtschaft zum ›Goldenen Anker‹ hatte Herr Schweinem alle Hände voll zu tun. Gäste kamen und gingen. An gewöhnlichen Tagen sah die große Hängelampe um diese Zeit schon auf leere Tische und Bänke. Heute hatte sie aber ein anderes Bild vor Augen. Die drohende Hochflut, die auch die kleine Stadt in Mitleidenschaft ziehen konnte, hielt die Gemüter in Aufregung. Bei Schweinem ließ sich das ›Für und Wider‹ am besten bereden; man hörte doch etwas. Bier und stetes Geschwätz ließen die Geister immer heftiger werden. Jedesmal beim Öffnen der Tür richteten sich alle Köpfe zum Eingang.

»Na, ten Hompel, wie steht es?!«

»Was Neues, Herr Pollmann?!«

Aber wer auch kommen mochte, immer lautete die Antwort verschieden – eine verflixte Lage der Dinge, nur geeignet, die Situation noch mehr zu verwirren und die Meinungen noch intensiver aufeinander platzen zu lassen.

Der einzige ruhige Punkt in der ganzen Gesellschaft war Barthes. Er hatte seine Billardpartie, die er mit Krispinus van Bommel und Knippscheer ausgespielt hatte, schon lange beendet. Jetzt saß er mit diesen und dem Bäckermeister Jan ten Hompel zusammen, ließ eine Bouteille nach der andern auffahren, schüttete ein Glas nach dem andern herunter, verhielt sich im übrigen ruhig und donnerte nur los, wenn er eine neue Flasche bestellte.

»Herr Schweinem,« schlug er dann auf den Tisch, »'ne frische Bouteille – aber 'ne bessere Marke! – Prosit, Ihr Bauern – der Deichbruch soll leben!«

Der Herr Notariatssekretär klappte jedesmal wie ein Taschenmesser zusammen, wenn der Donnerjü in so frevelhafter Weise ein derartiges Unglück beschwor und gewissermaßen die Gefahr provozierte.

»Das ist contra leges, Herr Vetter!« wimmerte er, rutschte erregt auf seinem Rohrsitz herum und wußte vor Angst nicht, wohin er mit seinen Beinen sollte.

»Bangbux, in die Kanne gestiegen!«

Das wirkte, riß den Geängstigten wieder zusammen, hielt aber nicht lange vor, denn mit jeder frischen Bouteille brachte der Kerl die gottslästerliche Redensart aufs Tapet, so daß der arme Knippscheer nichts weiter zu tun hatte, als das Taschenmesser zu spielen, sich aufzurappeln, Bescheid zu tun, um sich dann wieder in die Rolle des Taschenmessers zu finden. Die Überschwemmungsgefahr trat ihm wie ein Gespenst vor die Seele. Laut Testament hatte er dereinstmals zwanzigtausend Taler zu erben, beziehungsweise war durch die bei Wisselward gelegenen Grundstücke schadlos zu halten und somit berechtigt, sich als Gutsbesitzer zu fühlen, allerdings mit der sich selber auferlegten Verpflichtung, alle Misere, die dieser Stand mit sich brachte, ertragen zu wollen. Daß aber jetzt schon das Schicksal so happig dreinschlagen könnte, machte ihn fassungslos und ließ den schönsten Traum seines Lebens wie eine Seifenblase zerplatzen.

Der Donnerjü lästerte weiter, Knippscheer bat ihn, mit den Redensarten inne zu halten. Als aber alles nichts fruchtete, griff er zu einem verzweifelten Mittel.

»Ut deus bene vertat,« stöhnte er schließlich, »wollen wir beten.« Zerknirscht legte er die Hände zusammen.

Ein dröhnendes Gelächter schlug ihm entgegen.

Der Donnerjü hielt sich den Bauch, hatte aber schließlich Mitleid mit dem verzweifelten Menschen, schwadronierte das Blaue vom Himmel herunter, setzte langatmig auseinander, daß die befürchtete Katastrophe sich nur in den Köpfen der Narren befände, und alles seinen regelrechten Verlauf nehmen würde. Er kam aber mit seiner Vertröstung zu spät, weil der ins Bockshorn Gejagte nur noch mit halbem Ohr hinhörte und seine Aufmerksamkeit dem Herrn Petrus Nagel zuwendete, der drüben am Tisch die entgegengesetzte Meinung vertrat, mit der Pfeife die zähflüssige Luft durchfuchtelte, die Sündflut vorhersagte und dabei mit so schreienden Farben auftrug, daß selbst der phlegmatische Gasthausbesitzer näherrückte, um sich besser von den fulminanten Ausführungen durchschauern zu lassen.

»Auch die Stadt kriegt was mit,« wetterte Nagel, »und wer 'ne melke Ziege im Stall hat, kann sie auf den obersten Boden spedieren, wenn er nicht puren Kaffee trinken will und nicht gerne hat, daß sie ihm mit allen Vieren davonschwimmt. Und der Herr Deichgräf hat dieselbigte Meinung. Basta!«

Energisch, und gewissermaßen um dem Schluß seiner Rede einen nachhaltigen Druckser zu geben, blies er eine forsche Wolke zur Decke.

Knippscheer war zu einem Taschenmesser geworden, das überhaupt nicht mehr aufklappen wollte.

»Hörst Du das?!« wieherte Barthes, schlug dem armen Geheimrat auf die Schulter, daß es knallte, und schrie dann: »Hörst Du das, Knippscheer?! – Der dämlichste Hammel kann sich ein Beispiel dran nehmen. Sorg' man dafür, daß, wenn's losgeht, Deine Frau nicht im puren Hemd dem Zichorienherzog ins Bett schwimmt.«

Ein allgemeines Gejohle, ein Grunzen, ein eruptives Gelächter folgte dieser hämischen Auslassung des Fingerhutshöfers.

Der dicke Bäcker- und Spritzenmeister ten Hompel schüttelte sich. Er mußte krampfhaft an die Tischkante greifen, um in seinem Heiterkeitsausbruch nicht auf den Boden zu stürzen. Krispinus van Bommel riß sich den Kragen auf, um besser lachen zu können. Nur zwei lachten nicht mit. Das waren Knippscheer und Nagel.

Eine tiefe, philosophische Traurigkeit hatte Knippscheer ergriffen, während der Herr Spezereiwarenhändler puterrot und wie ein geladenes Siesemännchen emporfuhr.

»Bong das mit der ehrsamen Frau Notariatssekretärin!« rief er über den Tisch fort, »Und wenn es wäre?! – Laß sie man kommen; sie wird estimiert, denn ich bin ein Mann von Noblesse.«

Überzeugungstreu schlug er sich mit der flachen Hand auf den Flausrock.

»Freundchen! – Freundchen . . .!« höhnte van Bommel.

»Auf Leben und Sterben!« bekräftigte Herr Nagel seine vorige Aussage.

»Glaub's!« wollte der Donnerjü jovial aus der Haut fahren, »so'n Sirupsherzog tut keinem Weib was zuleide. Da müssen schon andere kommen!«

Nagel trillerte mit Händen und Füßen. Er wollte was sagen, er wollte dem hundserbärmlichen Gutsbesitzer 'nen ›Schweinekerl‹ an den Kopf werfen, kam aber nicht dazu, da ihn ein wieherndes »Hallo!« übertönte, und als er endlich loslegen konnte, stand Barthes schon da, stülpte sich ein Glas Lafitte hinter die Binde und schrie dann: »Und so ein Kerl ›von Heringstonne und gar nichts‹, vor dem nicht mal ein Weib die Röcke zusammennimmt und auf und davon geht – will uns hier die Pferde scheu machen wollen?!«

»Hü mit die Pferde!« grinste Krispinus.

»Will wohl in die nämliche Kerbe hauen wie der Rammsbock von Deichgraf?!« ergänzte Barthes mit blaurotem Gesicht. »Überhaupt die Beamtenpackage! – Macht sich wichtig – der Hundsfott! – Nur um von der Regierung wie'n Pfingstochse prämiiert zu werden und schieren Hafer ins Maul zu bekommen, will er uns den Deich am Leeloch verkolken und die harten Taler aus der Nase herausziehen. Aber dabei ist er an den Fingerhutshöfer gekommen; ich kenn' meine Sache und weiß, daß der Leedeich sein lebtagens nicht nachgibt – Gottverdammich! – so wahr ich hier stehe.«

»Bis Du ›Schlag Neune‹ bekommst,« dachte van Bommel.

»So, meine Herren, das ist die Ansicht eines niederrheinischen Bauern, der das seine gelernt hat, mit unseren Verhältnissen vertraut ist, sich nicht vor jedem Hergelaufenen ins Bettstroh versteckt und vor jedem Hochwasser in die Kinderhose hineinkriecht – und jetzt bekuckt die Medaille von der anderen Seite und beseht Euch den da: den Mann von Noblesse mit der Frau Notariatssekretärin, die im bloßen Hemde heranschwimmt!«

»Bravo!« ging es durch den Saal, untermischt mit Lachsalven, die die Scheiben erzittern machten.

»Prosit, Ihr Bauern!« schwenkte der Donnerjü sein Glas in den Trubel, und er hätte noch weitergesprochen, wäre nicht in diesem Moment ein karmoisinroter Kragen ins Zimmer getreten.

»Der Herr Polizeidiener!« kam es aus allen Ecken und von allen Tischen. Die Gesichter wurden lang, und die Hälse streckten sich.

»Nichts Neues vor Paris?« suchte Herr Schweinem einen jovialen Ton anzuschlagen.

»Was gibt's denn, Herr Weber?« sah sich der Donnerjü über die Schulter.

»Gratuliere, Herr Barthes,« sagte der starre Mann des Gesetzes und klopfte umständlich mit seinem Bleistift auf das dicke Notizbuch. »Hier steht's, und ich hab's auch schon dem Herrn Bürgermeister gemolden: die Gefahr ist alle geworden.«

»Hurra!« ging das durch den Saal. Der Alp, der fast auf allen gelastet, löste sich auf.

»Man sollte den Kerl von Deichgräf massakrieren,« machte sich ten Hompel Luft. »Einen so in die Predullig zu bringen!«

Das Taschenmesser klappte sich auf.

»Herr Polizeidiener Weber, sind Sie auch richtig informiert?« fragte der noch immer verschüchterte Knippscheer.

»Die Polizei irrt nie,« war die kategorische Antwort.

»Da habt Ihr's, da seht Ihr's!« warf sich der Donnerjü in die Brust. »Was ich immer gesagt hab': ein Esel, wer's mit dem Deichgräfen gehalten! Herr Schweinem, 'ne andere Marke, aber was Moussierendes; der Pfropfen muß knallen, und – Gottverdammich! – das hier zum Teufel!« und aus vollem Halse lachend, die brennende Zigarre in eine Mundecke geschoben, kullerte er die ganze Flaschenbatterie, volle und leere Rotweinbouteillen, vom Tisch auf den Boden. »Herr Polizeidiener Weber, hierher – und in die Kanne gestiegen!«

Alsbald knallten die Pfropfen.

»Hodie obliviscimur Deichgräfios et alias ejus modi creaturas!« ließ sich der wieder ins menschliche Dasein zurückgekehrte Knippscheer vernehmen und schwenkte das Spitzglas.

»Es lebe Barthes van Laak!« dienerte Weber.

»'rein mit's Gift!« invitierte ihn Barthes, kniff sich, wie er es in der Weinlaune allezeit beliebte, einen harten Taler ins Auge, ließ ihn fallen, fing ihn auf, um ihn alsdann dem gewandten und geschäftskundigen Wirt in die Finger zu werfen.

»En avant – immer neue Pullen, Herr Schweinem!«

Die Wirtschaft hallte wider von dem rohen Gelächter. Jede geleerte Flasche sah den Keller nicht wieder. Splitternd knallte sie an die gegenüberliegende Wand an.

Die Gäste verloren sich; allein Barthes und seine Kumpane waren seßhafte Leute. Sie blieben.

So ging das noch lange. Es war bereits ein Uhr unter der qualmenden Lampe geworden, als Barthes sich aufhob. Seine Zunge lallte; der stiernackige, blauüberlaufene Kopf war ihm auf die Weste gesunken.

»Herr Schweinem, anspannen lassen!«

»Was – schon nach Hause?!« krähte van Bommel.

»Nach Hause – in den dreckigen Fingerhutshof? – Niemals! – aber ich will noch die Stina aufmuntern. Herr Schweinem, anspannen lassen!«

»Freundchen! – Freundchen!« erkundigte sich van Bommel, »ist Er auch noch kumpabel zu fahren?«

»Was?!« ranzte ihn der Donnerjü an, »mir hat noch keiner geholfen. Ihr, Viechskerle – Achtung!«

Auf einer Dielenritze probierte er wankenden Schrittes die Gangbarkeit seines äußeren Menschen. Es ging noch.

»Komm, Sulpiz, gib mir 'nen Kuß und nimm mir's nicht übel von wegen der Sophie. Hoffentlich bist Du kein Kerl wie der Lakritzenverkäufer!«

»Höhöhö!« brüllten die andern. Gleich darauf meldete Karl Schweinem, daß das Schäschen parat sei.

Von der ganzen Korona begleitet, das halbe Treppengeländer mitnehmend, stolperte Barthes nach draußen.

Der Rotschimmel begrüßte ihn mit hellem Gewieher.

»Brav so,« tätschelte er die Flanke des Tieres, »aber es geht nicht nach Hause. Auf dem Vorwerk kriegst Du Dein Deputat an Häcksel und Hafer.«

Dann nahm er die Zügel. »Uffgesessen!«

Schwerfällig, öfters daneben tappend und von den anderen geschoben, bestieg er schließlich den Bocksitz, rückte die Beine zurecht und griff lallend zur Peitsche.

»Soll ich vielleicht mitfahren?« bot sich pflichtschuldigst der Herr Polizeidiener an, »es ist schon stockeduster da draußen.«

»Sollte Ihm passen,« grinste der Donnerjü vom gepolsterten Leder herunter. »Allong, Liese – vorwärts!«

Der Rotschimmel griff aus. Die Funken spritzten, und im schlanken Trab, ab und zu in einen ungewollten Galopp fallend, ging es dem Hanselaer Tor zu.

»Erst die Chaussee, dann der Kommunalweg und dann an dem Ziegelofen vorüber,« dachte Barthes, als er über die steinerne Brücke ratterte und dann unter massigen Pappelkronen dahinfuhr. Die kalte Nachtluft machte ihm die umnebelte Stirn wieder lebendig. »Immer gradaus,« sagte er zu seiner eigenen Kontrolle.

Die Nacht war noch immer ruhig. Selbst die sonst so lebhaften Bäume flüsterten nicht und waren stumm wie die Fische. Grau und gitterartig, ohne Bewegung streckten Sie die noch kahlen Äste über den Heerweg. Sie waren aber noch immer so dicht, das allgemeine Dunkel noch stärker zu machen. Nur in langen Zwischenräumen fiel ein kurz andauerndes Licht quer über die Straße.

Der Donnerjü sah es.

»Was – stockeduster?!« lachte er mit heiserer Stimme. »So'n Mann des Gesetzes! – Sauft wie'n Rinnstein, aber Champagner, um dann wie'n Pharisäer zu sohlen!« – Da hängt es ja zwischen den Wolken – das Möndchen!« Er schnalzte mit der Zunge.

»Vorwärts, Lieschen! – sonst kriegt Stina den Iggel.«

Die Chausseebäume machten Beine und sprangen vorüber.

»Guter Mond, Du gehst so stille,« sang Barthes durch das Schweigen der Nacht hin.

So war er zehn Minuten gefahren, selig, beglückt, nur mit der Roggenstrohhaarigen beschäftigt, als er plötzlich die Zügel straffte und den Rotschimmel anhielt.

»Gottverdomie – was ist das?!«

Er horchte.

»Himmelsackerment noch mal! – das wird ja da oben lebendig.«

Er sah in die Höhe.

»So eben noch wie die Leichenbitter gewesen, fromm und wehleidig – und jetzt . . .?! – das saust ja und braust ja!«

Auch der Mond bedeckte sich wieder.

Barthes konnte den plötzlichen Wandel der Dinge nicht fassen. Durch die kahlen Zweige ging ein Fauchen und Stürmen: Die Kronen beugten sich. Es ächzte dort oben, als spräche eine drohende Gefahr aus den Bäumen.

Sollte der verteufelte Deichgräf . . .?! – Unsinn! – Ich bin doch kein Hase wie Knippscheer?! – Te-r-a-a-b!«

Der Rotschimmel legte sich wieder in die Sielen und preschte vorwärts. Der Donnerjü konnte die Finsternis greifen; kaum sah er den Kopf und die Mähnenhaare des Pferdes. Nur seitlich des Schäschens und ruckweise über die weißen Stämme der Chausseebäume weg hastete das Licht der beiden Wagenlaternen. Jetzt warfen sie ihren Schein weit über das Land fort. Die Bäume verloren sich, das offene Feld tat sich auf, und instinktiv lenkte das Gefährt in den Kommunalweg ein, der später am Ziegelofen vorbeiführen mußte.

Offenes Feld, aber dunkel und düster!

»Auch der Mond ist zum Teufel!« lallte Barthes und versuchte mit weitaufgerissenen Blicken in die Ferne zu dringen. Er gewahrte nichts, als tief am Horizont eine wuchtige Masse, die sich wütend herauswälzte. Stoßweise heulte dabei der Sturm über die Erde.

Barthes schob sich den Hut in den Nacken. Er sah in die Richtung, wo der Fingerhutshof liegen konnte. Es war weit hinten – zur Linken. Das unbestimmte Gefühl, als habe von dort her jemand gerufen, war in ihm.

Eine kalte Hand legte sich ihm schwer auf den Nacken.

»Das ist nicht mehr wie vorhin; sollte doch Gert Liffers – der Großmogul . . .?!«

Mit einem kurzen Laut fühlte er sich plötzlich über das Spritzleder geworfen. Etwas Dumpfes saß ihm unter der Schädeldecke. Funken standen vor seinen Augen. Er riß sich gewaltsam aus dem betäubenden Zustand.

»Der verfluchte Champagner . . .

Er wischte sich über die Stirne.

»Nichts, nichts, nichts!« sagte Barthes und versuchte der Finsternis einen belebenden Punkt abzugewinnen.

Die eine Wagenlaterne war ausgepustet; die andere irrte flackernd ins Feld. Sie streifte mit ihrem Licht ein langgestrecktes Ding, das sich platt auf den Bauch gelegt hatte. Inmitten stand eine kreisrunde Masse, die sich schlotartig nach oben verjüngte.

»Der Ziegelofen,« sagte der Donnerjü und bemerkte jetzt auch, wie jenseits davon winzige Feuer, scheinbar zwischen Himmel und Erde ausgelegt, über der Niederung brannten.

»Die Fanale! – da schuften die Kerle . . .! – aber – prosit, Ihr Bauern! – ich bin richtig gefahren,«

Er hatte nicht mehr weit bis zum Vorwerk. Als er dort ankam, verfing sich der Sturm winselnd zwischen den niedrigen Dächern. Er klagte und johlte, aber hoch darüber weg, bei den kahlen Baumkronen, die das Vorwerk umstanden, ließ er mit herrischer Gewalt seine Stimme wie die Stimme einer Posaune ertönen. Sie klang jubelnd, siegesgewiß, zeitweilig unterbrochen durch ein infernalisches Lachen.

»Prrr!« sagte Barthes und warf die Zügel einem verschläferten Knecht zu, den er durch langes Trommeln gegen das Stallfenster herausgeklopft hatte.

Das Blut hämmerte ihm gegen die Schläfen, als er die Scheiben über der Haustür erhellt fand.

»Also noch munter – die Stina!«

Gaul und Gefährt wurden in Stall und Remise gezogen. Er selber tappte sich vorwärts. Ein Windstoß warf ihn an der Schwelle zurück, als wollte er ihm den Eingang verwehren.

»Gottverdammich . . .

Er griff nach der Klinke und hielt sich. Drinnen ließen sich eilige Schritte vernehmen.

»Wer ist da?«

»Barthes!«

Er schlug mit der Stirn gegen die Planke; ein ähnlicher Zustand wie vorhin im Schäschen. Momentan wußte er nicht, wo er sich befand, und was um ihn vorging.

»Champagner?! – Unsinn! – das ist doch sonst nicht bei mir Mode gewesen.«

Der Riegel wurde geschoben. Licht!

Es war nur eine plötzliche Helle; der Wind verschluckte die Flamme. Barthes hatte genug gesehn. Ein milchweißer Nacken und zwei kräftige Arme . . . Er taumelte vorwärts.

»Mag da drüben alles versaufen, verderben – Stina . . .

»Du!«

Sie gingen.

Gleich darauf flimmerte in der Giebelstube wieder das verlorene Licht auf. Es winkte nach den Fanalen, die weit unten über der Niederung brannten – ein trauliches Licht, aber ein Lämpchen, das zum letztenmal geworben und gelockt haben sollte. Langsam senkten sich die Schatten des Todes auf die sündige Flamme; sie mußte verlöschen, und das für immer. – – –

Noch vor einer Stunde Ruhe und Hoffnung – und jetzt . . . Wie das Gepfeife von betrunkenen Fuhrknechten durchschnitt es die Lüfte. Der Oberfuhrknecht stand weit über Moyland dahinten, stieß viehische Laute aus seinem schwarzblauen Kittel heraus, stampfte mit klobigen Stiefeln den lehmigen Boden und knallte in die Wolkenballen hinein, daß sie scheu und geängstigt davongaloppierten. Hinter ihnen her sprengte er selber. Mit tollem Gelächter hatte er sich auf eins der vorüberrasenden Wolkenpferde geflegelt, spornte und fluchte und trieb immer neue Peitschenhiebe in die stöhnenden Massen, die, aus Rand und Band gekommen, immer tieferen Flug nahmen und fast Erde und Wasser berührten, »Holla!« Klatschend fuhr die Geißel in die gurgelnde Tiefe. Die Flut bäumte sich auf, zuckte und ächzte und spritzte ihre weißen Kämme vor dem Sturmgesellen her, der mit heiserem Lachen dahinritt und das gequälte Element mit immer neuen Hieben traktierte. Ob sie wollten oder nicht, sie mußten – die Wogen, sie mußten sich beugen und taten's schließlich mit einem tückischen Aufblitzen ihrer gelbfleckigen Augen. Die stetigen Peitschenhiebe weckten eine schlummernde Gier auf. Ein wildes Entzücken, durchfuhr sie. Mit einem verlangenden Wonnegefühl, unter den zischenden Hieben immer brünstiger werdend, warfen sie sich dem Sturm in die Arme, gingen mit ihm, rasten mit ihm, um jenseits des wankenden Dammes ihr Brautbett zu finden. Für eine kurze Spanne fiel das Mondlicht über das Wüten und Wogen.

Die Arbeiterkolonnen standen noch immer auf Posten, schafften auf Posten und suchten den Klüverdamm, als Druck gegen ein Weichen des Hauptdeichs, in die Höhe zu bringen. Qualmige Lohe ging über sie hin. Die rote Glut der Fackeln schleppte am Boden.

Hoffnungslos klirrten die Spaten. Die Wendung war zu plötzlich, so gegen alles Erwarten gekommen.

Hoch oben auf gefährdeter Stelle – der Deichgräf! – Sturzwellen gingen über ihn fort. Sein Leib fieberte in qualvoller Erwartung, Mit rauher Stimme gab er die einzelnen Kommandos. Er hielt aus, obwohl er keine Hoffnung mehr hatte.

Ganze Faschinenbespreutungen wurden in die Tiefe gerissen. Flockiger Schaum setzte über die Böschung, die Risse und Narben bekam und im Flackerfeuer aussah wie ein Gesicht, in das sich die Pocke gefressen. Unter Knirschen und Fauchen bröckelte die Erde herunter.

Der Deichgraf hielt sich an einem gerammten Pfahl, um nicht fortgerissen zu werden. Neben ihm hockte der Kiwi. Er kauerte inmitten von Ankerfaschinen, die er krampfhaft gefaßt hielt.

»Ist Euer Weib in Sicherheit?« fragte Gert Liffers.

»Ja – Weib und Ziege,« sagte Josias und brachte grinsend das Ohr auf den Boden.

Minute auf Minute verrann. Eine wahnsinnige Angst hatte den Kiwi ergriffen. Er bebte um die hilflose Erde, um das Stück Grund und Boden, das er nicht lassen wollte, das ihm ans Herz gewachsen war und sich jetzt von ihm reißen wollte, um nicht wieder zu kommen.

Hier half kein Arbeiten mehr, kein Beten und Fluchen!

Sein Herz und das des Deiches klopften fiebernd gegeneinander.

»Wie spät?« fragte Josias, ohne sich vom Boden zu heben.

»Es geht auf drei,« war die ruhige Antwort.

Vom Fingerhutshof drangen verworrene Stimmen herüber. Ignaz Kerkhoff übertönte sie alle. Laternen huschten zwischen den Stallungen und Scheunen auf und nieder.

Gert Liffers atmete auf.

Wiederum war eine bange Viertelstunde vergangen.

Eine fressende Welle schlang gierig ein Stück der inneren Böschung herunter; dann raste sie jubelnd auf die andere Seite.

Josias triefte. Klebrig hafteten seine eisgrauen Haare an den knochigen Schläfen. Er war kein Mensch mehr; wie ein Tier, wie ein horchendes Tier lag er gestreckt und mit geballten Fäusten in der sumpfigen Lache.

Der Deich röchelte; er war wie von Todesnöten gerüttelt. Ein Zucken und Krümmen durchlief den gemarterten Körper. Die Flut stürmte gegen ihn an, als wollte sie ihm das Rückgrat zerbrechen. Die eingerammten Pfähle und Balken knickten wie Glasstengel ab.

Plötzlich stieß der Kiwi einen gellenden Schrei aus und war in die Höhe gefahren.

»Deichgräf! – Deichgräf . . .

»Was?!«

»Das Herz will zerreißen!«

»Mag's zerreißen.«

Ihm ward frei und leicht zu Sinn. Die Last, die ihn jahrelang geknechtet und seine arme Seele geknebelt, erhob sich, strich von ihm und versank in die Tiefe.

Mit gespreiteten Armen stemmte er sich dem heulenden Wetter entgegen.

»Spült mich hinweg! – Erlöst mich, dann wäre alles vorüber, alles vorüber – und die alte Sehnsucht hätte ihr Schreien vergessen!«

Von unten her kam ein dumpfes Geräusch. Die Arbeiter liefen zusammen. Unter seinen Füßen begann es zu wanken.

»Elender,« schrie's in ihm auf, »Du bist gesetzter Deichgräf und willst die Dir anvertrauten Menschen verlassen!« Mit einem Sprung war er bei ihnen.

Der Untergrund gab nach; die Binnenberme war ins Rutschen gekommen. Die Katastrophe setzte ein; der Klüverdamm konnte den Druck nicht mehr halten. Bald mußte der Deich den letzten Todesschrei lassen.

Josias schlug verzweifelt die Hände zusammen.

Alle Mühen und Sorgen waren vergebens gewesen.

»Spaten in Ruh!« kommandierte Gert Liffers.

Er gab das Ringen auf.

Er war unter seine Leute getreten.

»Ihr, die rechte Kolonne, zur Bunten Schleuse – die andere nach Wissel! Rollt die Fanale auf! – Vorwärts! – Wir haben vergebens gerungen. – Ihr, Kiwi, zur Stadt und laßt die Notglocke läuten. Gott helfe uns allen!«

Die Arbeiter schwenkten die Mützen.

»Hurra – der Deichgräf!«

Eine Sturzwelle ging über sie hin.

»Gott helfe uns allen!«

Die Kolonnen trabten ab. Mächtig bauchte der Damm aus. Ein Racken und Brechen . . .

»Das reißt den Fingerhutshof fort!«

Und der Deichvogel schrie – schrie – schrie . . .

Mit seinen ungelenken Gliedmaßen fuchtelte er durch die Finsternis.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi!«

Wie das hallte und die Lüfte zerriß! Es übergellte den Sturm und das Kochen des Wassers. Vom Fingerhutshof kam ein dumpfes Brüllen und Blöken. Das Vieh ahnte die nahe Gefahr. Es zerrte an den Ketten und stöhnte.

Gert Liffers sah das Gehöft, wie es, in sein Schicksal ergeben, gewillt schien, sich von den hungrigen Fluten verschlingen zu lassen. Ein Brausen war um ihn.

Mit rasenden Sätzen ging es landeinwärts.

Fünf Minuten – eine Ewigkeit . . .

Noch immer hörte er den Deichvogel rufen.

Ein Stück des Dammes wurde in die Tiefe gerissen.

Er kannte das Gepolter, das charakteristische Schlürfen und Zischen.

Vom Hof drang wirres Geschrei.

Jetzt war er drin – zwischen Scheunen und Ställen.

»Nach Wisselward – auf die oberen Schläge!«

»Schon besorgt!« brüllte Ignaz.

Kühe und Pferde wurden vorbei getrieben.

Gert befreite den heulenden Hund von der Kette.

Ignaz Kerkhoff leitete die Arbeit mit Umsicht.

»Die ersten müssen schon da sein,« knirschte der Knecht zwischen den Zähnen, »Ich besorge schon alles – aber dem Baas: ein Flegelholz auf den gottserbärmlichen Schädel!« Mit einem heiseren Lachen streckte der ungeschlachte Mensch die Faust in die Höhe: »Flegelholz auf den gottserbärmlichen Schädel! – Aber sein Vieh – das erbarmt mich.«

»Und sein Weib?!«

»Da oben . . .! – Aber sie will nicht – sie will nicht . . .! – 'ne Hand voll Kirchhofserde ist für sie wohl das Beste.«

»Menschenkind . . .

Der Deichgräf stürmte dem Haus zu.

Aus der Ferne brüllten die Tiere. Nur noch eine Viertelstunde, und sie waren gerettet. Er hörte noch, wie Ignaz Kerkhoff auf einem Gaul auf und davonjagte. Er war der Letzte im Hofe gewesen.

»Aleit, Aleit . . .

Gert arbeitete sich durch die Dunkelheit weiter – die Treppen hinauf; dann blieb er stehen.

Kalte Tropfen standen ihm auf der Stirn; es waren Tropfen, wie sie der Engel des Todes dem ringenden Menschen auf die gemarterte Stirn legt.

Da die Tür zur Linken – nur angelehnt. Ein Lichtschein drängelte sich scheu durch die Spalte.

Er stürmte ins Zimmer.

Mit schon aufgelöstem Haar, am Bett zusammengekauert: das Weib, das Gesicht zwischen den Knieen.

»Aleit . . .

»Du . . .

Ein Wimmern, ein Klagen – und draußen das Tosen des Sturmes . . .

Aufgerissen, schlang sie beide Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.

»Gert – Gert – Gert . . .! – Ich dachte schon . . . Barmherzigkeit! – es wäre besser gewesen.«

 


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