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3.

Schiffbruch.

Kap Horn! Schrecklicher Name für einen Seemann. Es gibt wohl schwerlich einen Menschen, der sein Gewerbe auf dem Meere betreibt, der beim Klange dieses Namens nicht an den Verlust eines teuren Kameraden denkt.

Es ist, als ob auf der Südspitze Amerikas ein Fluch läge, als ob dieser Weltteil nicht wolle, daß er umsegelt werde, denn zahllos sind die Schiffe, welche bei dem Versuch, um die Landspitze zu kommen, zu Grunde gegangen sind, und nicht immer ist die Mannschaft gerettet worden.

Nicht allein der dort fast immer hausende Sturm, verbunden mit schneidender Kälte und Schneegestöber, undurchdringlicher als Nebel, ist an der Dezimierung der Schiffe schuld; gerade hier treten meist Unfälle ein, welche sonst nur selten den Schiffen drohen. Diese sind: Explosion von feuergefährlicher Ladung, Selbstentzündung von Kohlen, Umsturz des Ballastes, wodurch das Schiff kentert u. s. w.

Gerade letzteres ereignet sich bei Kap Horn häufig.

Die Westküste von Südamerika versorgt fast die ganze Welt mit Salpeter; ungezählte Schiffe nehmen dort denselben als trockene, pulverige Masse ein, und zwar so, daß er einfach in den Kielraum bis an das Deck hinauf aufgeschichtet wird. Man stampft den Salpeter nicht zusammen, sondern er bleibt eben liegen, wie er fällt. Es entsteht dadurch eine Ladung, welche unten das ganze Schiff ausfüllt, oben aber in einem Kamme spitz zuläuft. Der trockene Salpeter zieht Wasser an, wird aber dadurch nicht weich, sondern im Gegenteil ganz hart, und bildet eine feste Kruste.

Bricht der Kamm der Masse während der Fahrt ab und stürzt an der Seite herab, so muß das Schiff unwiderruflich kentern, so beträchtlich wird das Gleichgewicht gestört. Doch dieses kommt natürlich sehr selten vor, sonst würde man den Salpeter sorgfältiger laden, etwa in Säcken und diese gleichmäßig verstauen. Passiert es aber doch, dann ist fast immer die Nähe von Kap Horn als Unglücksstätte ausgewählt.

Nirgends in der Welt wüten so heftige Stürme, wie dort, und nirgends findet man einen so heftigen und ungleichmäßigen, oft von allen Seiten zugleich kommenden Seegang, wie dort. –

Wieder einmal hatte ein furchtbarer Sturm das Meer bis in die Tiefe aufgewühlt, und zum zweiten Male dampfte der ›Amor‹ mit geknickter Takelage, wie ein flügellahmer Vogel anzusehen, seinen Weg nach Norden hinauf.

Gestern hatte er noch stolz die Landspitze umsegelt; der Morgen, der ihn dem Norden und Guanosaca zuführen sollte, fand ihn als ein halbwrackes Fahrzeug – Kap Horn hatte der Brigg einen Denkzettel mitgegeben.

Erschöpft standen die Herren an Deck, die Hände von allzuschwerer Arbeit blutend, einige mit Binden um den Kopf, denn die herabfallende Takelage, Stücke von Raaen, Segel und Stricke hatten manchen der Herren verletzt, aber kein Menschenleben war zu beklagen, die Verwundungen waren unbedeutend, und so war auch die Stimmung keine niedergedrückte.

Das ist einmal das Los, welches jedem droht, der sich auf die See wagt; so lange man noch mit ungebrochenen Gliedern aus dem Sturm hervorgeht, hat alles andere nichts zu bedeuten.

Das einzige, was die Engländer bedrückte, war die Unkenntnis über das Schicksal der ›Vesta‹. Sie hatten das Vollschiff nun schon seit zwei Wochen nicht gesehen, aber es war doch anzunehmen, daß es sich auch in diesen Breiten befand, also auch in die Regionen des Sturmes gekommen war, und als Segelschiff mit ungeheuer hoher Takelage, im Vergleiche zu der die des ›Amor‹ verschwand, mußte es ungleich härter mitgenommen worden sein, als dieser.

Gar manchem Segler begegnete der ›Amor‹ am Tage nach dem Sturm, aber ach, wie sahen alle die stolzen Schiffe ohne Ausnahme aus!

Die Masten waren bis zum Rumpf gekürzt. Einige hatten überhaupt keine Raaen mehr. Notsegel waren aufgezogen, und oft glich das Deck einem glatten Tanzboden, kein Haus, kein Boller, kein Steuerrad mehr darauf, alles von der See abgewaschen, das Ruder mußte mühsam mit Stricken regiert werden, und nur zu oft bekamen die Engländer fernerhin Schiffe in Sicht, deren Mannschaft an den Pumpen standen und hastig die Räder drehten, um das Schiff wenigstens so lange über Wasser zu halten, bis der nächste Hafen erreicht worden war.

Aber die Engländer warteten vergebens darauf, von so einer hilfsbedürftigen Mannschaft um Aufnahme gebeten zu werden. Ein Kapitän gibt nicht so schnell sein Schiff und die wertvolle Ladung auf, besonders nicht hier, in der Nähe der Küste, und das Schleppen durch einen Dampfer kostet immer schweres Geld.

Langsam wie die Schnecken krochen die beschädigten Schiffe der Küste entlang, dem nächsten Hafen zustrebend, und immer bereit, wenn das Wasser im Kielraum zu sehr steigen sollte, so daß ein Sinken des Schiffes, nicht mehr zu umgehen war, auf Grund zu laufen.

»Was wird das Los der ›Vesta‹ sein?« dachte mancher der Engländer seufzend. »Werden die Mädchen den Sturm glücklich überstanden haben, und wenn von ihnen doch eine den Elementen zum Opfer gefallen sein sollte, welche wird es sein?«

Wieder kam dem ›Amor‹ ein Schiff entgegen, ein holländischer Segler. Daß es ein solcher war, konnte man an keiner Flagge sehen, denn die Fahnenstange war abgebrochen, aber einmal verrieten die Bauart, die eigentümliche Form des Rumpfes und mehr noch als dieses die Konstruktion der Pumpen, die Herkunft des Schiffes. Die Holländer haben nämlich an ihren Pumpen stets eine Windmühle angebracht, welche das Umdrehen des Rades besorgt und somit das Wasser auspumpt, ohne daß Mannschaft dazu nötig wird. Auch die skandinavischen Schiffe haben oft dieselbe Einrichtung, die holländischen aber durchweg, und es ist sonderbar, daß die Schiffe anderer Nationen diese sinnreiche Einrichtung nicht ebenfalls anwenden.

Es ist zu bemerken, daß die hölzernen Schiffe allesamt immer etwas lecken, weshalb man jede Woche mindestens eine Stunde pumpen muß – eine dem Matrosen sehr lästige Arbeit, die er manchmal verflucht. Bei hohem Seegang leckt das Schiff mehr, als bei ruhigem Wetter, nach einem Sturme am allermeisten, ohne daß es gerade undicht geworden zu sein braucht. Nach und nach schließen sich meist die entstandenen Fugen wieder, tun sie es nicht, dann erst sagt man, das Schiff habe ein ›Leck‹.

Die holländische Bark war vom Sturme etwas mehr verschont geblieben, als andere Schiffe. Ihr Vormast stand noch. Keine Raa fehlte. Nur der Besanmast, der hinterste, war etwas gekürzt, und der mittelste Mast, der Großmast, war abgebrochen, vielleicht von der Mannschaft selbst gekappt worden, um dadurch das Schiff retten zu können.

Im Fallen hatte er die eine Seite der Bordwand zerschmettert, sonst war das Schiff unbeschädigt und vollkommen segel- und manövrierfähig.

Es lief mit dem Winde, gegen welchen der ›Amor‹ anzudampfen hatte.

»Er heißt am Vormast Flaggen,« rief Lord Harrlington, »er will uns ein Signal geben.«

Das Signalbuch ward aus dem Kartenhaus geholt und die Verstandenflagge auf dem ›Amor‹ hochgezogen, das Zeichen, daß man bereit sei, das Signal abzulesen.

Auf dem Holländer flatterten eine Reihe von Wimpeln in der Luft.

»Kommt in Rufweite, es fehlen uns Flaggen!« las Harrlington ab.

»Der Holländer ist nicht mehr im Besitz aller Flaggen,« erklärte Harrlington, »der Sturm wird ihm die betreffende Kiste geraubt haben. Er will uns aber eine Mitteilung machen; wir müssen also an ihn heranfahren.«

Er gab die geeigneten Befehle. Der ›Amor‹ änderte etwas den Kurs und dampfte auf die Bark zu. Zu weit durfte er sich dem Schiffe nicht nähern, denn der Seegang war noch immer sehr hoch, aber eine deutliche Verständigung mittelst des Sprachrohrs doch möglich, als der ›Amor‹ querab von dem Holländer lag, Gegendampf gab und rückwärts fuhr, mit der Bark gleiche Fahrt haltend.

Der Kapitän stand auf der arg beschädigten Kommandobrücke, das Sprachrohr in der Hand; die Matrosen waren an Deck mit Reparaturen beschäftigt, nähten Segel, und einige unterstützten auch noch die selbsttätige Pumpe. Die Bark mußte also stark lecken.

»Was für ein Dampfer ist das?« drang es in jenem eigentümlichen, durch Luftschwingungen erzeugten Tone aus dem Sprachrohr zu Lord Harrlington herüber.

»Der ›Amor‹, Lustfahrzeug des englischen Yachtklubs ›Neptun‹, Insel Wight,« erwiderte Harrlington.

Der Kapitän lüftete die Mütze, eine Frage nach dem Führer dieser Brigg war nicht nötig. Derartige Lustfahrzeuge haben keinen Kapitän von Profession, der befähigteste Mitbesitzer des Schiffes wird als solcher gewählt – das war ihm wohlbekannt.

»Bark ›Marie‹, Amsterdam, Kapitän Niedenbrock,« stellte der Kapitän sein Schiff und sich selbst vor. »Wir kommen von Sant Blas mit Holz. Heute morgen 6 Uhr 15 Minuten sahen wir in der Morgendämmerung westlich von uns Raketen aufsteigen und hörten das Nebelhorn heulen. Der Sturm hatte nachgelassen, aber es war neblig und der Seegang hoch; ich versuchte nach dem hilfsbedürftigen Schiffe zu kreuzen, konnte aber bei dem Nordwinde nicht aufkommen. Nach einer Stunde gab ich den Versuch auf. Der ›Amor‹ ist das erste Schiff, dem ich begegne. Kapitän, ich bitte Euch, dampft nach der Stelle, welche ich Euch jetzt so genau als möglich angeben werde.«

Harrlington griff nach Papier und Bleistift und erklärte sich bereit, das Schiff aufsuchen zu wollen.

»Ich konnte den Ort nicht genau bestimmen,« fuhr der Kapitän durch das Sprachrohr fort, »kann Euch also nur meine Fahrt angeben. Paßt auf: Zehn Minuten nach 7 Uhr nahm ich die Fahrt nach Süden wieder auf und steuerte direkt südlich, aller Viertelstunden loggend. Die ›Marie‹ fuhr erst 9 Knoten, dann, 10, 10, 9, 8, 8 und jetzt wieder 9 Knoten. Was ist die genaue Uhrzeit jetzt?«

»Zwei Minuten vor neun Uhr,« antwortete Harrlington.

»Stimmt mit meiner Uhr,« erscholl es wieder vom Holländer herüber, »rechnet aber nicht 14 Knoten, sondern 15. Nach Osten sind wir einen Viertelstrich abgetrieben. Genügt das, um den Ort ungefähr finden zu können?«

»Es genügt, danke Euch, Kapitän! Wohin fahrt Ihr, damit ich Euch Nachricht geben kann, ob mir die Rettung geglückt ist?« rief Harrlington.

»Wir laufen den Hafen von Adelaide an und gehen dort in Dock. Bitte, benachrichtigt mich!«

»Braucht Ihr Hilfe?«

»Nein, die ›Marie‹ hat Holz geladen, sie kann nicht sinken. Beeilt Euch! Wie ist Euer Name?«

»Lord Harrlington, England.«

»Dann Gott befohlen, möge er Euch vergelten, daß Ihr meinen Kameraden beistehen wollt!«

Noch einmal grüßte der Kapitän mit der Hand, die englischen Herren schwenkten die Mützen, dann stoppte die rückwärts arbeitende Schraube des ›Amor‹, und schon nach einigen Minuten hatte die Brigg das holländische Schiff hinter sich gelassen.

»Loggen«, kommandierte Harrlington, den Apparat mit welchem man die Schnelligkeit eines fahrenden Schiffes mißt, hinten am Heck befestigend und als Kurs Norden mit einer kleinen Abweichung nach Westen angebend.

Die Logg-Vorrichtung besteht aus einer Leine, einer Rolle, einem Brettchen und einer sogenannten Sanduhr. Die Leine ist durch eingeschlagene Knoten geteilt, und je ein Teil bezeichnet eine Meile oder, wie der Seemann sagt, einen Knoten. Vorn ist ein Brettchen befestigt, welches unten mit Blei beschwert ist, so daß es, wenn es ins Wasser geworfen wird, in demselben senkrecht schwimmend steht, es folgt demnach nicht dem wegfahrenden Schiff, sondern bleibt an einer Stelle. Die Leine läuft an einer Rolle, und so viele Knoten, wie dem Matrosen durch die Hand gleiten, während der Sand der Sanduhr in den leeren Glasbehälter rinnt, so viele Knoten macht das Schiff. Es ist keine Umrechnung nötig, die Sanduhr und die Leine sind so gearbeitet, daß die Menge der Knoten in der Leine sofort die richtige Zahl der zurückgelegten Meilen in der Stunde angibt.

Eine neuere Einrichtung ist die, daß an einer Leine eine Schraube, nach Art der Schiffsschrauben konstruiert, im Wasser nachschleppt. Dadurch setzt sich die Schraube in Umdrehung, mit ihr die Leine, diese endigt in einer Uhr, welche nun durch Zeiger die zurückgelegten Meilen anzeigt.

Eine Vorrichtung letzterer Art besaß auch der ›Amor‹.

»Wir fahren 14 Knoten in der Stunde,« meinte Harrlington zu Hastings, dem ersten Steuermann, nach Besichtigung der Logguhr. »In einer Stunde müßten wir uns ungefähr da befinden, wo die ›Marie‹ die Raketen hat aufsteigen sehen. Da aber das hilfsbedürftige Schiff, wenn es noch auf dem Wasser schwimmt, vom Winde uns entgegengetrieben wird, so können wir darauf rechnen, es schon eher zu sehen. Wir wollen daher schon jetzt scharf Ausguck halten. Hoffen wir, daß es der Mannschaft gelungen ist, sich über Wasser zu halten, und daß wir das Schiff finden, wenn es auch nur ein Wrack ist.«

»Die Leute müssen in einer gefährlichen Lage gewesen sein, sagte Lord Hastings, »sonst hätten sie nicht Raketen steigen lassen. Es ist auch leicht möglich, daß die Mannschaft, da sie keine Hilfe erhielt, ihre Rettung in den Booten versucht hat und wir ein leeres Wrack oder auch dieses nicht mehr finden.«

»Wir wollen uns nicht mit Befürchtungen quälen,« entgegnete Harrlington, »sondern das tun, was in unserer Kraft liegt. Stoßen wir auf ein Wrack ohne Mannschaft, dann suchen wir heute und auch noch diese Nacht unter Aussendung von Raketen das Meer ab, um die in den Booten befindliche Mannschaft zu retten; sehen wir auch kein Wrack mehr, dann wollen wir ebenfalls noch suchen, in der Hoffnung, daß sich die Leute doch in Boote gerettet haben, das Schiff aber gesunken ist. Mehr können wir nicht tun, das andere muß Gott überlassen bleiben. Wir haben nichts zu versäumen. Einen Tag können wir also zum Suchen der Schiffbrüchigen opfern, vielleicht, wenn wir es für gut befinden, auch noch mehr.«

Alle Herren wurden an Deck verteilt und mußten mit Hilfe von guten Ferngläsern den Horizont abspähen. Der Nebel war gefallen, der klare Morgen gestattete eine weite Fernsicht, und es war nicht so leicht möglich, daß den scharfen Augen der jungen Sportsleute ein Wrack entging, ja, selbst schwimmende Schiffsplanken hatten ihre Aufmerksamkeit erregt.

»Hier ungefähr hat die ›Marie‹ die Raketen aufsteigen sehen,« rief eine Stunde später Harrlington. »jetzt aufgepaßt!«

Der ›Amor‹ dampfte langsamer, und die Herren strengten ihre Augen noch mehr an.

Eine Viertelstunde verging, und noch war nichts bemerkt worden. Die Herren tauschten schon untereinander Bemerkungen aus, daß das Schiff entweder bereits von einem anderen Dampfer weggeschleppt worden oder vielleicht auch gesunken war.

»Wir müssen Bogen fahren,« erklärte Harrlington und ließ den ›Amor‹ in weitem Bogen dampfen, bald nach links, bald nach rechts, wodurch eine viel weitere Umschau ermöglicht wurde.

Aber auch dies war vergeblich, nichts war zu erblicken.

»So bleibt uns nur noch übrig, nach den Booten zu suchen,« sagte Harrlington niedergeschlagen, »und zwar müssen wir östlichen Kurs einschlagen, denn wenn die Mannschaft sich in Booten gerettet hat, so versuchten sie sicher, die Küste zu gewinnen. Lassen Sie Osten steuern, Lord Hastings!«

»Halt,« rief da plötzlich Sir Hendricks, »ist das dort ein toter Fisch, der mit den Rückenflossen aus dem Wasser heraussieht, oder ein anderer Gegenstand?«

Aller Augen wandten sich der bezeichneten Richtung zu und sahen etwas aus dem Wasser ragen, was wirklich den Flossen eines großen Fisches ähnlich sah, etwa denen eines sehr großen Haies.

»Es ist der Kiel eines gekenterten Bootes,« rief jedoch Lord Harrlington, welcher nicht so getäuscht wurde, wie es fast immer bei denen geschieht, welche ein gekentertes Boot zum ersten Male sehen.

Der ›Amor‹ durchfuhr die Strecke von einigen hundert Metern und setzte ein Boot aus. Sir Williams befestigte einen Haken an einem Tau, und mit Hilfe der Winde wurde das Boot durch die vereinten Kräfte der Herren emporgezogen.

Kaum ragte es zur Hälfte aus dem Wasser heraus, so entfuhr fast gleichzeitig ein Schreckensruf den Lippen aller.

Das Boot war weiß angestrichen, und hinten stand in goldverzierten Buchstaben der Name ›Vesta‹.

»Ein Boot der ›Vesta‹,« stammelte Harrlington mit bleichen Lippen, »und ohne Korkfassung.«

Die Boote der ›Vesta‹ konnten ebenso, wie die des ›Amor‹ mit einem Korkgürtel umgeben werden, um bei hohem Seegang das Boot vor Kenterung zu bewahren, gewöhnlich war aber diese Schutzvorrichtung nicht daran, denn sie hinderte die Schnelligkeit der Fahrt.

Lange Zeit wagte niemand zu sprechen. Alle starrten sprachlos, entsetzt das weiße Boot an, welches zur Hälfte in der Luft hing und beim Schlingern des ›Amor‹ jedesmal dröhnend an den Schiffsrumpf schlug. Sie konnten die Augen nicht von den schwarzen Buchstaben ›Vesta‹ wenden.

»Die ›Vesta‹ hat Schiffbruch erlitten,« murmelte endlich Lord Hastings.

»Ziehen Sie das Boot völlig an Deck!« sagte dann Harrlington. »Wir wollen es untersuchen.«

Es wurde hochgewunden, die Davits, in denen die Boote hingen, eingeschwungen und das Fahrzeug lag an Deck. Es enthielt nichts weiter, als die Sitzbretter, alles andere war heraus, die kupfernen Dollen, in denen die Riemen bewegt wurden, das Steuerruder und jede andere Ausrüstung.

»Die Damen haben es bei dem Sturme versucht, sich in Booten zu retten,« sagte Harrlington mit zitternder Stimme. »Es ist der Kutter der ›Vesta‹ den wir hier vor uns haben. Er wurde von den Damen mit zwölf bis vierzehn Personen besetzt, also muß noch ein anderes Boot bemannt worden sein. Und beim Himmel,« rief Harrlington laut und sich emporrichtend, »ich will nicht eher ruhen, als bis ich dieses andere Boot gefunden habe.«

Die plötzliche Energie, welche Harrlington entwickelte, vermochte nicht die übrigen Herren in eine andere Stimmung zu bringen. Bis zum Tode erschrocken über das Resultat ihrer Untersuchung waren sie alle. Die Herzen einiger wurden aber von einer namenlosen Verzweiflung erfaßt, und derjenige, welcher sonst jedes Unglück als unabwendbar gleichmütig ertrug, brach diesmal wie gebrochen zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen – Charles Williams.

Er war außer sich, er wollte nicht auf die Trost- und Hoffnungsreden hören, er glaubte vor Schmerz vergehen zu müssen.

»Tot – tot,« murmelte er wieder und wieder unter hervorbrechenden Tränen, »alles dahin!«

Aber es mußte schnell gehandelt werden. Vielleicht trieb das andere Boot, vielleicht deren mehrere – denn die Vestalinnen hatten die Sklavinnen sicher nicht im Stich gelassen – auf offener See umher, und die Insassen warteten sehnsüchtig auf ein nahendes Schiff.

Wieder begann der ›Amor‹ unter der Leitung Harrlingtons große Bogen zu fahren, jetzt aber mehr auf die Westküste Südamerikas zuhaltend, von der sie dreihundert Meilen entfernt waren.

Noch einmal stießen sie auf eine weißgestrichene Tonne, welche ebenfalls, wie alles an Bord dieses Schiffes, den Namen ›Vesta‹ eingebrannt führte. Es war dieses wieder ein Zeichen, daß die ›Vesta‹ gesunken war, und zwar in dieser Gegend, und um jede Hoffnung auszuschließen, fand man auch noch einige Planken des Schiffes auf dem Meere.

In einigen Herren, darunter auch in Harrlington, war als letzter Hoffnungsstrahl der Gedanke geblieben, daß das Boot nur durch Wogen losgerissen worden wäre, besonders, weil die Korkeinfassung an demselben fehlte, jetzt aber durfte man sich keiner solchen Hoffnung mehr hingeben, und als Männer sprachen die Engländer offen ihre Vermutung über die ›Vesta‹ und das Schicksal der Damen aus.

Die ›Vesta‹ war jedenfalls, wie es oft geschieht, von den eigenen Masten leck gerammt worden, welche der Sturm über Bord geworfen hatte und deren Taue von der Mannschaft nicht schnell genug gekappt werden konnten. Das Schiff sank rasch, es war keine Zeit mehr, die Boote mit dem Kork zu bekleiden, sie wurden einfach ins Wasser gelassen und notdürftig ausgerüstet. Die Mädchen nahmen in den schwankenden Nußschalen die Fahrt nach der Küste auf.

Eins der Boote hatten die Herren bereits gefunden. Es war gekentert, und die unglücklichen Insassen mußten ertrunken sein, denn selbst wenn das andere Boot in der Nähe gewesen wäre, war bei dem hohen Seegang doch eine Aufnahme der im Wasser Schwimmenden nicht möglich gewesen.

Hatte sich das andere Boot oder die anderen Boote gehalten? Oder war ihr Suchen fruchtlos, ruhten die jungen Mädchen auch schon auf dem Meeresboden? Diese Fragen schnürten die Brust der Engländer zusammen, während der ›Amor‹ dem Osten der Küste zustrebte.

Unablässig spähten die Herren durch Fernrohre den Horizont ab, jedes ihnen begegnende Schiff wurde gefragt, ob es ein bemanntes Boot ›aufgefischt‹ oder ein leeres, gekentertes oder ob sie überhaupt eins gesehen hätten, es war alles vergeblich – weder entdeckte der Amor die Schiffbrüchigen, noch erfuhr man von fremden Schiffen über den Verbleib derselben.

Die Nacht brach an und fand die trostlosen Männer noch immer bei ihrer Arbeit. In der Finsternis wurden Raketen zum Himmel aufgeschickt. Bei Nebel ertönte ununterbrochen die Dampfpfeife, um dem Boote ein Zeichen zu geben – nichts. Am Morgen sahen sich die Männer mit bleichen Gesichtern an, sie wußten, sie durften keine Hoffnung mehr haben, aber keiner sagte es dem anderen; sie trösteten sich gegenseitig.

Und wieder wurde den ganzen Tag das Meer abgesucht, ebenso die kommende Nacht, und am anderen Morgen beleuchtete die Sonne ein wildes, zerklüftetes Gestade – die Küste von Chile.

Das bloße Auge schon konnte dort ein kleines Dorf liegen sehen, wahrscheinlich ein Fischerdorf, denn zahlreiche, bemastete Fahrzeuge schaukelten sich in einer Bucht. Dahin beschlossen die Herren erst einmal zu fahren.

»Es könnte sein,« hatte Lord Harrlington gesagt, »daß das Boot die Küste erreicht hat – hoffen wir es! Es wäre zwar wunderbar, aber diese Fischer, welche weit längs der Küste fischen, können vielleicht erfahren haben, daß irgendwo ein Boot mit Schiffbrüchigen angelaufen ist, so etwas pflanzt sich schnell an der ganzen Küste fort. Hören wir hier nichts, so führen wir direkt nach Valdivia, gehen zum englischen Konsul und setzen eine Summe aus für die Mitteilung, daß irgendwo ein Boot mit Schiffbrüchigen landen gesehen worden ist. Für eine schnelle und weite Verbreitung der Ausschreibung müssen wir Sorge tragen. Das ist das einzige Mittel, wie wir am schnellsten erfahren können, ob ein Boot gerettet worden ist. Der Konsul wird das Seinige dazu tun, daß alle Seemannsämter der Welt veranlaßt werden, jedes Schiff zu fragen, ob es ein Boot mit Damen aufgenommen hat. Dann müssen wir in Valdivia warten, bis wir die Depeschen erhalten.

In dem kleinen Fischerdorfe, welches die Herren in Booten besuchten, erfuhren sie nichts. Die Fischer hatten bei dem letzten Sturm selbst Kameraden verloren und trauerten um dieselben. Man hinterließ ihnen, daß sie sofort nach Valdivia berichten sollten, wenn sie noch etwas erführen, Gutes oder Schlimmes, wenn zum Beispiel die Leichen der Mädchen an die Küste getrieben würden. Ein reiches Geschenk veranlaßte die armen Fischer zu der Beteuerung, sie wollten die ganze Küste von Chile absuchen und von jetzt ab nur noch mit den längsten Netzen fischen – eine Bemerkung, welche die Herren erschaudern machte.

Der ›Amor‹ steuerte nach Valdivia.

Sie waren nicht mehr weit ab von diesem chilenischen, großen Hafen. Sie glaubten, gegen Abend den Leuchtturm desselben sehen zu können, als sie von einem spanischen Fischerfahrzeug, das sich dem ›Amor‹ zu sehr genähert hatte, beinahe am Heck gerammt worden wären.

Ein Zusammenstoß wäre für den aus Stahl gebauten ›Amor‹ ohne jede Bedeutung, für das hölzerne Fahrzeug aber verderblich gewesen. Doch gelang es den beiden im Boote befindlichen Fischern noch rechtzeitig, durch ein geschicktes Segelmanöver des Klüvers das Boot frei zu bekommen.

Lord Harrlington stand am Heck, beugte sich weit über die Brüstung und beobachtete mit Interesse das kühne, schnelle Handeln der beiden Männer.

»Nehmt euch in acht vor der Schraube,« rief er auf spanisch hinunter, denn das Boot geriet in die Strudel, welche jedem Dampfer nachfolgen, und es fing an, stark zu schwanken.

»Ay, Ay, Senor,« lachte der eine Mann unten fröhlich, »hat nichts zu bedeuten.«

Dann sprang der Fischer, dem nach überstandener Gefahr sofort sein Geschäft wieder einfiel, hinter ins Boot und hob einen Eimer empor, der mit Fischen angefüllt war.

»Makrelen, Senor, frischgefangene Makrelen, zart wie Milch,« rief er.

Wie außer sich stürzte Lord Harrlington plötzlich nach dem Sprachrohr und schrie dem Heizer zu, die Maschine stoppen zu lassen. Der Eimer, der ihm entgegengehalten worden, war weiß angestrichen, und an der Seite stand der Name der ›Vesta‹.

»Komm an Bord,« sagte der Lord zu dem Fischer mit vor Aufregung bebender Stimme, »ich will die Fische kaufen. Nein, nein,« rief er dem Manne zu, welcher die Fische in ein Netz schütten wollte, »bringe den Eimer mit herauf!«

Verwundert schaute der Fischer auf, kam aber dann der Aufforderung nach. Er schwang sich an einem zugeworfenen Tau an Deck des stilliegenden Dampfers und zog den Eimer mit Fischen nach.

Mit klopfendem Herzen umstanden die Herren dieses neue Andenken an die Vesta! Würde man jetzt etwas von dem Verbleibe der Damen erfahren? Vielleicht aus dem Munde dieses spanischen Fischers?

Lord Harrlington sagte dem Spanier, der seine Waare mit geläufiger Zunge anpries, daß er die Fische kaufen würde, doch erst sollte er ihm erklären, wie er zu diesem Eimer käme.

»Heute morgen sah ich ihn auf dem Wasser schwimmen, als ich fischte,« war die Antwort.

»Hast du nichts weiter gefunden?«

»Nein.«

»Kannst du diesen Namen lesen?« fragte Harrlington, auf die schwarzen Buchstaben deutend.

Der Spanier schüttelte lächelnd den Krauskopf, er verstand diese Kunst nicht.

»Er heißt ›Vesta‹,« erklärte Lord Harrlington, »hast du vielleicht gehört, daß ...«

»Ay, ›Vesta‹,« rief der Spanier mit allen Zeichen des Erstaunens, »gewiß, die Senorita ist auf der ›Vesta‹ gewesen, die Stephano aus den Wellen gezogen hat.«

Atemlos hatten die Umstehenden diese Worte vernommen, ihre Herzen gedachten zu zerspringen. Fast wäre Harrlington auf den Spanier zugestürzt, um ihn zu packen, weil dieser tat, als wolle er das Schiff wieder verlassen.

Aber er war nur an die Bordwand getreten.

»Wo ist die Senorita, wer ist Stephano?« stieß Harrlington mühsam hervor.

»Stephano da kann's erzählen,« antwortete der Fischer, auf seinen Kameraden im Boot deutend.

Nach wenigen Augenblicken stand der Gerufene an Deck.

»Hast du eine Dame aus dem Wasser gerettet? Wann? Wie hieß sie? Wie sah sie aus? Lebt sie noch? Wo ist sie?« So klang es von allen Seiten gleichzeitig, bis Lord Harrlington das Verhör übernahm und erfuhr, daß Stephano vor zwei Tagen, nach einer sehr stürmischen Nacht, weit draußen im Meere gefischt habe.

Da sah er mit einem Male auf den Wogen einen Menschen treiben, der sich an ein Stück Mast klammerte. Nach langem Bemühen gelang es Stephano, an den Schwimmenden heranzusegeln, ohne daß sein gebrechliches Fahrzeug von dem Maste getrennt wurde. Als er den Menschen im Boote geborgen hatte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß es ein in einen Männeranzug gekleidetes Mädchen war.

Jetzt konnten die Herren ihre Zungen nicht mehr im Zaume halten, sie unterbrachen den Erzähler, fragend, wie das Mädchen ausgesehen hätte.

Der Fischer lächelte verlegen.

»Eben wie ein Mädchen, sie hatte lange Haare, kleine Hände und Füße.«

»Wie sah das Haar aus?« fragte Harrlington ungeduldig.

»Hellblond, und wenn ich nicht irre, hatte sie tiefblaue Augen.«

»War sie klein?« fragte Williams hastig.

»Nein, eher groß.«

»Ihr Name, ihr Name?« drängte Harrlington.

Der Fischer griff bedächtig unter das auf der Brust offene Hemd.

»Ehe sie mit ihrem Freunde, den sie traf, nach Villa Rica abreiste, schenkte sie mir ein Andenken und sagte, sie würde es einst wieder einlösen. Ich glaube es ihr, denn ihr Begleiter gab mir zehn Goldstücke, nur so zum Geschenk, damit ich mir ein neues Boot kaufen könne. Also muß die schöne Senorita sehr reich sein.«

Der Spanier brachte eine kleine goldene Kapsel zum Vorschein.

»Miß Petersen,« riefen zwei Stimmen zugleich, und zwei Hände streckten sich gierig nach dem Kleinod aus. Doch ehe sie es noch erfaßt hatten, blieben sie mitten in der Bewegung halten, und die beiden Besitzer der Hände sahen sich an – es waren Lord Harrlington und John Davids.

Wie hatte sich letzterer seit drei Tagen verändert! Lord Harrlington erkannte es mit Entsetzen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Züge waren eingesunken, die Backenknochen traten weit hervor – das ganze Gesicht zeigte etwas Gespensterhaftes.

»Es ist das Medaillon von Miß Petersen, welches sie immer an der Uhrkette trug,« sagte Davids, sich zur alten Ruhe zwingend, und zog die Hand zurück.

Harrlington kannte diese herzförmige Kapsel sehr gut. Im nächsten Augenblick hielt er sie in der Hand, ein Druck auf die Feder, und der Deckel sprang auf.

Plötzlich wurde der Lord purpurrot im Gesicht, aber zugleich schoß ein Strahl von Seligkeit über dasselbe; er griff mit der Hand an sein Herz und schlug die Augen zum Himmel auf, das Medaillon enthielt sein eigenes Bild, mit Oelfarbe in Miniatur gemalt.

Dann trat er auf Davids zu und zog ihn etwas abseits.

»Mister Davids,« sagte er, »ein ebensolches Bild besitzen Sie von Ellen. Wollen Sie mir jetzt erklären, wie Sie in den Besitz desselben kamen? Sie boten mir oft an, diese Erklärung zu geben, ich aber schlug sie stets ab.«

»Sie können es erfahren,« entgegnete Davids. »Ich selbst habe dieses, Ihr Bild gemalt, auf Wunsch von Miß Petersen, welche es besitzen wollte. Als Dank bat ich um die Gunst, auch sie malen zu dürfen, um ein Andenken von ihr zu haben. Sie gestattete es mir, unter der Bedingung, daß sie das Bild jederzeit von mir zurückfordern könne.«

Erschüttert trat Lord Harrlington zu dem Fischer zurück und hörte dessen weiteren Erzählungen zu. Es war allen anfangs unbegreiflich, daß Miß Petersen nach einer Hazienda in der Nähe von Villa Rica gereist sei, ohne sich vorher um das Schicksal ihrer Freundinnen gekümmert zu haben. Doch der Fischer gab die nötige Aufklärung.

»Die Senorita war vollständig erschöpft, als ich sie in mein Boot nahm, und auch, als ich dort in jener Nebenbucht, wo mein Fahrzeug immer liegt, landete, war sie noch ohne Bewußtsein, lebte aber.

»Sehen Sie dort das schöne Haus stehen?« fuhr der Fischer fort, auf einen weißen Punkt fern im Lande deutend, wo schon die grüne Vegetation anfing. Es mußte ein Haus sein, denn die Sonne brach sich in den Fensterscheiben. »Dorthin brachten wir die ohnmächtige Senorita, und ein Herr, der dort zum Besuch war, nannte sie eine alte Bekannte. Am anderen Tage brachen beide nach der Hazienda des Don Alappo auf, welche bei der Villa Rica liegt. Ihr Freund wohnt dort.«

»Wie heißt dieser Herr, den du als Freund der Senorita bezeichnetest?« fragte Harrlington.

»Ich weiß seinen Namen nicht, Ihr könnt ihn in jener Villa erfahren.«

»Hat jene Bucht dort genügend Wasser, um dieses Schiff einzulassen?«

»Genug, und wenn die Brigg noch einmal so tief ginge.«

Das Fischerboot stieß mit seinen beiden Insassen Vom ›Amor‹ ab. – Der ›Amor‹ steuerte der Küste zu.

»Bei den Wunden Christi,« lachte Stephano, als sich die Brigg weit genug entfernt hatte, daß er nicht mehr gehört werden konnte, »das nenne ich einen Handel! Ich hatte nie geglaubt, daß man durch Lügen so viel verdienen kann. Nun halte reinen Mund, Guiseppe, diese Goldquellen werden noch nicht so bald versagen.«


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