Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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XXII Die Mission

Die Wochen vergingen, und die Wasser hatten sich schon lange verlaufen. Scheu und widerwillig waren sie von dem eroberten Land in ihr altes Bett zurückgekrochen, langsam, ingrimmig, wie aufgeschreckte Bestien, die ihr halberwürgtes Opfer nicht gänzlich zu töten vermochten. Grollend nahmen sie ihr gewohntes Gleis wieder auf, ließen sich einzwängen und gingen stromabwärts; aber ihre Spuren, die Wunden, die sie in ihrer blinden Wut hinterlassen, ließen sich auf Jahre hinaus nicht mehr verwischen. Tiefeingefressene Rinnsale schleppten sich über die Erde und hatten die gewaltigen Flächen durchschnitten, die sonst der Pflug auf Sehweite hinaus bearbeiten konnte. Parzelle drängte sich an Parzelle, saures Gras reckte sich auf, und wo früher üppige Wiesen und Äcker gelegen, wo die braune Krume bis zur Linie des Horizontes sich dehnte, hatte nunmehr der grimmigste Feind des Getreidebaues und der Wiesenkultur – der Sand die fruchtbaren Schollen brutal vergewaltigt. Wie Hermelin so leicht und doch für das keimende Leben ein Bahrtuch, legte er sich strichweise über die Felder, überlief die Hügelungen und duckte sich in die Mulden hinein – ein widerwärtiger Alp, unter dessen Umarmung sich die arme Erde nicht mehr zu erholen vermochte. Im Bereich des Fingerhutshofes hatte er am ärgsten gewütet. Streckenweise lag er wie Dünen geschichtet, und der Wind kam und verwehte ihn mit der Zeit auch auf solche Stellen, wo ihn die Flut nicht abgelegt hatte, und Ignaz Kerkhoff, der mit dem Tod seines Herrn provisorisch die Zügel ergriffen und die Bestellung der Felder besorgte, schüttelte jedesmal den Kopf, wenn er die verwahrlosten Weizenschläge vor Augen bekam, die im verflossenen Jahr und genau um die jetzige Zeit schon mit kniehohen Halmen aufwarten konnten.

Es kam ihm hart an – dem vierschrötigen Menschen.

»Alles verrungeniert,« sagte er dumpf vor sich hin, »aber so ist das im menschlichen Leben: was 'ne Hand voll Kirchhofserde für uns ist, ist 'ne Portion Sand für den Acker. – Höhö!« lachte er grimmig, »selbst Buchweizen tut's hier nicht mehr, und wenn wir's nicht aushalten könnten, wenn alles so aussäh' wie hier diese Schläge – dann adjüs Partie! – dann könnten wir hier 'nen feinen Bankerott anmelden und uns 'nen Bettelstock schneiden, aber 'nen festen. Höhö!« lachte er wieder, drehte sich um und schien auf ein fernes Spatenklirren zu hören, das aus der Gegend des Leeloches herkam. »Die Musik kommt zu spät,« meinte er schließlich. »Der Kapellmeister war da, aber die Musikanten fehlten – und jetzt wo sie da sind . . .«

Er machte eine unwirsche Handbewegung, steckte sich 'ne Pfeife an und schritt querfeldein über die versandeten Furchen. –

Schon seit mehreren Wochen schaffte der Deichgräf auf der Gemarkung am Leeloch. Mit fieberhafter Tätigkeit hatte er das sanktionierte Projekt wieder aufgegriffen, hatte Arbeiterkolonnen angesetzt und die ersten Profile der neuen Anlage aus der Ebene herauswachsen lassen. Weithin tönte das heisere Pfeifen der Schubkarren, das Klingen der Spaten und das dumpfe Aufprallen der geworfenen Erde. Er selber mühte sich ab mit der verzweifelten Hast eines Menschen, der sich kopfüber in die Sielen hineinwirft, um sich im Schaffenstaumel Seelenruhe und Vergessen zu holen. Und er hatte es nötig, hatte was totzuschlagen und eine quälende Angst zu erwürgen; aber wie er auch rang und sich mühte – er konnte den Schrei nicht mehr los werden, den sie ausgestoßen hatte, als sie aus sündiger Umarmung erwachte und dann ins Morgengrauen hinausstierte mit toten Augen und zerrissener Seele. Er war zum Schurken geworden, hatte die Stirn gehabt, einem makellosen Weib gegenüber . . . und wenn er auch jetzt alles gut machen konnte und gut machen wollte, die Sünde blieb und die Erinnerung ließ sich nicht scheuchen. Und wie alles gekommen?! – Er wußte es nicht mehr; aber wie sie dastand und in den fröstelnden Morgen hinausstierte – das sah er noch immer. Und dann wandte sie das Gesicht und meinte mit zuckenden Lippen: »Wir müssen uns hineinfinden – wir müssen vergessen. Leb' wohl!« und dann hatte sie sich zum Gehen gewendet.

»Wohin Du?! – Hast Du mir denn gar nichts zu sagen?«

»Nichts mehr. Was hätten wir uns auch noch weiter zu sagen?« Dann ging sie . . . Bald darauf war Josias Spettmann erschienen. –

Und die Kiebitze flogen, und als die Weidenkätzchen abgeblüht waren, hatte Josias schon längst wieder seinen Einzug in das rote Ziegelhäuschen gehalten. In ihm war eine merkwürdige Wandlung vor sich gegangen. Er war wie verklammt und bangte vor einem nahenden Unheil. Stundenlang saß er bei seinen Weidengerten vor der Haustür, murmelte unverständliche Worte vor sich hin und blickte scheu in Richtung des Fingerhutshofes, wo wieder die Elstervögel lärmten und sich in den Pappelkrönen zu schaffen machten.

»Von dort her kommt's,« sagte Josias, griff auf den Boden und warf einen Stein mit häßlichem Lachen weit über das Tief fort, als wollte er gleichsam das vermutete Unheil mit diesem Wurfe zerschmettern. »Den darfst Du nicht sehn, der ist tot für Dich mit allem, was drin ist, da mußt Du immer mit blinden Augen vorüber – und er ist doch hingegangen, der Deichgräf.«

Tiefsinnig fuhr er sich mit der harten Hand über die Augen.

»Oha!« stöhnte der Kiwi und sah den Kiebitzen nach, wie sie mit ihren runden Schwingen über Kolke und Dämme revierten.

»Haben's gut,« meinte Josias, »denn wo Wasser gewesen, werden die Regenwürmer lebendig, und wo sie lebendig werden, fliegen die Vögel.«

Und die Kiebitze flogen, senkten sich auf und nieder und wunderten sich, daß nicht mehr alles so war, wie es im Vorjahr gewesen. Den vielen Kolken hatte sich ein neuer zugesellt. Dreizehn waren's; jetzt waren's vierzehn geworden – und der vierzehnte lag oberhalb des Fingerhutshofes und zwar dicht an dem Wege, der von hier aus über den Bolk nach dem nahegelegenen Till führte. Nicht weit von der Durchbruchsstelle hatten ihn die tosenden Wasser in die Erde gefressen. Mit sturem Gepolter, immer dieselbe Stelle aufwühlend, hatten sie miniert und gebrochen und in stundenlanger Arbeit ein jäh abfallendes Becken geschaffen, das die Größe eines preußischen Morgens einnahm und jetzt wie ein starblindes Auge, unheimlich und düster, aus der weiten Niederung aufsah. Todestraurig, ein kleines Maar, vereinsamt und nur mit magerem Graswuchs umstanden, erzählte es eine lange Geschichte aus der Sturmnacht, von menschlichem Ringen und menschlicher Ohnmacht – und tückische Blasen stiegen aus der gähnenden Tiefe, und der Himmel blickte schmerzlich hinein, und die Gaukelvögel kamen, legten sich im Fluge quer auf die Seite und berührten mit ihren runden Flügelrändern den Spiegel, der verräterisch einen Abgrund bedeckte, wo früher Weizenboden lag und mannshohe Ähren sich auf und nieder bewegten. Und wenn es Abend geworden, grinste der Mond hinein, und Josias Spettmann kam dann gegangen, legte sich platt auf den Bauch, stützte den Kopf auf die Faust und wartete auf den Moment, wo sich eine Unglückshand aus dem Wasser erheben würde, die sich ausstrecken sollte und in den Fingerhutshof hineingreifen mußte. Allein die Unglückshand kam nicht und kam nicht; die Leute jedoch mieden die Stätte, gingen scheu und in einem großen Bogen an dem unheimlichen Kolk vorüber und nannten ihn das ›Totenwasser‹. Und die Kiebitze flogen . . .

Sie flogen bis in den Juni hinein, und als es Juli geworden, bestand der unbefleckte Empfänger auf seinen Schein, kutschierte von Elten in die kleine Stadt, wo die anderen Parteien wohnten, und verlangte klaren Wein in die Buddel.

»Secretarii publici,« mit diesen Worten empfing ihn Herr Knippscheer in Gegenwart seiner Frau, »secretarii publici per totum annum diligentes et mulorum hominum negotia gerentes . . . Hodie obliviscimur omnes molestias et curas – die Sache ist spruchreif geworden, das Nachlaßgericht ist verständigt, die Papiere wurden für ordnungsmäßig und rechtskräftig befunden, und meinetwegen können wir nun Frau Aleit alle Tage den Stuhl vor die Tür setzen. Das ist nicht contra leges, mein Bester, und wenn's Ihnen recht ist, will ich schon morgen, und zwar in Kraft meines Amtes als Testamentsvollstrecker, das Nötige einleiten und die Exmission tunlichst besorgen.«

»In Gottes Namen denn!« nickte der unbefleckte Empfänger, »aber machen Sie's schonend, Herr Vetter, und wenn sie noch das eine oder das andere mitnehmen will – ich für meine Person habe gar nichts dawider, denn ich hab's mir inzwischen überlegt und will das Gesetz nicht bis zum Äußersten gehandhabt wissen, obgleich die treulose Frau es reichlich verdiente.«

»Das allerdings,« bestätigte Knippscheer, »vornehmlich jetzt, wo das fatale Gerücht umgeht, sie trüge sich bereits wieder mit Heiratsgedanken.«

»Und darf man wissen . . .

»Kein Geheimnis, Herr Vetter – der Deichgräf.«

»Mein Gott!« seufzte der unbefleckte Empfänger, »also dürfte mein Gewährsmann, der aloysianische Jüngling . . .«

»Schon möglich, Herr Vetter.«

»Dann äußerste Strenge,« entrüstete sich Fennand van Bommel. »Was Gott tut, ist wohlgetan; man soll ihm nicht in die Zuchtrute fallen, und wenn Sie Madam Mömmes und der Frau Lena begegnen, dann sagen Sie ihnen, ich wäre nicht abgeneigt, ihnen ein Privatissimum über die Pflichten eines christkatholischen Weibes zu halten.«

In tiefster Seele entrüstet, ließ er seine semmelblonden Wimpern herunter.

»Zucht und Frömmigkeit sind die Zierden einer wirklichen Hausfrau,« dozierte er weiter, »und Sie, mein Bester, haben in dieser Hinsicht eine große Nummer gezogen. Eine keusche Lilie wurde Ihnen aus der Hand des Allerhöchsten gegeben. Ihr Kelch ist ein nieversiegender Bronnen, und ihre Staubfäden atmen Tugend und Liebe. Glücklich der Mann, dem solch ein köstliches Gefäß der Andacht und solch eine Gnade geworden.«

»Ich weiß es zu schätzen,« versetzte Herr Knippscheer.

»Ach!« seufzte die Frau Notariatssekretärin, knickste verschämt und präsentierte dem unbefleckten Empfänger ein Schälchen Kaffee.

Der Unbefleckte war mit großen Plänen gekommen. Er hatte sich bereits einen Inspektor gedungen und ein Lehrbuch erstanden, das in sachlicher und umfassender Weise die Grundsätze einer rationellen Landwirtschaft entwickelte und dartat. Ein fast dreimonatliches Studium hatte ihn wissend gemacht und zu einem Ökonomen gestempelt. Er sprach denn auch in großen Worten darüber, entwickelte die Theorie der Düngung, gab der mineralischen vor der tierischen entschieden den Vorzug, erklärte den Humus für das Prinzip der Fruchtbarkeit, meinte, daß die Salze Lebensmittel der Vegetation seien, hielt nicht viel von Apatiten und Kali, sprach mit sachlicher Kenntnis von Kultivatoren und Feimengeräten, gedachte neue Getreidearten und Futtergewächse einzuführen, selbstverständlich unter Weglassung des alten Betriebssystems, um auf diese Weise einen größeren Nutzen aus der wieder verjüngten Scholle zu ziehn, legte aber schließlich in stiller Ergebung die Hände zusammen und meinte: »Und dennoch, was fruchtet auch hier der menschliche Geist und das menschliche Wissen! Spatenkultur und mineralische Düngung tun es allein nicht. Der dort über uns muß gnädig auf Mist und Acker herabsehn, denn an Gottes Segen ist doch alles gelegen.«

So war denn der andere Tag, ein schöner Sonntagmorgen gekommen. Gleich nach dem Hochamt, also war verabredet worden, sollte die Exmissionsreise losgehn. Die zunächst Beteiligten ließen es sich aber nicht nehmen, dem Herrn Testamentsvollstrecker das Geleit bis zur Bunten Schleuse zu geben, hier zu warten, um dann später das erzielte Resultat brühwarm aus seinem Munde zu hören. Na – und so zogen sie denn gemeinsam hinaus: Herr Krispinus van Bommel, die Frau Notariatssekretärin, der unbefleckte Empfänger und Knippscheer. Letzterer besonders feierlich in weißer Weste, Zylinder und Gehrock und von Fritze Sötentitt als Adlatus begleitet. Herr Sötentitt war äußerst geschmeichelt. Mit Gesetzbuch und Aktenfaszikel unterm Arm stolzierte er nebenher, und als sie an der Behausung von Madam Mömmes vorbeikamen, räusperte er sich verschiedene Male, um die würdige Frau, die doch so große Stücke auf ihn hielt, so'n bißchen aufmerksam auf sein Kommen und seine Amtierung zu machen. Sie sollte doch sehn, daß sie sich keiner Täuschung hingegeben, und daß er wirklich der Mann sei, für den sie ihn immer gehalten und eingeschätzt habe. Allein Lisbeth erschien nicht. Sie hatte heute ihren ›ägyptischen Sonntag‹ – und das war schlimm für Fritze Sötentitt, denn nun mußte er leider darauf verzichten, sich in seiner ganzen Würde präsentieren zu können.

Ein köstlicher Sonntagmorgen flimmerte über die niederrheinische Landschaft. Wo die Stauflut nicht gearbeitet hatte, dehnten sich üppige Wiesen, verschwenderisch mit dem zarten Fleischton der Kuckucksblume durchstickt, reihten die Kappweiden ihre silberlichten Hauben nebeneinander, und hob sich das zarte Katzengrau der Roggenfelder gegen den Horizont ab, der in dustigen Tönen erstrahlte. Wie eine blaugraue Insel drängte sich der ferngelegene Wald von Moyland dazwischen. Und eine Lerche stand hoch über dem Kalkflack, sang von Sonntagsstille und Gottesfrieden und einer besseren Zukunft, und die fünf Menschen gingen durch diese Sonntagsstille hindurch, fröhlich, beglückt, wohligen Sonnenschein im Herzen, aber nicht gewillt, den stillen Gottesfrieden auch einem andern Menschenkinde zu bringen.

An der Bunten Schleuse trennten sie sich. Krispinus, Sophie, der unbefleckte Empfänger blieben hier in angenehmer Erwartung zurück und machten es sich im duftigen Grase bequem, während Herr Knippscheer, Sötentitt, Gesetzbuch und Aktendeckel den Weg zu dem stillen Gehöft einschlugen, das weltverloren im versandeten Tief lag. Und ein dunkler Vogel ruhte bewegungslos mit gebreiteten Schwingen darüber – ein brütendes Unheil, ein unheimliches Etwas, das, so ruhig es auch unter dem heiteren Himmel schweben mochte, verhängnisvolle Schatten herabwarf und ein bedrängtes Menschenherz mit Schauern umhüllte.

Ja – um Aleit zogen sich trübe Schatten zusammen. Ein Flüstern und Raunen war um sie. Sie kannte die Stimmen und wußte, was sie zu gewärtigen hatte. Barthes war tot, und der Inhalt des Testamentes war ihr nicht verborgen geblieben. Allein – was sollte das alles?! – Wie verwehte Klänge des Alltags, wie gleichgiltige Dinge berührte es nur ihre geängstigte Seele. Sie hatte kein Verständnis dafür und wäre glücklich gewesen, bettelarm und ausgestoßen von hinnen ziehen zu dürfen. Nur vergessen – die Erinnerung töten – ungeschehen machen, was sie im Taumel auf sich geladen, das war es, was sie in dumpfer Verzweiflung und mit angstvollem Flehen hinausschrie, was sie erträumte und in ihrem namenlosen Schmerz von der Vorsehung zu ertrotzen versuchte. Vergessen, vergessen! – aber die Schuld war da, ließ sich nicht scheuchen, lag zu ihren Füßen wie ein scheußliches Ding, das sich aufrollte, um dann schlangenartig sich um ihr Denken und Fühlen zu ringeln. Und dann war es ihr wieder, als leuchte ihr durch die trostlose Öde ein Licht der Erlösung. Was hatte sie überhaupt ihrem Manne gegolten?! War sie nicht dem Mysterium einer reinen Liebe verfallen, und stand ihre Liebe nicht frei über den kleinlichen Satzungen und den starren Regeln der klügelnden Menschheit, um sich immer höher und höher zu heben und das sehnende Herz mitzuführen in das Reich der Verzückung? – Sie lauschte den berückenden Tönen, die Sehnsucht zum Geliebten entrang sich immer wieder ihrer verzweifelten Seele, sie durchlebte noch einmal die Stunde, wo sie so namenlos glücklich und doch so sündig gewesen, um dann wieder hinabgeschleudert zu werden in den Abgrund des Brütens und der dumpfen Verzweiflung. Wohin ihre Schande tragen und sich vor Gott und den Menschen verbergen?! Und sie kannte die Menschen, die gefühllosen Menschen! – und in schrecklichen Nächten erfuhr sie, wie sie höhnten und lachten und dann in die Worte ausbrachen: »Kreuziget sie – kreuziget sie! – denn sie hat sich an Gott und seinen heiligen Geboten versündigt.« – Ja, sie war erbärmlich geworden, sie hatte verdient, was sie riefen, und sie wollte hinausgehn, den Leuten ihre Schande erzählen und sich kreuzigen lassen von der hungrigen Menge. Mit diesem Empfinden schlich ihr das Leben dahin. Die Stunden reihten sich zu Tagen, die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monden – keine Macht der Erde war imstande, ihr die Reinheit wiederzugeben . . . als plötzlich ein leises und wunderbares Schwingen ihre Seele berührte. Erst nur wie ein Traum gehaucht, wie ein leiser Gedanke zitterte es über sie hin, um schließlich den goldigen Schimmer zartesten Empfindens in ihr freudenloses Dasein zu gießen. Ein geheimnisvolles Regen, eine Offenbarung war in ihr, als sei sie auf eine verklärte Stufe des Daseins gehoben, die sie allem Gemeinen entrückte, und sie wieder eintreten ließ in den Tempel der Reinheit und in das Haus, wo die Heiligkeit wohnte. Die Sünde hatte ihre Bangnis verloren. Ihr Leben gehörte nicht mehr ihr und dem Geliebten allein. Ein Hauch fraulicher Würde umgab sie. Träumerischen Auges sah sie einem stillen Werden entgegen, und in mächtiger Welle flutete die erwachende Mutterliebe über die schlaflosen Nächte und die quälerischen Empfindungen der verflossenen Monde. Und dennoch – was sollte das werden?! – Hatte sie nicht ihr eigenes Leben zerstört, um ein anderes Leben zu wecken, ein werdendes Leben, aus dem ihr langsam aber um so sicherer der zukünftige Richter aufwachsen würde?! – Ein wütiger Schmerz zerriß ihre Stimmung. Die ganze Ungeheuerlichkeit ihrer Bedrängnis trat ihr grell vor die Augen. Der kurze Glücksrausch verflog, abgelöst von einem starren Entsetzen, das sie gepackt hielt und einem Abgrunde zutrieb, dem sie unentrinnbar verfallen.

Mit einem dumpfen Schrei rang sie sich aus ihrer wilden Betäubung.

»Wo bin ich . . .?!«

Und draußen pochte ein Mann an, von dem sie wußte, warum er gekommen. Sie kannte ja die einzelnen Bestimmungen des Testamentes. Sie wollte ja gar nichts. Alles konnten sie haben – alles, alles! – Freudigen Herzens hätte sie selbst ihr karges Pflichtteil gegeben – allein das werdende Leben war da, konnte nicht verheimlicht werden . . . aber einzugestehen, daß es nicht ihrem verstorbenen Manne gehörte, sich in den Staub treten zu lassen von erbarmungsloser Gesinnung und der Schmähsucht der Menschen – lieber ins Totenwasser und die Qual nicht mehr fühlen.

»Nie!« schrie das gepeinigte Weib auf. Bald darauf hatte sich Frau Aleit wieder gefunden, aber ein zuckender Haß, ein Aufbäumen gegen das unerbittliche Walten des Schicksals hatte sich ihrer bemächtigt. Die Sünde trug ihre Frucht. – Gut denn, sie wollte auch das noch ertragen und, wenn es nötig sein sollte, es zum Äußersten treiben. Er mochte kommen. Aus ihrem blassen Gesicht leuchteten die Augen wie zehrende Flammen. »Herein!« sagte sie heftig.

Da ging die Tür, und unter Assistenz seines juristischen Anhängsels war der Herr Sekretarius Knippscheer mit aller Förmlichkeit ins Zimmer getreten.

»Frau Base,« sagte er mit verbindlichem Schmunzeln, »ich hoffe nicht ungelegen zu kommen.«

»Zuvor eine Frage,« unterbrach ihn die Ärmste. »Ist die Anwesenheit Ihres Begleiters hier nötig?«

»Nicht unbedingt,« entgegnete Knippscheer – aber was war das?! Der Ton machte ihn stutzig. Er glaubte einer vom Schicksal Gefaßten, einer Verzweifelten entgegentreten zu können und mußte nun zu seinem nicht geringen Erstaunen die Wahrnehmung machen . . .

Er kam in seiner fatalen Betrachtung nicht weiter.

»Also nicht unbedingt nötig?«

Sie hatte mit harter Stimme gesprochen.

»Dann möchte ich Sie freundlichst ersuchen, das, was Sie mir mitzuteilen haben, unter vier Augen zu sagen.«

»Wie Sie wünschen,« versetzte der Sekretarius etwas betreten und hieß seinen Beistand hinausgehn.

»Nun zur Sache; also Sie kommen . . .«

»In dringlicher Angelegenheit, von wegen des Aktes und gewissermaßen mit solidarischer Haftung.«

Über ihre Züge glitt ein verächtliches Lächeln.

»Dann eine weitere Frage. Mit welchem Recht mischen gerade Sie sich, Herr Knippscheer, in eine Angelegenheit, die mich betrifft und nicht für alle bestimmt ist?«

Na – so was! Das war doch geradezu eine Unverfrorenheit und ein impertinentes Verhalten. Schon wollte er andere Saiten aufspannen, beherrschte sich aber und meinte mit gewinnendem Lächeln: »In Kraft meines Amtes als Testamentsvollstrecker, meine hochverehrte Frau Base – und möchte mir daher in aller Freundschaft erlauben . . .«

Eine unwillige Geste unterbrach seine Rede. Der ganze Mensch, den sie in seiner kläglichen Würde und bis in die tiefste Herzensfalte durchschaute, war ihr schmerzhaft widerwärtig geworden.

»Bitte, mein Herr,« sagte sie mit scharfer Betonung, »lassen wir alles und jedes, was nicht zur Sache gehört, aus dem Spiel, verschonen Sie mich mit derlei Beteuerungen; was Sie zu sagen haben – bitte, machen Sie's kurz, entheben Sie mich sobald wie nur möglich Ihrer Gegenwart und Ihres dienstlichen Hierseins. Mir wär's schon das Liebste.«

»Was?!« fuhr Knippscheer zurück.

Wie ein Peitschenhieb saßen die Worte.

»Das mir?!« zischelte er und war hastig näher getreten, »wo ich doch nur Ihr Bestes gewollt habe. Lassen Sie's mir nicht entgelten, was Sie selber verschuldet. Sie kennen am besten die Gründe, die bei der Instrumentierung des Aktes maßgebend waren, und wenn die Testierung Ihren Erwartungen nicht entsprach, wenn der Erblasser sich genötigt sah, sein bewegliches und unbewegliches Eigen würdigeren Händen anzuvertrauen, wie die Ihren es waren, so kränken Sie wenigstens nicht in mir die sanktionierte Person des Gerichtes.«

Ein frostiges Gelächter schlug ihm entgegen. Ein Gefühl des Ekels war über Aleit gekommen, als sie bemerkte, wie sich so ganz allmählich aus der heuchlerischen Maske des bevollmächtigten Mannes das Grimmige eines bissigen Kaninchens entpuppte.

»Na denn, ich höre,« sagte sie schneidend, »und machen Sie's prompt – Sie hoher Gerichtsmann.«

»Ich werde, ich werde!« keuchte das grimme Kaninchen und knöchelte auf den Aktendeckel, daß es stiebte und stäubte. »Von Rechts wegen,« sagte er mit giftigen Augen. »Laut Testament, errichtet vor dem Notar Johann Peter Gerechtsam und nunmehr deponiert bei dem Nachlaßrichter in Kleve, wurde Herr Fennand van Bommel, Kirchenrendant und Lehrer zu Elten, als Universalerbe des gesamten Nachlasses Ihres verstorbenen Mannes berufen.«

»So!« lächelte Aleit.

»Ja – und zwar mit der angehängten Klausel, etlichen verdienten Leuten diverse Legate, deren Zweck und Bestimmung Sie nicht weiter zu interessieren vermögen, behänden zu wollen.«

»Also doch verschiedene Vermächtnisnehmer?« fragte sie mit spöttischem Anflug.

»Gewiß.«

»Zu denen auch Sie gehören, Herr Knippscheer?«

»Allerdings.«

»Glückliche Menschen! – Ich gönne es allen von Herzen. Und ich – was habe ich zu erwarten?«

»Nichts – als nur das,« pointierte Knippscheer mit stillem Behagen, »was der Herr Testierer durch Verfügung von Todes wegen leider dem bestehenden Gesetz nicht zu entreißen vermochte.«

»Ich danke.«

»Nichts zu danken; die Hauptsache kommt noch, und sie will nichts weiter, als Ihnen die Mitteilung machen, gemäß der Sie innerhalb einer Frist von acht Tagen den Hof zu verlassen haben. Bemühen Sie sich daher um ein anderes Quartier; zu schwer dürfte Ihnen ja immerhin diese Schose nicht werden. Und ich freue mich herzlich, daß gerade mir die Ehre zuteil ward, Sie wegen Ihres unqualifizierbaren Benehmens mit Pauken und Trompeten und sozusagen mit allen Chikanen hinauskomplimentieren zu dürfen. Und somit, meine hochverehrte Frau Base . . .«

Schnellfingerig griff er nach seinem Zylinder, warf sich den blauen Aktendeckel unter den Arm und stolzierte in dem Bewußtsein, seine Mission mit dem Geschick eines preußischen Appellationsgerichtsrates erledigt zu haben, der Tür zu.

Totenbleich reckte sich Aleit.

»Eine letzte Frage, Herr Knippscheer.«

»Bitte.«

»Und das ist alles in dem Testament meines verstorbenen Mannes niedergelegt?«

»Alles.«

»Und ist nichts in dem Testament enthalten, schreibt das Gesetz nichts vor, was eventuell auf die Kinder Bezug hat?«

»Müßige Frage – da keine Nachkommen des Testierers vorhanden.«

»Und was sagt das Gesetz von einem noch nicht geborenen Kinde?«

Knippscheer zuckte die Achseln: »Der Fall ist absolut von keiner generellen Bedeutung.«

»Möglich – aber wie lautet die Fassung?«

»Wer zur Zeit des Erbfalls nicht lebte, aber erzeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.«

Aleit schüttelte sich vor Entsetzen und Grauen.

»Und wenn ich Ihnen sage . . .!« schrie sie mit heiserer Stimme.

»Was . . .?!« stammelte Knippscheer.

»Ich fühle mich Mutter – und durch mich wird dem Fingerhutshof noch ein Erbe gegeben.«

Die liebe Julisonne fiel in diesem Augenblick durch die Scheiben und umstrahlte Frau Aleit.

»Sein Kind . . .?!« zeterte Knippscheer.

»Ja,« beteuerte Aleit, »das Kind meines verstorbenen Mannes – und jetzt . . .«

Sie machte eine herrische Handbewegung, dann hörte sie, wie die Tür jammernd ins Schloß fiel.

»Sein Kind!« rief sie mit gellendem Aufschrei. »Hätte ich anders gehandelt . . . Lieber ins Totenwasser, als die Schande ertragen. Herrgott, verzeih' mir die Sünde . . .

Der gespenstische Vogel, der mit gebreiteten Schwingen über dem Fingerhutshof ruhte, senkte sich talwärts. –

Und da draußen blinkten die Wiesen, die Kuckucksblumen dehnten sich maßlos ins Weite, und eine heitere Gottesstille ging auf weichen Sohlen über Felder und Fluren und über die gemordete Scholle.

Inzwischen saßen die übrigen Erben an der Bunten Schleuse und harrten sehnsüchtig auf die Rückkehr des von ihnen in wichtiger Mission beorderten Mannes. Die Zeit schien ihnen lang zu werden. Frau Sophie spielte zur Kürzung des Schneckenganges mit ihrem schwerkaratigen Goldkreuz, der unbefleckte Empfänger gab sich sinnreichen Betrachtungen über rationelle Bodenkultur hin, während der Alte an einer Weidengerte herumschnipselte, sein rotbedrucktes Sacktuch hervorzog und es als ein lustiges Fähnchen mit der äußersten Spitze der schwanken Weidenrute verknüpfte. »Für Knippscheer, um ihm ein Vivat zu bringen, wenn er zurückkommt,« meinte er dann so nebenher, setzte sich auf die Brüstungsmauer der Schleuse und sah den fetten Barschen zu, die sich da unten in dem kühlen Wasser plusterten. – Eine Stunde verging. Das erbberechtigte Kleeblatt, wenn auch etwas gelangweilt, harrte geduldig aus, denn alle freuten sich jetzt schon auf das delikate Nachrichtenschmäuschen, das Knippscheer sicherlich mit sehr pikanten Zutaten gespickt haben würde. Die fünfte Viertelstunde verging, als der unbefleckte Empfänger plötzlich in die jubelnden Worte ausbrach: »Sie kommen! – Sie kommen!«

»Wo?« fragte der Alte.

»Da hinten!«

»Richtig – und wie fidel!« freute sich Sophie.

»Jesses – ja!« krähte Krispinus, »die kommen ja gehoppelt wie'n kaptaler Rammler und ein putziges Häschen.«

»Man sieht es ja, wie die reinste Freude aus ihren Sprüngen hervorleuchtet,« ließ sich der unbefleckte Empfänger vernehmen.

»Das Recht triumphiert!« warf die Lange dazwischen. »Na – diesem unmoralischen Weib hat es aber mein Männchen mal gründlich gegeben.«

Dann reckte sie ihren Gänsehals aus der florigen Krause, um besser sehen zu können.

»Zackerzucker! – los denn dafür,« meinte Krispinus, schwenkte sein Fähnchen und forderte die anderen auf, mit ihm den beiden Abgesandten entgegen zu ziehen.

Die drei frommen Menschen gingen denn auch mit wehender Schnupftuchfahne auf die Ankommenden zu, die in großen Sätzen über Wiesen und Kleeacker turnten.

»Haben die Kerle 'ne Lunge!« kicherte Krispinus van Bommel.

»Mit den Sendboten einer gerechten Sache ist Gott,« beteuerte der unbefleckte Empfänger, »er gibt ihnen Stärke.«

»Denn man weiter!« johlte Krispinus und wollte vor Lachen bersten beim Anblick der lustigen Sprünge.

Knippscheer war zwei Pferdelängen vor. Hinter ihm her stolperte Fritze Sötentitt mit Gesetzbuch und Akten. Weithin leuchtete der blaue Deckel ins Vorland. Sie waren bis auf Rufweite näher gekommen, als der geheime Hosenrat unartikulierte Laute von sich gab, stehen blieb und mit Händen und Beinen agierte.

»Freundchen! – Freundchen! nur ruhig; wird sich alles schon finden!« schrie der Alte ihm zu und mußte dann sehn, wie Sulpiz zu einer Bildsäule erstarrte.

»Nun gestattet er sich ein kleines Späßchen,« lächelte der unbefleckte Empfänger.

»Stimmt,« bestätigte Sophie, »denn er ist immer so ein kleiner Duckmäuser und Schäker gewesen.«

Jetzt stießen die Parteien zusammen.

Sulpiz blieb wie versteinert.

»Freundchen! – Freundchen . . .

Keine Antwort erfolgte. Auch das Aussehn Sötentitts verkündete Unheil.

»Sulpiz – Männchen, so sprich doch!«

»Hier stimmt was nicht,« versetzte Krispinus.

»Männchen! – Männchen . . .!« wimmerte Sophie.

Da hielt sich Knippscheer nicht länger. Ein wütiges Keuchen war in ihm. »Aus!« sagte er brütend und ließ die Arme wie leblos herunter, »nichts mehr – die zwanzigtausend Taler sind einmal gewesen – sie stehn auf dem Papier, denn Aleit . . .«

»Was denn?!« schrieen alle gemeinsam.

»Sie ist in der Hoffnung.«

Man hörte die Grillen zirpen und die Feldmäuse piepsen – so still war's mit einem Schlage geworden.

Der Unbefleckte machte vielleicht das aloysianischste Gesicht seines Lebens.

Sophie stand sprachlos, mit geöffnetem Munde, als wollte sie die Ringeltaube verspeisen, die mit reißendem Fluge über die Niederung herkam.

Der Alte mit seinem Fuchsgesicht blieb allein gefaßt bei dieser plötzlichen Wendung der Dinge, denn er hatte genug und konnte somit die verpfuschte Geschichte mit ansehn.

»Nu ist die muntere Kirmes zu Ende,« brach er das verzweifelte Schweigen, wandte sich dann an die Frau Notariatssekretärin und meinte: »Und was das Schlimmste ist – Ihr Herr Gemahl, der Testamentsvollstrecker, hat wohl so'n bißchen zu früh die feine Kaffeekanne mit dem schwervergoldeten Rändchen zertöppert.«

»So'n Dämel!« sagte sie und kam wieder ins Leben zurück, »und wenn ich gewußt hätte . . .«

Langsam drehte sie sich dem Fingerhutshof zu und stierte ihn an, als sei sie gewillt, ihm die heilige Pest unter die Sparren zu wünschen.

Mit der Linken hielt sie ihr Goldkreuz umklammert.

Die Blicke weiteten sich. Unheimlich, drohend stand die lange, schwarzgekleidete Person inmitten der Wiesen,

»Und ich will's auf die Kommunionsbank beschwören mit einem heiligen Eide,« schrie sie mit heiserer Stimme und streckte die Schwurfinger aufwärts, »das Kind ist nie und nimmer von Barthes!«

Ein Schauder lief über den Rücken des unbefleckten Empfängers.

 


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