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22.

Die Matagorda-Riffe.

»Feuer voraus!« rief eine jugendliche Stimme; doch kaum ließ der wütende Sturm die Worte das Ohr der Kapitänin erreichen.

»Wechselfeuer,« erklang es dann noch.

In weiter, weiter Ferne erschien bald ein weißes, bald ein rotes, bald ein grünes Licht; jede Farbe leuchtete einige Sekunden auf und verschwand dann wieder, um einer anderen Platz zu machen.

»Gott sei gepriesen, das Leuchtfeuer von Matagorda,« jubelte Ellen aus tiefstem Herzen, »wir haben die Riffe westlich passiert.«

»Der Sturm treibt uns furchtbar nach Norden,« ertönte neben ihr eine Stimme, aber sehen konnte man die Sprecherin nicht, so finster war die Nacht.

»So laufen wir direkt nach Matagorda,« entgegnete Ellen. »Ich fürchtete, wir würden den Riffen zutreiben, wir haben sie aber glücklich hinter uns. Mag der Sturm uns noch so nahe der Küste treiben, jetzt liegt es in unserer Hand, in den Hafen zu laufen.«

Gerade vor der ›Vesta‹ tauchten die Lichter auf immer in der gleichen, bunten Reihenfolge, die sogenannten Wechsellichter, und die ›Vesta‹ steuerte diesem Ziele zu.

Es war eine furchtbare Nacht. Der Sturm kam von Süden; manchmal aber schien er von allen Seiten zugleich zu brausen. Welle auf Welle ergoß sich über Deck. Die Mädchen, welche oben zu tun hatten mußten sich bei jedem Schritt anklammern, und der Ausguck auf der Back war am Gangspill festgebunden worden.

Am Steuerrad standen zwei Mädchen, und doch konnten sie kaum das wildschlagende Steuer bändigen. Schon zweimal hatte das Rad die Steuernden zu Boden geworfen.

»Gestern abend dünkte mich, wir wären bald an der Ostküste von Mexiko; ich glaubte schon, das Land zu erkennen,« sagte wieder das Mädchen neben Ellen, Miß Murray, »und jetzt sind wir schon in der Nähe von Matagorda. Das ist bei diesem Südwind seltsam.«

»Der Wind wechselt fortwährend! nur die Hauptrichtung ist von Süden,« entgegnete Ellen.

Schweigend betrachteten die Mädchen an Deck die aufsteigenden bunten Lichter. Sie versprachen ihnen nach mühseliger Nacht Ruhe und Sicherheit. Bald lag die ›Vesta‹ in ruhigem Wasser, und weder Sturm, noch Wogen konnten ihnen etwas anhaben.

Die drei Mädchen auf der Kommandobrücke durften ihre Gedanken nicht bei diesen friedlichen Feuerzeichen verweilen lasten, die Sicherheit ihrer Freundinnen hing von der Aufmerksamkeit ab, mit der sie vorläufig Segel, Kompaß und Kurs beobachteten. Aber auch das Meer wollte Berücksichtigung haben.

»Festgehalten!« donnerte es diese Nacht zum ungezählten Male durch das Sprachrohr von der Kommandobrücke herunter, den Sturm übertönend.

Alle Hände streckten sich instinktmäßig nach einem festen Gegenstande aus, man wußte, was dieser Ruf der Kapitän in zu bedeuten hatte.

Wieder kam eine ungeheure Woge dahergerollt. Erst stürzte das Schiff in einen Abgrund, dann schoß es einen Berg hinauf, aber es war nicht so schnell wie das Wasser, der Kamm überschlug sich und schwemmte manneshoch über das Deck hinweg.

Als das Schiff auf dem höchsten Kamme schwebte und mit fortgerollt wurde, ohne vom Winde abhängig zu sein, entdeckte der erste Blick der aus dem Wasser auftauchenden Mädchen, daß das Kombüsenhäuschen mit allem, was darin gewesen, fortgeschwemmt worden war.

»O weh,« rief eine noch gutgelaunte Vestalin, »morgen früh gibt es keinen Kaffee.«

Ganz anders waren die Betrachtungen, welche die drei Mädchen auf der Kommandobrücke anstellten, wahrend die ›Vesta‹ noch immer auf dem Kamme der haushohen Welle tanzte.

»Was ist das?« rief Ellen und deutete nach Westen, »wo man, allerdings sehr weit entfernt, aber doch deutlich, ein ähnliches Wechselfeuer wie das vor ihnen liegende erblicken konnte.

Miß Murray, wie auch das andere Mädchen, waren über diese neue Erscheinung höchlichst erstaunt. Sie währte nur einen Augenblick, dann schoß das Schiff wieder jäh in die Tiefe und kam die ganze Nacht nicht wieder so hoch, um die neuen Lichter erkennen zu lassen.

»Es waren die Lichter eines Leuchtturmes, den ich nicht kenne und der auf der Karte nicht verzeichnet steht,« rief Miß Murray.

»Es waren dieselben wie die von Matagorda, denen wir zusteuern,« fügte das zweite Mädchen hinzu, »oder könnten es nicht die von Matagorda sein?«

Diese Frage wurde nicht beantwortet; ein langes Schweigen trat ein. Alle blickten starr nach der Gegend, wo sie einmal die Lichter hell leuchten gesehen hatten, aber sie kamen nicht wieder.

»Welcher Leuchtturm ist nach unserer Karte der nächste westlich von Matagorda?« fragte Ellen endlich.

»Der von Brownsville.«

»Dieser kann es nicht sein, wir haben Brownsville schon links hinter uns.«

»Dann ist es ein neuer Leuchtturm,« entschied Miß Murray, »von dessen Errichtung uns in dem halben Jahre nichts mitgeteilt worden ist. Sehr schlimm allerdings!«

In jeder größeren Hafenstadt teilt das Seemannsamt einem ansagenden Kapitän kostenfrei mit, welche neuen Leuchttürme erbaut wurden sind, ob Schiffe gesunken sind, deren unter dem Wasser verborgenen Masten anderen Schiffen gefährlich werden können. Man bezeichnet genau die Lage solcher gefährlicher Stellen, kurz, benachrichtigt den Fragenden über alles, was seinem Schiffe von Vorteil oder von Nachteil sein könnte, und der Kapitän berichtigt demgemäß seine Seekarten.

Die Seemannsämter machen sich solche Mitteilungen gegenseitig durch Depeschen.

Die ›Vesta‹ hatte sich die letzten Berichtigungen in Mgwana vom Seemannsamt in Kapstadt zutelegraphieren lassen, aber ein neuer Leuchtturm an der Südostküste der Vereinigten Staaten war nicht gemeldet worden.

»Es ist gleichgültig, ob die Lichter von Matagorda oder von einem anderen Leuchtturm herrühren, jedenfalls winken sie uns zu, daß wir dort geborgen sind, und wir wollen ihrer Aufforderung Folge leisten,« sagte Ellen. »Ich wage nicht, bis zum Tagesanbruch ohne Segel auf dem Wasser liegen zu bleiben, denn der Südwind würde uns doch an die Küste treiben. Besser, wir segeln direkt auf diese Lichter zu.«

Die anderen beiden Mädchen, also der erste und der zweite Steuermann, sahen die Richtigkeit dieser Worte ein. Man richtete seine Aufmerksamkeit nur noch auf die vorausliegenden Feuer.

Noch immer war man weit von ihnen entfernt, trotzdem die ›Vesta‹ fast achtzehn Knoten segelte. Leuchtfeuer sind eben sehr, sehr weit zu sehen. Abwechselnd tauchten die weißen, roten und grünen Punkte in der dunklen Nacht auf, dem einsamen Schiffer gleichsam zuwinkend.

Noch schauten die Mädchen dem bunten Farbenspiel träumerisch zu, als plötzlich die ›Vesta‹ wie sie sich gerade wieder einmal in die Tiefe senkte, einen merklichen Stoß erhielt.

Es ist entsetzlich, so einen Stoß am Schiff zu merken, wenn man sich auf dem Meere glaubt. Alle Nerven schrecken zusammen, und man meint nicht anders, als im nächsten Augenblick müsse das Schiff auseinanderbersten.

Erschrocken stürzten die Mädchen nach den Booten, denn nur diese konnten eventuell Rettung bringen. An sie denkt man im Augenblick einer solchen Gefahr zuerst.

Da erscholl schon Ellens Stimme durch das Sprachrohr.

»Es war ein gesunkenes Wrack, hat nichts zu bedeuten. Peilen!«

Die Mädchen kamen durch diese Worte ebenso schnell wieder zur Besinnung. Wie sollte man auch hier auf offenem Meer auf ein Felsenriff treffen, wo jeder Zoll des Wassers bekannt war und die Karten Meter für Meter die Meerestiefe angaben! Es hätte gerade durch vulkanische Kraft ein neues Riff entstanden sein müssen. Doch wann kam dies vor?

Nein, Ellen hatte zwar nur geraten, aber es konnte nicht anders sein, es lag ein Wrack hier, dessen Mastspitzen bis an die Wasseroberfläche reichten. Wäre es ein schöner Tag gewesen, so hatte man die Stelle nach der Sonne aufgenommen, wo das Wrack lag, im nächsten Hafen gemeldet, und das Seemannsamt würde das Wrack durch Taucher haben sprengen lassen, wenn das Heben sich nicht mehr verlohnte.

Jetzt aber mußte gepeilt werden, das heißt, das im Kielraum stehende Wasser gemessen werden – wie schon früher bemerkt, lecken hölzerne Schiffe immer mehr oder weniger – es konnte leicht sein, daß die ›Vesta‹ wirklich ein Leck davongetragen hatte.

Die Meßschnuren wurden an verschiedenen Stellen des Decks hinabgelassen.

»Zwanzig Zentimeter,« rief ein Mädchen nach der Kommandobrücke hinauf.

»Pumpen,« war die Antwort.

Die ›Vesta‹ hatte entweder infolge hohen Seeganges viel Wasser eingelassen, oder sie leckte wirklich. In der nächsten halben Stunde mußte man das nach einem energischen Pumpen entscheiden können.

Die eine Hälfte der Mädchen sprang nach den Pumpen und setzte das Schwungrad in Bewegung. In Strömen ergoß sich zu beiden Seiten das ausgepumpte Wasser über Deck; es stand also hoch im Kielraum.

Da wurde Ellens Arm plötzlich von einer Hand gepackt, und mit erregter Stimme flüsterte ihr Miß Murray ins Ohr:

»Still, horchen Sie! Klingt das nicht wie das Rauschen der Brandung?«

Ellen wollte schon eine unwillige Antwort auf die so ängstliche Bemerkung geben, als sie sich plötzlich weit über die Brüstung der Brücke lehnte und in die tosende Nacht hinauslauschte, als könne sie so besser einen außergewöhnlichen Ton vernehmen. Dann begannen mit einem Male ihr die Kniee zu schwanken; auch ihr Ohr hatte ein entferntes Rauschen und Donnern vernommen.

»Die Brandung?« kam es bebend aus ihrem Münde. »Hilf Himmel, Jessy, auch ich höre etwas, was ich mir nicht erklären kann!«

»Segelt nicht nach Matagorda, ihr kommt auf die Riffe,« stammelte mit schreckensbleichen Lippen das dritte Mädchen, die Worte des Wahnsinnigen wiederholend.

»Das Leuchtfeuer ist noch zu sehen.«

»Was hilft uns das?« rief Jessy. »Wir segeln aus die Riffe zu. Nur an einer zerrissenen, felsigen Küste kann die Brandung so donnern. Miß Petersen, lassen Sie wenden, oder wir sind verloren.«

Schon hatte Ellen das Sprachrohr an ihren Mund gesetzt. Jetzt zitterten die Hände nicht mehr.

»Wenden!« schmetterte es durch die Nacht.

Erstaunt vernahmen die Mädchen an Deck dieses Kommando. Sie wußten nicht, was dieses Manöver jetzt, da sie dem Hafen zusegelten, bedeuten sollte, aber eine Ahnung sagte ihnen, daß Wichtiges auf dem Spiele stehen müsse. Das seltsame Geräusch hatten sie noch nicht gehört.

Sie ließen die Pumpen ruhen und sprangen an die Brassen, jede auf ihre Station.

»Fertig!« schallte langgezogen der Ruf aus achtzehn Kehlen, anzeigend, daß man bereit war, das nächste Kommando auszuführen.

»Los die Brassen!«

Die Taue glitten auf der einen Seite durch die Hände der Mädchen, auf der anderen wurden sie so schnell als möglich eingeholt. Die losen Raaen wurden gerichtet, sie flogen herum und sollten schon wieder festgemacht werden, als plötzlich die Hände der Mädchen wie gelähmt herabsanken, und die frischen Gesichter sich mit Aschfarbe bedeckten.

Die ›Vesta‹ erhielt einen Stoß, dann noch einen, einen dritten, und dann löste sich das starre Entsetzen der Mädchen.

»Die Riffe,« schrie es gellend zum Himmel hinauf »die Matagorda-Riffe.«

Alles stürzte nach den Booten; da gab es kein Halten mehr, und es war auch das einzige, was man tun konnte. Jetzt erhellte ein Blitz plötzlich die finstere Nacht, und was man da sehen konnte, ließ das Blut in den Adern erstarren.

Vor der hastig schwankenden ›Vesta‹ war kein Meer zu sehen, wohl aber eine zischende, dampfende Wassermasse. Wie Fontänen spritzte der Gischt zum Himmel auf, und der Blitz zeigte auch schon die drohenden, schwarzen Riffe, ganz in der Nähe, kaum hundert Meter von der ›Vesta‹ entfernt.

Nur energisches Handeln konnte vor einem Scheitern retten, und Ellen besaß Kaltblütigkeit genug, um die Lage sofort zu erfassen.

»Hol an die Backbordbrassen – los die Steuerbordbrassen – Ruder hart Steuerbord!«

Die Mädchen zeigten, daß sie noch nicht durch die Angst um ihr Leben völlig besinnungslos geworden waren. Hier gab es kein Ankern. Die Tiefe, aus denen die Felsen emporragten, war grundlos. Man mußte versuchen, gegen den Wind zu kreuzen, und gelang dieses nicht, dann mußte man zu den Booten seine Zuflucht nehmen.

Die Raaen wurden gewendet, aber noch drehte sich das Schiff nicht, um den Wind von der Seite zu bekommen. Wenn es aber durch neue Stöße leck gerannt worden war, was dann? Dann mußte man in den Booten sein nacktes Leben zu retten suchen.

Es kam noch schlimmer.

»Ruder hart Steuerbord!« rief Ellen mehrmals schnell hintereinander den beiden Steuernden zu. Sie war außer sich, daß ihr Kommando nicht befolgt wurde.

Wohl drehten die beiden Mädchen das Rad nochmals herum, aber es folgte plötzlich so leicht und willig, es widerstand gar nicht, und Ellen wußte, welches neue Unglück sie betroffen hatte. Das Steuer war zerbrochen.

Der Ruf hallte von Mund zu Mund; eine wilde Aufregung entstand; jetzt war die ›Vesta‹ ein Spiel der Wellen, sie wurde vom Südsturm direkt auf die Riffe zugetrieben, die Brandung machte sich schon donnernd bemerkbar, immer wiederholten sich die Stöße gegen vorspringende Felsen.

»An die Boote!«

Schon waren die Mädchen damit beschäftigt, dieselben auszusetzen, eine beim Sturm sehr gefährliche Arbeit, als der Himmel auch dieses verhinderte.

Der Sturm schien noch einmal seine ganze Macht zeigen zu wollen; er hatte etwas nachgelassen, aber im letzten Anprall vereinigten sich alle seine Kräfte. In der wild um sich schlagenden Takelage heulte und pfiff es plötzlich furchtbar, und da kam auch schon eine mächtige Woge herangetrieben, auf die ›Vesta‹ und die Küste zu.

»Festgehalten!« schmetterte es noch einmal durch das Sprachrohr, dann sprang auch Ellen nebst ihren Gefährtinnen von der Brücke herab und klammerte sich an einen Anker; der nächste Augenblick konnte ihnen vielleicht den Untergang bringen.

Wie ein Ball wurde die ›Vesta‹ emporgeschleudert, blitzschnell sauste sie fort, dem donnernden Geräusch entgegen, dann folgte ein Krachen, ein Splittern – ein gellender Schrei rang sich von aller Lippen, dann war es wieder still.

Die Mädchen lagen auf den Knieen, sich an irgend etwas klammernd, und wagten kaum zu atmen. Jeden Augenblick erwarteten sie einen zweiten Stoß, der die Fugen lösen, die ›Vesta‹ zerschmettern und sie selbst ins tosende Meer schleudern mußte.

Aber es folgte kein neuer Stoß, kein Krachen und Splittern ward hörbar, die Mädchen hoben langsam die Köpfe und wurden jetzt erst inne, daß die ›Vesta‹ nicht mehr schaukelte und schwankte, sondern still lag. Nur die Wogen brandeten nach wie vor an den hölzernen Rumpf und ergossen sich ab und zu noch über Deck.

»Wir sitzen fest!« hörten sie dann Ellens Stimme rufen. Eine frohe Nachricht war das nicht. Wer wußte, ob nicht die nächste große Woge das Schiff wieder losriß und gegen ein Riff schleuderte, oder ob der scharfe Felsen den Rumpf durchschnitten halte und die Planken nur noch ganz lose zusammenhingen?

Der Himmel hatte jedoch Mitleid mit den Geängstigten; er wollte sie wenigstens ihre Lage deutlich erkennen lassen. Die Wolken teilten sich, der Mond trat in die entstandene Oeffnung und zeigte den Mädchen, wo sie sich befanden.

Ringsum starrte es von Felsen, über die sich fortwährend die Wellen ergossen, wo zwei Riffe nahe zusammenstanden, spritzte die Brandung wenigstens zehn Meter hoch empor.

Es war wunderbar, wie die ›Vesta‹ den Weg hierhergefunden hatte. Hundertmal schon hätte sie auf Riffen, die hinter ihr lagen, zerschellt sein müssen, aber eine gütige Hand hatte das Schiff geführt, bis es von der mächtigen Woge hier abgesetzt wurde.

Jetzt lag es zwischen zwei Felsen eingeklemmt, das Vorderteil tiefer als das Hintere, und etwas auf der Seite, doch konnte man beim Schein des Mondes erkennen, daß diese Lage eine sichere war, allerdings auch eine solche, aus welcher sich die ›Vesta‹ ohne fremde Hilfe nicht wieder freimachen konnte. Die ›Vesta‹ lag hoch; nur der Kiel berühre das Wasser, und die aufgeregten Wogen konnten nur den Rumpf treffen. Oftmals, wenn das Meer zurücktrat, kam selbst der Kiel zum Vorschein, und man konnte noch deutlicher sehen als sonst, wie fest das Schiff zwischen den beiden Felsen eingekeilt war.

Nichts als Felsen um sie herum, zwischen denen die Brandung wütete, waren zu sehen, und trotzdem spielten dort noch immer die farbigen Lichter des Leuchtturmes. Dort mußte die Küste sein. Wie aber konnte auf ihr der Leuchtturm stehen? Er lockte ja die Schiffe, statt sie in Sicherheit zu führen, auf die Riffe!

Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Tag sollte erklären, wie man zwischen die Riffe gekommen war. Man dankte Gott, daß die ›Vesta‹ auf den Felsen saß, anstatt in tausend Teilen auf dem Wasser zu treiben und mit ihnen auf alle Fälle die Mädchen.

»Klar bei den Booten!« kommandierte Ellen schon wieder mit ruhiger Stimme.

Die Mädchen gehorchten willig, aber Miß Thomson fragte die Kapitänin vorwurfsvoll:

»Sie wollen die Boote aussetzen lassen? Wir kommen keine zehn Meter vom Schiffe ab.«

»Nein, aber ich lasse die Boote vorbereiten, damit wir uns sofort in sie begeben können, sollte die ›Vesta‹ doch noch bersten oder ihren Halt verlieren.«

Es wurden Vorbereitungen getroffen, um die Boote beim ersten Zeichen einer neuen Katastrophe über Bord lassen zu können, und schon rüstete man sie mit allein Nötigen aus, umgab sie auch mit den Korkgürteln. Des gleichen legten die Mädchen auf Ellens Geheiß selbst Korkwesten an, um im Wasser nicht bloß aufs Schwimmen angewiesen zu sein. Man mußte sich auf das Schlimmste gefaßt machen.

»Drei Uhr,« sagte Ellen, als alles so weit ausgeführt worden war. »In einigen Stunden bricht die Morgendämmerung an.«

Der Sturm ließ merklich nach; aber an der See war davon noch nichts zu merken. Nach wie vor brauste und spritzte die Brandung zwischen den Riffen und erzeugte jenes unheimliche Geräusch, bei dessen Klang das Herz des kühnsten Seemannes erbebt.

Das Lichterspiel dauerte weiter. Man erwartete weniger darum so sehnsüchtig den Anbruch des Tages, um zu sehen, wo man sich befand, wo die Küste lag, sondern mehr, um diesen rätselhaften Leuchtturm sehen zu können, dessen Feuer man hauptsächlich das Unglück zuzuschreiben hatte.

Zwei lange, bange Stunden vergingen in Vermutungen und Harren. Sie schienen sich zu Ewigkeiten ausdehnen zu wollen. Dann verschwand plötzlich das Wechselfeuer, und schon wenige Minuten später brach der erste Morgenstrahl im Osten hervor. Immer deutlicher tauchten die Riffe aus dem Dunkel auf.

»Dort steht er,« sagte Ellen, auf eine dunkle Säule deutend, die mehr und mehr in der Ferne sichtbar wurde.

»Es ist gar nicht so weit von uns, und doch glaubte ich immer, er wäre weit entfernt, den kleinen Lichtern nach wenigstens zu schließen,« meinte Miß Murray.

»Oder er hat wirklich nur sehr kleine Feuer, dann ist er aber nicht der von Matagorda,« erwiderte Ellen. »Wie in aller Welt aber kommt er nur hierher? Ist er hier, um Schiffe auf den Strand zu locken?«

»Wo soll der Leuchtturm sein?« rief plötzlich die scharfsichtige Miß Thomson. »Das ist kein Turm, kein Gebäude, es ist nur ein hoher, schlanker Felsen.«

Die nächste Minute ließ die Morgendämmerung voll heraufkommen, und sofort konnten sich alle Mädchen von der Wahrheit der Behauptung ihrer Freundin überzeugen.

Soweit das Auge reichte, sah es links und rechts nichts weiter als aus dem Wasser hervorragende Riffe, hinter ihnen lag das offene Meer, und vor ihnen, einige hundert Meter entfernt, eine zerklüftete Küste; aber kein Leuchtturm war zu sehen, nur ein hoher, steiler Felsen, der die anderen weit überragte.

»Auf diesem haben die Lichter gebrannt,« rief Ellen bestimmt, »sie sind schuld, daß wir gestrandet sind, ja, ich habe fast eine Ahnung, daß wir – –«

Ellen brach ab und sah nachdenklich vor sich hin.

»Daß wir durch sie auf die Riffe gelockt werden sollten,« ergänzte Miß Thomson. »Ja, meine Damen, es ist gar kein Zweifel, das trügerische Feuer ist unsertwegen diese Nacht hier unterhalten worden, und es hat seinen Zweck auch so ziemlich erreicht. Vielleicht haben diejenigen, welche das Truglicht hier leuchten ließen, gehofft, heute morgen nur noch die Planken der ›Vesta‹ treiben zu sehen. Nun, Gott sei Dank, sie haben sich getäuscht! Die ›Vesta‹ ist zwar wrack, vielleicht für immer, aber wir leben.«

Miß Thomson hatte diese Worte mit fester Stimme gerufen, und die Mädchen, selbst Ellen, stimmten ihr schweigend bei. Die Männer, welche sie bisher immer verfolgt, hatten noch einmal versucht, die Mädchen zu beseitigen. Das schurkischste Mittel war von ihnen gewählt worden; denn nicht nur das eine Schiff, auf welches sie es abgesehen, sondern alle Schiffe, die hier kreuzten, waren derselben Gefahr ausgesetzt gewesen wie die ›Vesta‹.

Wer wußte, ob nicht schon so manches Schiff diese Nacht zwischen den Riffen seine Reife für immer beendet hatte?

»Und wo ist der Leuchtturm von Matagorda?« fragte Ellen. »Wir sind auf die Matagordariffe geraten, aber warum haben wir das Feuer des Leuchtturmes in der Nacht nicht gesehen?«

»Das Verbrechen wird fein eingefädelt worden sein,« meinte Miß Murray. »Unter Umständen haben unsere lieben Verwandten sogar ganz Matagorda in die Luft gesprengt, nur um unser Schiff sicher auf den Strand laufen zu lassen.«

Jetzt brach der Morgen mit vollem Glanze an; die Sonne tauchte in goldener Pracht am Horizonte auf und schien auf Wind und Wellen einen besänftigenden Einfluß auszuüben.

Immer schwächer wurde die Brandung. Schon spritzte sie nicht mehr meterhoch empor. In einer Stunde mußte sich das Wasser völlig beruhigt haben.

Sicher hing das Schiff zwischen den beiden Felsen; kaum berührte das Wasser noch den Kiel, so hoch war es von der Woge emporgeschleudert worden, und mit Schaudern sahen die Mädchen, daß, wenn sich die ›Vesta‹ auf ein anderes Riff gesenkt hätte, sie unwiderruflich geborsten wäre, denn überall zeigten die Felsen scharfe Grate, und nirgends standen zwei so eng, daß ihr Schiff sich gerade zwischen sie legen konnte. Die Woge war mitleidig gewesen, sie hatte Schiff und Mannschaft vor dem sicheren Untergange gerettet. Noch war es möglich, die ›Vesta‹ wieder flott zu machen, wenn auch nicht durch die eigene Kraft der Besatzung.

Die Küste zeigte ein wildes Panorama. Felsig, zerklüftet war sie. In einiger Entfernung konnte man aber schon den Saum eines mächtigen Urwaldes sehen. Texas ist ja das Land der Urwälder. Eine friedliche Stille lag über der Gegend ausgebreitet. Kein Mensch, kein lebendes Wesen war am Lande zu erkennen.

In andächtiger Betrachtung standen die Mädchen und blickten um sich. Das Bewußtsein, einer furchtbaren Gefahr entronnen zu sein, erfüllte ihre Herzen mit einer Freudigkeit, für welche der Mund keinen Ausdruck fand.

Endlich brach Ellen das Schweigen.

»Meine lieben Freundinnen,« sagte sie in bewegtem Tone. »Es ist heute Sonntag, und noch nie haben wir während unserer Reise eine derartige Gelegenheit gehabt, Gottes schützende Hand zu erkennen wie heute. Er wollte nicht, daß wir als Leichen angespült wurden, er hat uns aber gezeigt, was unser Los gewesen wäre, wenn es in seinem Rate nicht beschlossen gewesen, uns noch länger auf Erden leben zu lassen. Wahrlich, wir haben Grund dafür, ihm an dem von ihm geheiligten Tage dankbar zu sein.«

Ellen entblößte den Kopf, die Mädchen taten desgleichen, und aus den Herzen aller stieg ein heißes Dankgebet zu dem auf, der in der Nacht das Ruder aus ihren Händen gerissen und selbst das Schiff mit seiner allmächtigen Hand geführt hatte.

Dann wurde die Frage erhoben, was jetzt zu tun sei. An ein Flottmachen der ›Vesta‹ war vor der Hand nicht zu denken. Man mußte sie ihrem Schicksal überlassen und entweder auf dem Landweg oder dem Seeweg, das heißt, in Booten nach Matagorda reisen und dort alles zur Anzeige bringen, besonders das rätselhafte Feuer, durch welches sie auf die Riffe geraten war.

Mit Hilfe der Sonne berechnete Ellen ihre Lage und fand, daß sie ungefähr 110 Seemeilen von Matagorda oder 80 von dessen Leuchtturm entfernt waren, denn die Halbinsel, auf deren Spitze der Leuchtturm steht, erstreckt sich dreißig Meilen ins Meer hinein.

Es wurde natürlich beschlossen, Matagorda in den Booten zu erreichen, wozu zwei Tage nötig waren, und bei günstigem Winde weniger Zeit, wenn sie nicht unterwegs von einem Schiffe aufgenommen wurden. Jetzt konnten sie vorläufig nicht daran denken, denn hinter ihnen, zwischen den Riffen, war die Brandung noch so stark, daß sie den Booten gefährlich war, nach der Küste zu dagegen hätten sie die Fahrt schon wagen können, und daher machte Ellen einen anderen Vorschlag.

»Es vergehen noch einige Stunden, ehe sich das Wasser vollkommen beruhigt hat, und ich denke, wir statten in dieser Zeit der Küste einmal einen Besuch ab, um uns davon zu überzeugen, wo und wie die Irrlichter gebrannt haben. Wir müssen doch noch eine Spur von ihnen finden. Miß Thomson, Sie sind ja hier zu Hause, was für Leute bewohnen diese Küste?«

»Fischer verschiedener Nationen,« entgegnete die Gefragte, »Spanier, Nordamerikaner mit englischem Blut und Mestizen. Den Leuten ist nicht zu trauen, vor allen Dingen nicht, wenn man ihnen als Schiffbrüchige näherkommt, weil bei ihnen das Strandrecht in Blüte steht. Aus der Erzählung des Spaniers betreffs des Wahnsinnigen haben Sie ja Schauderhaftes genug gehört. Sie irren übrigens, Miß Petersen,« fügte das Mädchen lächelnd hinzu, »wenn Sie annehmen, daß ich hier bekannt bin. Meine Plantage liegt zwar in Texas, aber dieser Staat ist groß, ich bin ungefähr vierhundert Meilen von hier zu Hause.«

»Nun, wir werden die Küste doch betreten und erst einmal Nachforschungen anstellen,« meinte Ellen. »Bewaffnet werden wir die Strandbewohner wohl nicht zu fürchten haben. Kommen Sie alle mit, meine Damen, wir rüsten zwei Boote aus und bewaffnen uns gut! Doch glaube ich, wir müssen uns abermals trennen, zum letzten Male, Einige von uns müssen nach Matagorda fahren, die anderen hierbleiben, um das gestrandete Schiff vor den Strandbewohnern zu schützen, und da ein Aufenthalt auf dein Riff doch gefährlich ist, so muß sich der wartende Teil am Strande häuslich einrichten. Darum wollen wir alle dort nach einem geeigneten Platz suchen und dann Rat halten.«

Die zweiundzwanzig Mädchen verteilten sich gleichmäßig in zwei Boote und strebten in diesen dem Lande zu. Die Fahrt zwischen den Riffen war gefährlich; oftmals kam ein Boot in Gefahr, an einem Felsen zerschmettert zu werden, aber lange Uebung, Geschick und Kaltblütigkeit hatten die Mädchen zu Meistern in der Bootsführung gemacht. Immer wußten sie die Boote mit Stangen von den Felsen abzusetzen, oder doch die Wucht des Stoßes durch ein gewandtes Rudermanöver zu schwächen, so daß nur die Korkeinfassung gedrückt wurde, bis endlich beide Boote sicher an einem geeigneten Landungsplätze lagen.

Die erste, welche mit leichtem Fuß ans Ufer sprang, war Miß Thomson.

»Sei mir gegrüßt, mein Vaterland,« rief sie. »Nach dreijähriger Abwesenheit küsse ich deinen Boden wieder.«

Damit warf sich das lustige Mädchen auf die Erde nieder und küßte den steinigen Boden.

Auch Ellen und die übrigen Mädchen wurden von teils freudigen, teils ernsten Gedanken bewegt, als sie den Boden ihres Vaterlandes, der Vereinigten Staaten, wieder betraten.

Ellen eilte, mit Büchse und Revolver bewaffnet, den steilen, jäh emporragenden Felsen hinauf.

»Sehen Sie hier,« rief sie, auf das Gras deutend, das den Felsen umwucherte, »der Rasen ist zertreten worden, die Halme haben sich noch nicht aufgerichtet. Diese Nacht waren Leute hier anwesend, sie haben den Felsen wahrscheinlich mit Hilfe von Seilen und Leitern erstiegen und auf ihm Raketen oder Leuchtkugeln steigen lassen, welche von weitem ähnlich aussehen, wie die Lichter eines Leuchtturms. Suchen Sie, ob Sie eine abgeschossene Rakete oder etwas Aehnliches finden, es kann uns als Beweismittel gegen die Anstifter dieses Bubenstückes dienen!«

Alle Damen hatten die an Ketten gelegten Boote verlassen und waren Ellen gefolgt. Das Ufer senkte sich etwas dem Lande zu, auch verhinderten Felsen die Aussicht nach dem Strande, so daß man die Boote nicht sehen konnte, wohl aber die hoch auf dem Riff hängende ›Vesta‹.

Man verteilte sich und begann zu suchen. Immer mehr fand man die Behauptung Ellens bestätigt. In der Nacht waren wirklich viele Leute hier tätig gewesen. Man hob Stückchen von Seilen, Holzspäne, ein Tuch vom Boden auf, und Ellen ordnete an, alles sorgfältig aufzubewahren, wodurch man die Täter feststellen konnte, so z. B. ein rotes Tuch, wie es von Fischern in jener Gegend viel getragen wird, ferner ein Schiffsmesser, in welchem ein aus sieben Punkten bestehendes Kreuz eingeschlagen war, ein plumper Hammer und anderes mehr.

»Sie hatten Leuchtkugeln,« rief Ellen und hob die Hülse von einem Feuerwerkskörper auf, »also habe ich mich in meiner Vermutung nicht getäuscht.«

Die Messinghülse führte als Fabrikstempel eine Krone und darunter die Buchstaben M. G. Ellen steckte sie in die Tasche.

Menschen selbst ließen sich nicht sehen, und das war ganz natürlich. Wenn welche hier wohnten, so waren sie ganz sicher an dem nächtlichen Werk beteiligt gewesen und hatten ein böses Gewissen, wenn sie auch nur, wie die Damen als ganz bestimmt annahmen, auf Aufforderung eines Mannes handelten, der Grund hatte, die Wiederkehr der Mädchen zu fürchten. Aber vielleicht wurden dieselben vom Walde aus, der einige hundert Meter nördlich lag, beobachtet. Die Mädchen konnten erkennen, daß zwischen den Bäumen reges Leben herrschte. Langbeschwänzte Affen, bunte Vögel, Papageien, tummelten sich in den Zweigen und am Boden umher. Texas ist reich an Tieren, namentlich an jagdbarem Wild.

Während die Mädchen die Umgegend noch absuchten, kamen sie auf die eigentlichen Bewohner des Landes zu sprechen.

»In Texas hausen die Apachen?« fragte Ellen die des Landes kundige Miß Thomson.

»Ja, und sie sind ein wilder, kriegerischer Volksstamm,« entgegnete das Mädchen. »Das beste ist, man meidet jede Begegnung mit ihnen. Muß man aber doch mit ihnen verkehren, so soll es möglichst in Freundschaft geschehen. Sie sind ein Reitervolk, das nur von Jagd und Kampf lebt, und seine einzige Tugend ist, daß es den Feind offen angreift, nicht heimtückisch überfällt. Aber die Grausamkeit der Apachen kennt keine Grenzen; sie morden die Gefangenen auf die furchtbarste Weise.«

»Sind Sie mit ihnen zusammengekommen?«

»Auf meinen Plantagen stellen sie sich zu gewissen Zeiten ein, um Geschenke an Vieh, Tabak u. s. w. in Empfang zu nehmen. Ich habe sie ihnen stets geben lassen und die strengste Weisung hinterlassen, immer freundlich mit ihnen zu verkehren. Allerdings bin ich von meinen Nachbaren deshalb oft scharf getadelt worden; man sagte, man solle den Indianern nie Geschenke geben, weil sie dadurch in ihren Anschauungen, die für die jetzige Zeit nicht mehr passen, bestärkt werden, aber ich habe eingesehen, daß ich mich dabei gut stehe. Meine Plantagen werden von ihrer Raubsucht verschont; sie respektieren alles Vieh, was meinen Stempel trägt, und auch meine Arbeiter sind vor ihren Lanzen sicher. Natürlich herrscht dort ein anderer Stamm als hier; die Apachen liegen ja untereinander in ewiger Fehde, die nicht eher aufhören wird, als bis sie alle vernichtet sind. Man zählt ungefähr noch siebentausend Apachen, die in viele, unter eigenen Häuptlingen stehende Stämme zerfallen. Haben Sie von den Apalachen gehört?

»Es ist ein ausgestorbener Volksstamm, zu dessen Mitgliedern auch die in meiner Heimat, Louisiana, hausenden Indianer einst zählten. Selbst die Irokesen gehörten zu ihnen.

»Die Apachen sagen, sie waren die direkten Nachkommen der Apalachen, und behaupten, es existierten noch zwei Menschen aus dem Häuptlingsgeschlecht derselben, ein Knabe und ein Mädchen. Ich glaube, es ist eine Mythe, die sich unter ihnen fortpflanzt. So, wie die Juden auf einen irdischen Messias hoffen, der sein Volk zur alten Herrlichkeit bringen soll, so hoffen auch die Indianer auf einen Befreier und sprechen von einem sagenhaften Knaben, der in einer Höhle mit Bären und anderen Raubtieren aufgezogen wird, vom Medizinmann geheime Wissenschaften lernt und von dem uralten Waffenbruder eines ehemaligen Häuptlings der Apalachen in Waffenkünsten erzogen wird. Der Knabe hat eine Schwester, welche in gleicher Weise erzogen wird, und ist die Zeit gekommen, so treten beide hervor, führen alle Indianer, ohne Unterschied des Stammes, zum gemeinschaftlichen Kampf gegen die weißen Eindringlinge an, und sind die Stämme alle frei, so heiraten Bruder und Schwester. Aus ihnen gehen dann die Häuptlinge hervor, welche über alle Indianer herrschen.«

»Und wann soll diese Zeit kommen?« fragte ein zuhörendes Mädchen.

»Wenn der Waffenmeister stirbt. Ein alter Häuptling der Apachen, mit dem ich mich gut stand, hat mir oft davon erzählt, und merkwürdig ist es, wie weit diese Sage verbreitet ist, und wie sie überall übereinstimmt.«

»Wie alt sollen denn die Geschwister sein?«

»Jedes Jahr, sagte der Häuptling, seien sie ein Jahr älter geworden, daraus könnte man fest schließen, daß doch etwas Wahres an der Erzählung ist, ich meine, daß es nicht nur zwei Menschen sind, welche einen ewigen Schlaf tun, bis sie einst erwachen und ihr Volk zum Siege führen, wie solche Sagen gar manche Völker haben, auch völlig zivilisierte. Als ich vor drei Jahren den Häuptling zum letzten Male sprach, sagte er mir geheimnisvoll, Arahuaskar – so heißt der Knabe – sei jetzt vierzehn Jahre alt, und der Waffenmeister müsse bald sterben.«

»Der Name Arahuaskar erinnert an die Zeiten der alten Inkas,« sagte Ellen.

»Und seine Schwester sei dreizehn Jahre alt,« fuhr Betty fort. »Es ist gar nicht so unmöglich, daß etwas Wahres daran ist. Warum sollten nicht von einem Medizinmann und einem Häuptling zwei Kinder erzogen werden, welche als Abkömmlinge der mächtigen Apalachen ausgegeben werden, und betreffs deren man dem Volke vorredet, sie würden es wieder zum alten Glanze bringen? Dann folgen die Indianer ihnen mit fanatischem Mute in den Kampf; jeder Hader zwischen ihnen muß schweigen, und verlieren sie doch, was gar nicht anders möglich ist, so wird der junge Krieger als falscher Prophet betrachtet, und die ihm eben noch zugejubelt haben, töten ihn. Die Geschichte kennt ähnliche Beispiele.«

»Und wie alt soll der Waffenmeister sein?« forschte Ellen weiter, welche sich für solche Sagen wilder Stämme höchlichst interessierte.

»Der Häuptling schätzte ihn auf über hundert Jahre, aber andere sagen, er wäre dreihundert Jahre alt.«

Die Mädchen hatten die Gegend genau abgesucht, und zwar noch mehrere Gegenstände gefunden, aber keine Menschen, auch kein Haus und keine Hütte gesehen. Auf den Ruf Ellens versammelten sie sich um ihre Kapitänin und hörten dem Vorschlage derselben zu.

Die Hälfte der Mädchen sollte in einem Boot nach Matagorda fahren, die anderen hier bleiben und die ›Vesta‹ vor räuberischen Uebergriffen der Strandbewohner schützen. Aber an Bord des gestrandeten Schiffes zu bleiben, war zu gefährlich; leicht konnte es von einem Sturme von dem Felsen herabgeworfen und zerschmettert werden.

Die zurückbleibenden Mädchen sollten sich daher mit Werkzeugen versehen und am Strande eine Hütte errichten. In spätestens vier Tagen würde Ellen, wenn kein neues Unglück sie beträfe, mit Hilfsmannschaften zurückkehren. Schon jetzt ermahnte sie die Freundinnen, allen Feinden energisch, mit der Waffe in der Hand, entgegenzutreten und immer auf ihrer Hut zu sein.

Sie begaben sich an den Strand zurück.

Da entfuhr ein Schreckensschrei den Lippen aller – die Boote waren fort, zwischen der Klippe aber, nahe der ›Vesta‹ fuhr ein Fischerfahrzeug und schleppte die beiden geraubten Boote.

Außer sich riß Ellen die Büchse von der Schulter, aber noch ehe sie den Kolben an der Wange hatte, um die Räuber wenigstens mit einer Kugel bestrafen zu können, bog das erste Boot um die Felsen, auf denen die ›Vesta‹ lag, und die Ruderer waren in Sicherheit, die Zurückgebliebenen hörten noch ihr höhnisches Lachen.

»Es sind Strandbewohner,« rief Miß Thomson, »sie werden die ›Vesta‹ plündern.«

Ellen blickte starr nach derselben, den Kolben des Gewehres noch immer an der Wange, weil sie hoffte, die Fischer würden sorglos das Deck erklettern und könnten dann sofort mit Kugeln begrüßt werden. Aber die Leute waren schlau. Vorläufig zeigten sie sich noch nicht, oder sie hatten das Schiff bereits unbemerkt erstiegen.

Da sah Ellen, wie ein großes, gelbes Tier an Deck hin und hersprang.

»Juno,« rief sie, die Hand emporstreckend.

Die Löwin hörte den Ruf, zögerte einen Augenblick, brüllte laut auf und stürzte sich dann in das Wasser, dem Ufer zuschwimmend.

Ellen wollte sie nicht den meuchlerischen Kugeln der Räuber aussetzen; sie konnte das Tier vielleicht noch gebrauchen.


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