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Sechzehntes Capitel.
Verrathene Neigung.


Erst als Hermann das Bureau verließ, eröffnete ihm der Minister, daß morgen Nachmittag vor Tafel die holländische Deputation dem Könige vorgestellt werden sollte.

Ihr Dienstkleid ist fertig? fragte er.

Es ist mir auf heut bestimmt zugesagt, antwortete Hermann.

Kommen Sie bei Zeiten, fuhr Bülow fort. Dringende Geschäfte haben keinen Sonntag. Die Instruction für die beiden ständischen Abgeordneten sind in der Ausfertigung; morgen wollen wir die Ihrige entwerfen, und ich will Ihnen mündlich erläutern, woran Sie von Ministeriums wegen beim Geschäft zu sehen haben. Sie fahren dann mit mir nach Napoleonshöhe.

Zu Hause fand Hermann wirklich den dienstlichen Anzug, den der Minister um des officiellen Ansehens willen, besonders im Auslande, für nöthig und jedenfalls für anständig hielt. Ob er dabei die nächste Anstellung seines Employé mit in Anschlag gebracht, darüber hatte er sich nicht geäußert. Es war der Anzug eines Steuerinspectors: Rock und Beinkleid von dunkelgrünem Tuche, das Futter von gleichfarbigem Zeug, das Kleid um den Kragen und an den Aermelaufschlägen mit einer Stickerei in Gold, – Kornähren mit einem einfachen Stäbchen zur Einfassung, – Weste weiß und zum Degen ein französisch aufgestutzter Hut mit der westfälischen Cocarde, blau mit weißem Rand. Nur durch die Stickerei unterschied sich das Kleid von dem Costüm der Directoren, der Generalinspectoren und des Generaldirectors, bei denen auch noch die Taschen, die Patten, die Einfassung um dieselbe und um das ganze Kleid gestickt waren.

Es läßt sich erwarten, daß ein so vorsichtiger junger Mensch den Anzug, der morgen schon dienen sollte, auf der Stelle anprobirte, daß der Anzug einem so gutgewachsenen Manne auch gut zu Gesicht stand, und daß der so einsichtvolle Freund dies auch erkannte. Hermann gefiel sich sehr darin, präsentirte sich zuerst seiner alten Wirthin, und da diese bereits das Essen aufgetragen hatte, so setzte er sich damit zu Tische, um auch gleich zu versuchen, ob die Taille für die Stunden nach einer Mahlzeit nicht zu knapp genommen sei. Wie manchmal schließt nicht ein Staatsgeschäft mit einem Festessen, und der Anstand erlaubt nicht, daß man sich aufknöpfe!

Das jugendliche Wohlgefallen an dem ersten auszeichnenden Dienstkleide und der etwas bängliche Gedanke an die morgende Vorstellung beim Könige führten den Freund leichter über das Räthsel der Misstimmung hinaus, mit der ihn sein Minister des Morgens empfangen hatte. Er erblickte darin nur etwas von der reizbaren Eifersucht eines Gönners gegen einen Mann wie Marinville, der nicht hoch in Bülows Achtung, aber mit seinem bedeutenden Einfluß zu jener Partei stand, gegen die sich der Minister immer gespannt und gewärtig hielt.

Mit dieser flüchtigen Voraussetzung fiel Hermann auf kein Mistrauen gegen Cecile, die ihm fortwährend nur mit ihrer bezaubernden Erscheinung und mit der Aengstlichkeit seines Abschieds von ihr im Sinne lag. Er hatte ihr jüngst, von ihrer Liebenswürdigkeit hingerissen, ein sehr lebhaftes Bekenntniß seiner Bewunderung ausgesprochen, und wenn sie ihm nun zu ihrer eigenen Abreise Lebewohl für immer sagte – wie sollte er sich benehmen? Was erwartete man von ihm, und wie sollte er sich zurückziehen?

Gegen Abend ging er in dem Frack, den er für die kleinen Abendgesellschaften hielt, nach Heisters Wohnung, um die Freunde zu Theresens Verlobung abzuholen. Er fand nur Lina bereit, mitzugehen. Ludwig fühlte sich zu angegriffen, da er jetzt den Arzt und dessen starke Mixturen brauchte, und doch beim dermaligen Drang der Arbeiten keinen Urlaub vom Geschäft nehmen mochte, sich zu pflegen und zu erholen.

Die Gesellschaft beim Appellhofsrathe war nicht sehr zahlreich. Sie beschränkte sich auf wenige Anverwandte und auf die intimsten Freunde des Brautvaters, zu denen ein paar Collegen und der Tribunalpräsident von Porbeck gehörte. Der Bräutigam hatte nur einen magdeburger Freund, den Mitdeputirten Costenoble mitgebracht. Als Ehrengäste waren außer unsern Freunden der Appellhofspräsident von Biedersee und die Ehrenhofdame, Baronin von Schele, eine poetische Freundin der Brautmutter, gekommen. Beide Letztere nahmen, nachdem die Verlobung des Paares erklärt und die Glückwünsche dargebracht worden, die Ehrenplätze neben der Braut und dem Bräutigam ein. Bei der Bewirthung, die nach dem Geschmack des Bräutigams angeordnet war, bethätigten sich die sechs Schwestern in einfachem gleichmäßigen Anzug als dienstbare Elfen.

Heute hing das meisterhafte Oelbild der Mutter, seiner schützenden Decke entkleidet und in ein Blumengewinde gefaßt, über dem Kreise der etwas feierlichen Gesellschaft. Ueberhaupt glänzte dies gute Zimmer, in der schlichten Familie noch nicht Salon genannt, mit seiner Nebenstube in einfacher Ausschmückung nach der Angabe der Mutter, in der die jugendliche Dichterin wieder erwacht schien. Als man das Gemälde bewunderte, nahm sie das Wort:

Es ist aber auch von dem berühmten Johann Heinrich Tischbein angefertigt. Man weiß, wie dessen energisches Talent sich früh regte und durch die beschränktesten Verhältnisse die Bahn des Ruhmes brach. Man bewundert an diesem hessischen Landsmann den duftig zarten Pinsel im hingehauchten Incarnat des Gesichts und der Hände; aber – wissen Sie denn auch, daß der arme Knabe damit angefangen hatte, sich Pinsel aus Besenreisern, das eine Ende faserig geklopft, und aus Distelblumenfäden zu bereiten? Wenn ein genialischer Mensch sein irdisches Misgeschick durch sittliche Macht überwindet, dann gehorchen ihm freilich alle Erdenstoffe, und die Geister der finstern Materien unterwerfen sich ihm. Das Gemälde da ist aus seiner spätern Zeit; er war damals ein Funfziger, als ich –

Sie schwieg einige Augenblicke, in Nachdenken versunken. Ein träumerisches Lächeln glitt über ihr Angesicht, worin ein höheres Roth aufstieg und die Züge des hausmütterlichen Alters um die lieben aufleuchtenden Augen verklärte. Es war, als ob die Erinnerung des Herzens die noch größere Wunderkraft besäße, jene poetische Jugend, die der Maler auf die Leinwand gezaubert hatte, nun wieder zurück auf das gealterte Antlitz überzutragen. Dann sprach sie mit lächelnder Rührung weiter:

Wo seid ihr hin, ihr lieben, sorgenvoll seligen achtundzwanzig Jahre von damals, als die heitere Philippine Gatterer dem braven Tischbein saß, bis heut, wo die Frau Appellationsräthin Engelhard ihr zweites Kind einem edeln Mann ans Herz legt! Ich war damals vierundzwanzig Jahre alt, als ich im Sommer 1780 aus Göttingen herüberkam und meinen vierthalb Jahre ältern Philipp, damals wirklichen Kriegssecretarius, im Atelier des alten berühmten Meisters Tischbein kennen lernte. Ich hatte mir eben den Maler zum Freunde gewonnen, und schlich mich, ohne es zu wissen, in das Herz des Kriegssecretarius, und bald darauf er in das meinige. Wie glücklich haben wir seitdem gelebt! Ja, laßt es mich sagen, diese in hohem Grad glückliche Ehe, in der ich ganz das Ideal meiner Phantasie fand, wo Freundschaft und Liebe, Hochachtung und Vertraulichkeit sich vereinigen, diese Ehe ist und bleibt das Vorzüglichste, was ich meiner Dichtkunst zu danken habe.

Sie reichte ihrem Manne die Hand, sie sank an seine Brust. Auch er war bewegt, was man innerlich so nennt; denn äußerlich hielt er sich etwas steif verlegen, mit einem Blick auf die Gesellschaft, als ob er die zärtliche Scene entschuldigen wollte, wie ein Exhibitum, eine Eingabe, die durch ein Versehen in die Acten dieses Abends gerathen sei.

Die Baronin von Schele lenkte von der Rührung durch die Frage ab, wie denn Frau Philippine zum Dichten gekommen sei?

Das weiß ich selbst nicht, antwortete die Räthin. So wenig auch meine Aeltern bei der Erziehung ihrer Kinder an Kosten sparten, und so viel Mühe sie sich auch selbst mit uns gaben – diesen Funken Genie zündete Mutter Natur. Aber ich trug meine Gedichte heimlich umher, wie die Katze ihre Jungen.

Ueber diesen Vergleich fiel ihr ein früher verfaßtes poetisches Bekenntniß ein; sie lächelte und declamirte dann folgende Verse:

Ich sagte zu Aeltern und Schwestern und Brüdern
Zu Keinem ein Wörtchen von meinen Liedern,
Bis Boie einst hinter's Geheimniß kam
Und sich von einigen Abschrift nahm.
Als drauf ich die Dinger im Almanach sah,
Da stand ich halb lachend, halb weinend euch da.
Freund Boie gab auch den Gevattersmann ab,
Der mir den Namen Rosalie gab.
Was war zu machen? Es war geschehn!
Ich dachte lang' in der Verkleidung zu gehn;
Doch Fama (die in jeder Stadt
Gar wunderfeine Ohren hat)
Ging bald drauf herum von Haus zu Haus
Und rief der Verfasserin Namen aus.
Jetzt, dacht' ich, mußt du's wol offenbaren,
Sonst möchten dir Andre die Müh' ersparen.
Nun kam ich mit einem Geburtstagslied,
Das man im ersten Bändchen sieht,
Und mit gar vielen Gedichten heran.
Potztausend! wie sah der Herr Vater mich an!
Ein kleiner Verweis, doch sanft, nicht mit Hohn,
War meines zu langen Verschweigens Lohn,
Dann floh' ich – so hochroth als blühender Mohn.

Etwas von dieser Mohnblüte stand abermal auf den Wangen der erregten Dichterin, womit sie sich an die Brust der befreundeten Baronin warf, als ob sie noch einmal sich ihrer Gedichte mädchenhaft schäme. Frau von Schele nahm es aber in anderm Sinn.

Diese Dame schwärmte nämlich, ohne gerade selbst Verse zu machen, für Poesie, und kannte die deutschen Dichter in- und auswendig, wie man zu sagen pflegt. Nicht so leicht ließ sie eine Gelegenheit vorüber, ohne eine passende Stelle aus einem mehr oder weniger bekannten Gedichte declamatorisch vorzubringen. Man kannte sie, und sie sich auch selbst von dieser schwachen Seite, wenn man es so nennen will. Aber ihre Liebhaberei war mächtiger als diese Selbstkenntniß, und sie ließ es nie an einem schlagenden Vorwand fehlen, oder ergriff ein gutes Apropos, sich ein Genüge zu thun. Die Zeit sei ganz abscheulich prosaisch, materialistisch und martialisch, pflegte sie zu sagen; auch müsse man diesen Franzosen, wo man nur immer könnte, mit deutscher Poesie über die eingebildete Nase fahren. Heut aber nahm sie die Umarmung der Freundin zum Anlaß, gleichsam als habe die Dichterin damit am Schluß ihrer eigenen Recitation das Declamiren auf sie übertragen. So gut sie es aber bei sonstigen Anlässen oder rasch ergriffenen Stichworten mit ihren Declamationen traf – denn es fehlte ihr nicht an Sinn und Geschmack –, so schlug sie doch heut mit einigen Zugstücken daneben. Besonders läuteten die Verse aus Schiller's »Glocke«:

O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
Der ersten Liebe goldne Zeit –

bei der Braut, und der Schlußreim:

O daß sie ewig grünen bliebe
Die schöne Zeit der jungen Liebe –

bei dem Bräutigam etwas zu spät ein. Frau Lina, die es am lebhaftesten mitfühlte, brachte es daher geschickterweise auf Gesang, und die Braut versicherte ihrem Nathusius, daß Herr Doctor Teutleben ein ausgezeichneter Bariton sei. Hermann mußte an das Klavier, das für den Abend im Nebenzimmer aufgestellt war. Aber wie denn Misgriffe nicht selten, gleich dem Gähnen, in der Gesellschaft anstecken: so brachte Hermann, als ob ihn ein neckischer Dämon reite, auch bei der dritten Braut nicht sehr erbaulich sein Lieblingslied an:

Komm' heraus, komm' heraus, du schöne, schöne Braut,
Dein Schleierlein weht so thränenschwer –

und wie es weiter hieß.

 

Lina mußte wieder eingreifen, und foderte Hermann zu dem Duett aus der »Schöpfung« auf, das Beide schon früher im Stift zu Homberg mit soviel Beifall vorgetragen hatten. Auch heut war es wieder der Fall, und wie die Braut hinüberging, dem Paare zu danken, so rückte die munter gewordene Gesellschaft aus ihrem festlichen Halbkreis zu heitern Gesprächen auseinander.

Die bräutliche Therese, indem sie jetzt gegen Hermann unbefangen sich der Empfindung überließ, die sie bisher so scheu vor ihm gehütet hatte, erschien in neuer, überraschender Liebenswürdigkeit. Es war keine Coquetterie dieser einfachen, innigen Seele in Dem, was sie einem so lieben Freund erwies: es war ein Frohgefühl ihrer Freiheit vom bisherigen Druck der gesellschaftlichen Convenienz; oder ihr Herz suchte unüberlegt für den Kampf, den es ihm gekostet hatte, sich einem Andern zuzuwenden, eine Entschädigung in der warmen Hingebung, die ja von heut an nur für ein freies, freundschaftliches Wohlwollen angesehen werden durfte.

Sie saß zwischen ihm und Lina, oder sie bediente ihn, und ihn allein, mit Dem, was zum Genuß geboten war. Dazwischen fragte sie nach seinen Geschäften und Arbeiten, freute sich seiner Reise mit Nathusius.

Ich denke mir schon, ihr werdet oft von mir reden, sagte sie, und in Gedanken reise ich mit. Zu Dreien reist man ja auch billiger, lächelte sie.

Sie wußte von Allem, was ihn anging, und scheute es nicht, dadurch etwa zu verrathen, wieviel sie sich mit ihm beschäftigt hatte. Eine bebende Anmuth lag in ihren Bewegungen, ein Ausdruck des innigsten Glücks leuchtete aus ihren Zügen, aus dem feuchten Strahl ihrer schönen blauen Augen.

Lina verstand die selige Braut; sie drückte sie an ihre Brust, und wurde verstanden. Eine lachende Thräne trat in Theresens Auge, und Lina küßte sie hinweg.

Nathusius trat heran, und Therese warf sich mit thränendem Lächeln an seine Brust.

Liebes, liebes Kind, Herzenstöchterchen, sagte er, was hast du, was bewegt dich so?

Ich bin so froh, so glücklich! flüsterte sie. Sieh', Christian, das sind die beiden liebsten Menschen, die ich hier habe und zurücklasse, wenn ich demnächst mit dir fortziehe. Du mußt sie auch lieb haben. Und – Lina, Hermann, – nicht wahr, ihr nehmt meinen theuern Christian zu euch auf? Umarme die liebe schöne Frau, Christian, und Sie, Hermann, bleiben Sie mir auch in der Ferne der herzlichste, liebste Freund, den ich habe!

Sie sank einen Augenblick an seine Brust; er küßte ihre Stirne, und sie, rasch auf den Zehen sich erhebend, streifte mit dem Mund an seinen Lippen hin.

 

Während dieser zärtlichen Scenen, die ihren flüchtigen Herzensduft mit den Rosen und dem Jasmin der Blumenvasen verhauchten, unterhielten sich die Männer über öffentliche Angelegenheiten.

Engelhard war der tüchtige hessische Gerichtsbeamte, gründlicher Jurist, von genauer Kenntniß und zugleich von lebhafter Empfindung des Rechts, bewährt in Gesinnung, unabhängig in seinem Urtheil. Ein Anhänger der frühern Regierung, verkannte er doch das Bessere nicht, das unter dem neuen Regiment sich hervorthat. Und wenn er im Stillen auch eine Wiederherstellung des vertriebenen Fürsten wünschen mochte, so hielt er sich doch persönlich allen geheimen Bestrebungen zu diesem Ziele fern, und hoffte, daß der zurückkehrende Herr gewiß allerhuldreichst gestimmt sein werde, sich und sein Land durch Beibehaltung des Guten, das der besiegte Feind zurücklasse, für die verlorene Zeit seiner Verbannung zu entschädigen.

Geistreicher faßte der Präsident von Biedersee die Verhältnisse auf, von denen die Rede war.

Es ist eine bedeutsame Erscheinung, sagte er, wie seit Beginn des Reichstags sich in allen Kreisen ein lebhaftes Interesse an der neuen Verfassung – für oder wider – ausspricht. Man könnte sagen, das Land habe seitdem an der Reichsversammlung ein Gehirn bekommen, sich zu bedenken und seiner bewußt zu werden. Im Allgemeinen bildet sich auch eine günstige Meinung von unserer Constitution.

Vangerow, ein College Engelhard's, tadelte an derselben, daß die Initiative der Gesetzgebung nur der Regierung zustehe und die Reichsversammlung nicht einmal die ihr vorgelegten Gesetze debattiren dürfe.

Sie verstehen das besser als ich, Herr von Vangerow, versetzte Nathusius, sonst hätte ich das bei uns vorgeschriebene Verfahren gerade für zweckmäßiger gehalten. Ich will Ihnen sagen warum. Die neuen Gesetze werden in dem mit den einsichtsvollsten Männern besetzten Staatsrathe bearbeitet und in wiederholt gedruckter Redaction geprüft und debattirt. Sie gelangen dann, wie bekannt, durch den Referenten des Staatsraths mit einer eingehenden und rechtfertigenden Entwickelung in die Sitzung des Reichstags und zur Prüfung einer Commission. Während derselben finden Abendversammlungen und Besprechungen bei unserm Präsidenten statt, dem hierzu besondere Repräsentationsgelder bewilligt sind. Hier kann denn jeder Abgeordnete seine Ansicht zur Erwägung bringen, sie ergänzen und berichtigen. Wenn dann die ständische Commission in der Sitzung das Ergebniß ihrer Prüfung dargelegt hat, bleibt freilich ohne weitere Debatte nur eine Abstimmung auf Annahme oder Ablehnung des Gesetzes noch übrig. Indeß kann der Justizminister sich privatim nach den Ansichten und der Stimmung der Stände erkundigen, und das abgelehnte Gesetz, nach Umständen umgeändert, wieder vorlegen. Wohin würde aber eine Debatte führen? Wir kennen ja unsere deutsche Erbsünde des Eigenwillens und der Rechthaberei mit oder ohne Einsicht. Ich habe den Herrn von Simeon, selbst von den so einsichtsvollen Männern des Staatsraths, sagen hören: »Chacun y veut mettre quelque chose du Sien et beaucoup de Sien.« Und das sind doch noch Männer, die's verstehen! Nun denken Sie, daß noch Jeder vom Reichstag etwas von seiner Weisheit und möglichst viel von seiner Weisheit in ein Gesetz bringen möchte: welcher Wirrwar von Widersprüchen, Verworrenheiten, Absonderlichkeiten würde nicht das verhunzte Gesetz unannehmbar für die Regierung machen!

Es läßt sich Vieles dafür und dagegen sagen, fiel Herr von Biedersee ein. In Einem aber sind wir gewiß einverstanden – daß nämlich Keines der Länder, die unser Westfalen ausmachen, eine Verfassung von solcher Einheit, Einfachheit und innern Kraft mitgebracht hat, wie unsere gemeinsame Constitution ist. Welch' ein Chaos von – man wußte nicht immer ob noch geltenden oder bereits abgeschafften Gesetzen herrschte nicht überall, und der Geist des Rechts schwebte nicht immer darüber; ein Irrgarten für den Richter, ein Tummelplatz für die Rabulisten. Dabei gab die Patrimonialjustiz den armen Rechtsuchenden der Willkür des Gerichtsherrn, den Chikanen ergrauter Gerichtshalter preis; nur der Dicke blieb in den Maschen der Sportelordnung hangen, und bekam seinen Rechtsspruch, der Magere fiel durch. Privilegien und Exemptionen waren fließende Quellen des Unrechts, aber des unanfechtbaren Unrechts, und verschlämmten überdies den fruchtbaren Boden des freien Gewerbes und Verkehrs. Die Collegien, vom Geiste geschlossener Gesellschaften beseelt, schlummerten, – ihre Füße auf falsche Grundsätze gestellt, und aus den Federspulen einen aus deutschem Werg und lateinischen Splittern zusammengewürgten Kanzleistil spinnend, oder, wie man's zu nennen pflegte – seilernd. Und die Beamten auf dem Lande, wahre Satrapen, unter denen die armen Bäuerchen beteten: »Erlöse uns o Herr!«

Gewiß, unsere Justizverfassung ist ungleich besser, ja sie ist vortrefflich! versetzte Engelhard gelassen. Der schwerfälligste Proceß kann seine zwei Instanzen in wenig Monaten durchlaufen.

Und die Reinette, der Königsapfel des Rechts, wird nicht, wie früher, durch langes Liegen morsch und faul, setzte Präsident von Porbeck hinzu.

Von der alten Militärverfassung gar nicht zu reden, fuhr Biedersee fort; sie verletzte die Rechte und Würde des Menschen. In Hessen, darf man annehmen, stak die funfzehnte Seele im rothen Halskragen, und es gab keine Erlösung daraus.

Nun, nun, so arg war's denn doch nicht! wendete einer der Verwandten Engelhard's ein. Sie waren meist auf Urlaub, die Soldaten, und die Bauernsöhne konnten auch heirathen und ihr Gut bauen. Jetzt werden auch unsere casseler Bürgersöhne gezogen, und ich weiß nicht, ob der Militärdruck von heut –

Der Sprecher schwieg, erschrocken vor seinem Tadel, und eine verlegene Pause entstand.

 

So klein und vertraut die Gesellschaft und zu einem heitern Familienfeste sie versammelt war, so konnte sie doch kaum sich unberührt von der Verstimmung halten, die so leicht aus dem Zwiespalte der Zeit entsprang.

In jenen Tagen mochte kein Billigdenkender die bessern Staatseinrichtungen, die das neue Regiment einführte, mit Lob anerkennen, ohne damit die frühern, oft großen Gebrechen bloßzustellen, und Herzen zu kränken, die entweder an verlorenen Vortheilen hingen, oder mit jenen Gebrechen durch das Unglück des Landesfürsten versöhnt waren. Auf der andern Seite führte auch die gerechteste Anerkennung des neuen Guten zu Folgerungen, die mit dem unglücklichen Zustande Deutschlands in Widerspruch kamen – mit dem empörenden Druck der Fremdherrschaft, vor welchem jene einzelnen Vortheile in Nichts verschwanden. Von der einen oder andern Seite traten daher alsbald die Gegner des Neuen mit Leidenschaft hervor, um die Schattenseiten desselben herauszuwenden. Da war von dem grausamen Kriegsfuß der starken Armee und ihrer undeutschen Bestimmung, es war von dem wachsenden Drucke der Abgaben die Rede, von den unberechenbaren Summen, die vom Hof und von den Günstlingen des Königs verschwendet würden, oder als Contribution in den Schatz des Kaisers, oder zu Bestechung seiner Umgebung, ja wol auch als Ersparnisse für eine unglückliche Wendung der Dinge nach Paris flössen. Oder man ereiferte sich gegen die Schmach und den Uebermuth der Franzosen im öffentlichen Dienst, gegen die um sich greifende Sittenlosigkeit der hohen Gesellschaft und gegen die gefährliche Zudringlichkeit der geheimen Polizei. Doch bei dieser letzten Erinnerung pflegte alsbald das entrüstete Wort zu verstummen, und wenn sich dadurch vielleicht ein Lobredner des Neuen in seinem Vortheil über den gefährdeten oder vorängstlichen Tadler gehen ließ, so entstand leicht eine Verbissenheit der Herzen, die sich in bleibenden Haß verkehren konnte, und Entzweiung in die Familien und in uralte Freundschaften brachte.

So weit kam es nun in dem kleinen Abendkreise der Verlobung nicht, sondern die Frauen stellten alsbald die heiterste Stimmung und eine anmuthige Fröhlichkeit her, die ziemlich spät in die Nacht hinein dauerte.

 

Hermann war den Abend über ungewöhnlich still und in sich gekehrt gewesen. Bei aller Theilnahme am Gespräche so angesehener Beamten über das neue Staatsleben, dem er sich selbst mehr und mehr einzuverleiben dachte, ward er doch von den Vorgängen des Abends mehr gemüthlich eingenommen. Die Familienfeier bewegte ihn wieder einmal mit leisen Heimwehempfindungen, die ihn am liebsten überschlichen, wenn er sich eine Weile anhaltend in conventionellem Verkehr gefallen hatte. Wiederholt waren ihm die glücklichen Aeltern vorgeschwebt, und er hatte der Schwester gedacht, die er sich als Braut träumte, so selig, wie ihm Therese heut erschienen war.

Von dieser – von Theresen, sprach er unterwegs, da er Lina nach Haus begleitete, mit ebenso viel Lob als Befremden.

Wieviel glücklicher, liebe Lina, seid ihr Frauen dadurch, daß ihr im Heirathen eure höchste Lebensbestimmung erreicht, sagte er; indeß wir Männer als unsere Aufgabe eine Stellung im bürgerlichen Leben, einen Wirkungskreis in der Welt erringen müssen, in Folge dessen erst wir dann auch ans Heirathen denken mögen. Euer Beruf geht in liebendem Beglücken eines lebenden Menschenherzens auf; wir finden einen todten Stoff vor uns, dem wir erst Athem einhauchen, und den wir fortwährend in Athem erhalten müssen. Siehe, auch darin hängt Jedem seine Abkunft nach; wir stammen von Adam, und müssen das Werk Gottes fortthun, der den Mann aus Lehm machte und ihm eine Seele einblies. Die Eva ward dagegen aus der Rippe des Schlafenden genommen, um liebend und beglückt an seiner Seite zu ruhen, und wenn er erwacht, ihn zu beglücken. Wie selig schon in dieser Erwartung fühlt sich dies herrliche Mädchen Therese! Nein, was so ein Mädchenherz im Strahl der Liebe für einen Reichthum aus sich entfaltet, – ich hätte mir's nimmer geträumt! Du weißt, Lina, daß ich ihr doch gleich aus den Augen ein tiefes, für Liebe empfängliches Herz zuerkannt habe; aber von dieser Fülle einer liebenden Seele hatte ich keine Ahnung. Und uns kamen doch nur die Abfälle zugut; wie glücklich darf sich erst dieser brave Nathusius fühlen, dem sie das ganze Gastmahl der Liebe anrichtet! Aber, ich gönne es ihm!

Lina hörte ihm lächelnd zu. Sie überlegte, ob und wie sie ihm wol offenbaren möchte, was einst ihr eigenes Herz ein wenig beunruhigt hatte. Endlich, als er nicht fertig werden wollte, sagte sie:

Nun ja, lieber Hermann, das hast du eben Alles verloren, Das blühte dir, du blinder Hesse aus Halle, und du erkennst es noch heut nicht einmal in der Nachblüte, die auch für dich stark genug duftete. Rühmst dich, dies schöne Herz erkannt zu haben; nun ja, eine halboffene Blüte hast du erkannt, aber ohne den Sinn für den Duft, mit dem sie dich umhauchte. Nun sie, möcht' ich sagen, von liebewerbender Hand berührt, sich von ihrem Stengel löst, sind die Blütenblätter zu einem glänzenden Gefieder geworden, und du erstaunst des schmelzenden Gesanges, du empfindest nun den Liebesduft, der Ton geworden ist, aber verstehst ihn noch immer nicht. Um prosaisch zu reden, lieber Freund, sage ich dir einfach, Therese liebte dich seit unserm Polterabend. Da du das aber nicht erkannt, nicht geahnt hast, so war wol dein Herz für das ihrige nicht gestimmt. Sie hat es einem würdigen Manne zugewendet, und was sie dir heut zu deiner Bewunderung gezeigt, war, möcht' ich sagen, die Abfindung einer ungekränkten, entschlossenen Mädchenseele mit ihrer anerkannten Liebe.

Hermann war stehen geblieben und sah die Freundin betroffen an.

Lina! rief er verlegen und zweifelnd zugleich, indem er ihre Hand ergriff, als bedürfe er solcher Bestätigung ihres Wortes oder solcher Fassung in seiner Unbeholfenheit. Wie Lina weiter ging, fuhr er fort:

Doch – nun ja, es ist vorbei! Und – wenn ich's denn nun erkannt hätte, Lina! – Nein, es ist so besser! Was hätte ich thun sollen? Was hätt' ich vielleicht gethan? So hat mich das liebreiche Geschöpf wahr und unbefangen gesehen, und wer weiß, ob das nicht ihre Entschlossenheit erleichtert hat. Aber –

Nun, Hermann? Was wolltest du noch sagen?

Was ich sagen wollte –? Nun ja, es ist doch gut, Lina, daß du mir Das gesagt hast, – es ist mir lieb! Es soll mir zugut kommen. Nun ich erfahren, welcher Schatz von Liebe in einem verschlossenen Mädchenherzen ruhen kann, und erst erkannt wird, wenn man ihn begehrt –

Er verstummte abermal, betroffen von seinem Gedanken, den er sich auszusprechen scheute. Allein Lina errieth ihn mit einem Herzen, das mehr, als der Freund es ahnen konnte, in seiner Seele lebte. Aber dies Herz klopfte auch heftiger, als sie versetzte:

Ich verstehe dich, Hermann! Du meinst Cecile und den verschlossenen Schatz von Liebe, der in ihrem Herzen ruhe?

Wie kommst du darauf, Lina? fragte er mit einem befangenen Ton, der wie ein halbes Eingeständniß lautete.

Hast du mir nicht soviel von Cecile gesagt, erwiderte sie, um dich zu verstehen, oder vielmehr so wenig gesagt, um dich aus Dem zu errathen, was du offenbar verschwiegst?

Ich dachte mir gleich, daß du solche Vermuthungen fassen könntest, versetzte er, und nur darum sprach ich zurückhaltender von Cecile. Offen gestanden, hat mich die Nichte der Frau Ministerin bis jetzt nur als anmuthiges, reizendes Räthsel interessirt.

Hermann ließ sich noch weiter über den Gegenstand aus, der ihn so lebhaft einnahm, ohne zu bemerken, daß Lina kaum offenes Ohr dafür hatte. Sie war von den widersprechendsten Empfindungen bewegt, ja erschüttert. Ihre Mittheilung über Theresens Neigung schien den Freund nur aufzuregen, um bei einer räthselhaften Fremden auf Entdeckung Dessen auszugehen, was er dort in Theresen nicht erkannt hatte. Dies war aber nicht das einzige Schuldbewußtsein, womit sie sich beunruhigte. Sie machte sich jetzt auch die kleine Schadenfreude zum Vorwurf, mit der sie ihm seine Selbsttäuschung vorgerückt hatte, und noch bitterer tadelte sie sich über die heimliche Zufriedenheit, daß ihr der theure Freund gegen Theresens Neigung für ihn ungetheilt erhalten war. Und nun sollte er ihr vielleicht auf schlimmere Weise verloren gehen. Eine unsägliche Angst überfiel sie, ein tiefes Leid mischte sich in ihre stürmischen Gedanken. Was sollte, was durfte sie thun? Sie wagte kein Wort, im Vorgefühl, daß sie mit dem ersten Laut in Thränen ausbrechen könnte. Dennoch drängte es sie zur Erklärung. Denn sie näherten sich mit jedem Schritt ihrer Wohnung, und sie bemerkte von weitem ihren Ludwig, der im Mondschein, ihrer harrend, im Fenster lag.

So waren Beide, innerlich mit sich beschäftigt, eine Strecke schweigsam neben einander fortgewandelt, bis endlich Lina soviel Fassung über sich gewonnen hatte, um leise und hastig zu sagen: Ich muß dir gestehen, lieber Hermann, daß Madame Simeon, wie ich sie kenne, mir wenig gutes Vertrauen zu einer Nichte gibt, die von dieser Welt- und Gesellschaftsdame so vorsichtig verborgen gehalten wird. Wie eitel oder stolz würde sie nicht ein so interessantes Mädchen in die höhern Cirkel führen, wenn keine bedenkliche Rücksicht dabei wäre. Aber ich will diese Cecile, die du so liebenswürdig findest, nicht voraus verurtheilen. Dein Glück bleibt allerdings auch dein eigenes Werk und Wagniß; aber du weißt, welchen Antheil wir, Ludwig und ich, daran nehmen. Versprich mir keinen entscheidenden Schritt zu thun, ehe ich Cecile gesehen und wir nähere Erkundigung über sie eingezogen haben!

Als Hermann nachdenklich schwieg, blieb sie stehen und sagte dringlicher:

Meine Schuld, Hermann, gibt mir ein Recht, mich in diese Angelegenheit einzudrängen. Ich habe dich durch meine Mittheilung irre gemacht. Weil du eine zarte Neigung nicht erkannt hast, willst du es nun desto kühner auf eine räthselhafte Liebe wagen. Aber wer eine echte Liebe nicht erkannt hat, muß desto vorsichtiger sein, sich in einer bethörenden nicht zu verwirren. Also? Ich will Cecile besuchen; kündige mich ihr an, verschaffe mir ihre Zustimmung, sie zu sehen.

Sie kamen an die Haustreppe, und Hermann sagte:

Du hast Recht, herzliche Lina! Wahrlich, wenn ich mich recht bedenke, war es auch meine Absicht noch gar nicht, mich gegen Cecile zu erklären! Offen gesagt, hange und bange ich dort, und es ist mir gar lieb, daß du Cecile sehen willst und ich mich mit dir berathen kann.

Also ich habe deine Zusage? flüsterte sie, ihre Hand darreichend.

Auf mein Wort: Ich thue keinen Schritt! sagte er, und schlug ein. Dann am Hause emporblickend rief er heiter:

Gut' Nacht, Ludwig!



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