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Sechstes Capitel.
Ein Speisezettel.


Hermann kam wunderbar bewegt nach Hause. Lina trat ihm mit der Mutter aus der Küche entgegen, begrüßte ihn in der Dämmerung des Vorplatzes mit dargebotener Hand, und fragte, ob es ihm recht sei, ein Stündchen mit ihr zu lesen. Es war ihm angenehm, auf andere Gedanken zu kommen, und sie lud ihn durch die offene Stube der Mutter nach dem Altan.

Die junge Frau konnte sich noch nicht gewöhnen, den Tag über allein zu Hause zu bleiben. Ihr Ludwig kam nur ausnahmsweise dann und wann einmal auf Augenblicke nach seiner etwas entlegenen Wohnung; denn er hielt gern als Bureauchef die Arbeitsstunden ein, und diese dauerten von Morgens 9 bis Nachmittags 5 Uhr, wo dann das Geschäft geschlossen ward, die französische Tischstunde eintrat und der übrige Tag Jedem zu freier Verfügung blieb. Thätig von Naturell, und von ihrer einfachen Häuslichkeit noch nicht vollauf beschäftigt, nahm daher Lina gern die Mutter, die sich ja ebenfalls einsam und verlassen fühlte, zum Vorwand, sich einen Ausgang zu ihr zu machen.

Auf dem Altan, wo ihr Buch auf einem Tischchen lag, bemerkte sie des Freundes aufgeregte Stimmung, und jetzt fiel ihr auch sein sorgfältiger Anzug auf. Was sie sich auch dabei denken mochte, sie sah ihn betroffen an, und erst, als er sagte, daß er vom Staatsrathe von Müller komme, rief sie vergnügt aus:

Und der hat dir wol wenig Hoffnung gemacht, nicht wahr?

Ei, versetzte er, du sagst das, als ob es etwas Angenehmes wäre? Aber nein, es ist nicht um mich, es ist um ihn, daß ich so erregt bin. Es ist ein Mann, liebe Lina, der Einen erheben und doch zugleich jammern kann. So unansehnlich von Gestalt und so herrlichen Geistes, so stolze Gedanken bei ängstlichem, unterwürfigem Benehmen, so – ich möchte sagen – fast widerwärtig durch seine Manieren und Annäherung, und doch durch Wohlwollen und edle Empfindungen so anziehend und einnehmend. – – Sieh' da, im Augenblicke fällt mir ein Vergleich ein! Er ist ein Tagfalter – im Uebergang aus seinem verlarvten, verpuppten Zustande begriffen. Der Mund deutet noch auf die gefräßige Raupe; der kurze, schwammige Körper erscheint als die wulstige Puppe, aus welcher der Geist seine Fühler des Ewigen streckt. Die Flügel schimmern chrysalidisch hervor, mit denen er die Geschichtswelt durchflattert, und die Blätter, die er erst als Forscher zernagte, nun er sich auf ihnen niederläßt, mit Goldstaube färbt. Er erklärte sich für hergestellt von einem bedenklichen Leiden; aber ich halte ihn noch für sehr krank, wenigstens an einem Schweizerheimweh der Seele. O ich verstehe ihn: er ist auch ein Fremdling an diesem lustigen, westfälischen Hofe, wie so Mancher.

Auch? fragte sie betrübt. Fühlst du dich denn so fremd bei uns?

Bei euch nicht, Lina! antwortete er, und nicht, wenn ich von hier oder von droben hinaus in die herrliche Natur blicke; wohl aber, wenn ich an meine Zukunft denke und an die Atmosphäre der Gesellschaft, durch die meine Pfade führen. Nach Dem, was ich in jüngster Zeit erfahren, oder – ich muß eigentlich sagen empfunden habe, ist es auch mein innigstes Verlangen, mich in die Heimat eurer Freundschaft und auf den Verkehr mit der treuen, unanfechtbaren Natur abzuschließen. In dieser Zurückgezogenheit liegt zugleich auch der stille Weg in meine Zukunft, den mir Müller angedeutet hat.

Und ich darf davon wissen, Hermann? fragte sie.

Es ist eine gelehrte Arbeit, mit der ich mich für ein Katheder vorbereiten soll. Bis zum Herbste hofft er eine Stelle für mich zu haben, – vielleicht in Göttingen.

Das freut mich, sagte Lina, – wenn auch nur für dich! Wir können dich dann verlieren, und wenn du dich jetzt in deine Arbeit vertiefst, haben wir dich eigentlich bis dahin auch nicht, und du vergissest ganz die Gesellschaft.

Das doch nicht, liebe Lina! Müller hat mir vielmehr selbst, so wenig gesellig er lebt, die Arbeit aus dem Gesichtspunkt der Gesellschaft, namentlich der casseler anempfohlen. Sie dreht sich nämlich – denke dir! – um die große Frage: Was ist die Liebe. Eines der schönsten und edelsten Werke, die aus dem Alterthum auf uns überkommen sind: das sogenannte »Gastmahl« von Platon!

Aber das mußt du mir erklären! rief Lina freudig aus. Den Gastwirth Platon kenn' ich schon ein wenig, Ludwig hat einmal von ihm gesprochen; er war ein griechischer Weltweiser oder Philosoph, nicht wahr?

Ja, Lina, einer der herrlichsten Geister unsers Geschlechts, der zwischen drei- und vierhundert Jahren vor Christus lebte und in Athen lehrte.

Und sein – Gastmahl? Aber – erst lege den ehrenfesten Besuchfrack ab und mache dir's bequem. Wenn ich dir Audienz gebe, mußt du häuslich aussehen.

Sie rief der Magd, des Herrn Doctors Hausrock herunter zu holen, und fuhr dann fort:

Das gibt eine prächtige Mahlzeit. Aber ich höre die Mutter schon mit den Zwölfuhrtellern klappern. Mutter! rief sie durch das nach der Küche offene Zimmer, decke für Drei! Ich esse mit; wir haben ein kostbares Gastmahl zu erwarten.

Oho! lautete die Antwort. Spitzt euch nur auf keine Tractamente! Ihr bekommt eine gute Suppe und Hammelbraten, freilich mit jungen Rübchen und Zuckererbsen, und – soll ich euch vielleicht noch einen Eierkuchen dazu machen mit Schnittlauch oder mit etwas eingemachtem Obst?

Beide lachten herzlich über das unschuldige Misverständniß der freundlichen Mutter, worauf dann Lina, ihr mitgebrachtes Buch bei Seite schiebend, sich als Zuhörerin bequem setzte, und Hermann sich, im Hausrock etwas leichter als vom Katheder, hören ließ:

In seinen Schriften, liebe Lina, geht Platon stets darauf aus, zu zeigen, wie ein wahrhaft gebildeter Mensch mit der Besonnenheit höherer Erkenntniß und Einsicht auch Begeisterung für das Schöne verbinden müsse. Er kleidet daher auch gleich selbst seine tiefsinnige Weisheit in ein dichterisches Gewand, und zwar in die Form von Gesprächen, die sozusagen eine gesellige, entwickelnde Atmosphäre seiner großen Ideen bilden. Diese Verbindung von Kunst und Erkenntniß ist ihm vielleicht am vollkommensten in dem kostbaren Dialog: »Das Gastmahl« betitelt, gelungen. Wir finden uns nämlich durch eine einleitende Erzählung in die Wohnung Agathon's versetzt, – eines reichen, jungen und schönen Poeten. Er hat, ungefähr im Jahre 417 vor Christus, in einem öffentlichen Wettkampfe für die beste Tragödie – wie solche poetischen Wettkämpfe damals in Griechenland üblich waren – den ersten Preis errungen, und bewirthet nun bei stiller Nachfeier seines Siegs einen kleinen Kreis lieber Freunde. Das erste, rauschende Fest war nämlich Tags vorher begangen worden, und eine mildere Fröhlichkeit ruht auf der vertraulichen Nachfeier. Das sonst übliche Wetttrinken ist heut aufgehoben; die Flötenspielerin, die Tänzerin und der Spaßmacher, die bei einem lauten Feste nicht fehlen durften, sind aus dem Saal verwiesen, und statt ihrer bringen, auf den Vorschlag eines ärztlichen Mitgastes, die Zecher des Nachtisches, in der Reihenfolge von der Linken zur Rechten des Gelags, ihre Lobreden auf Eros, den Gott der Liebe. Diese Reden steigern sich in der innern Bedeutung und nach der verschiedenen Auffassung der Liebe, bis am Schlusse Sokrates, Platon's Lehrer, alle Einseitigkeiten und Gegensätze der Betrachtung in einer glänzenden Rede zusammenfaßt. In dieser Rede zeigt er uns die Liebe als Vermittlerin des Göttlichen und Menschlichen, als die Ausspenderin alles Unsterblichen in dem vergänglichen Leben, und weist dabei nach, daß nur durch Beherrschung des bloßen Sinnenlebens sowie des einseitigen selbstsüchtigen Verstandes das wahre Glück des Daseins zu erlangen ist. Doch der Abend schließt nicht mit so erhabenem Ernst. Der Nachtschwärmer Alkibiades, der ausgelassene Liebling der atheniensischen Gesellschaft, dringt unter den lustigen Tönen der Flötenspielerin mit Zechgenossen in den Kreis. Halb berauscht, aber von dem weisen Arzte an die geistige Weihe des Abends gemahnt, hält auch er eine Lobrede auf Sokrates, als den von der höhern Liebe Beglückten. Die Trinkschale kreist jetzt lebhaft, die Fröhlichkeit wird laut und lauter, bis einer um den andern der lustigen Zecher erliegt oder entschlüpft, und selbst die beiden Poeten des Kreises in den Schlaf sinken. Nur Sokrates bleibt bis zum anbrechenden Morgen wach, und geht frisch und besonnen an seinen Tag, um zu zeigen, wie der selbstbewußte, sittliche Mensch, auch wenn ihn die Gelegenheit einmal zum Uebermuth und Uebermaß hinreißt, sich doch schnell wieder zur sittlichen Ordnung und Harmonie zurechtfindet.

Wie reizend ist das! rief Lina, und gibt uns einen Einblick in das Leben jenes gebildeten Volks. Nun aber die Reden, die gehalten worden?

Auf diese kommen wir gelegentlich meiner Arbeit. Ich muß mich erst selbst wieder mit den vertheilten Ansichten über das große Lebensthema der Liebe bekanntmachen. Mein Zweck erfodert eine doppelte Uebersetzung, nicht blos in unsere Sprache, sondern auch in unsere Anschauungsweise. Aber ich sehe nun recht ein, welchen fruchtbaren Gedanken Müller gehabt hat. Die Zeit, in welche das Platonische Gastmahl verlegt ist – als im Drange gehäufter Unfälle das Sittenverderbniß in Athen um sich griff –, hat viel Aehnliches mit unsern Tagen. Auch damals ward gerade von den Edeln der Nation das Leben fortgelebt wie eine Pflicht oder wie eine Unvermeidlichkeit. Man spann seine Tage hin ohne Freude, ohne Aussicht auf ein schönes, heiteres Leben; ohne Hoffnung, seine Träume, seine Sehnsucht und Wünsche erfüllt zu sehen.

Unter dieser letzten Betrachtung hatte das so lebhaft interessirte Freundespaar endlich dem Klappern mit Löffeln und Tellern Gehör geschenkt und sich zur Suppe gesetzt, an deren Erkalten die gute Mutter wiederholt gemahnt hatte. Sie fuhren mit ihrer Unterhaltung über den Gegenstand fort, bis es Lina nach Hause trieb, um auch für ihren Ludwig einige Schüsseln zu bereiten, die er gern aß.

Unterwegs gingen ihr hundert Gedanken durch den Kopf. Sie verglich solche Ideen, wie sie eben von Hermann vernommen hatte, mit den Nachrichten, die ihr Ludwig dann und wann, ihres frühern Widerwillens ungeachtet, über Liebesverhältnisse und Leichtfertigkeiten bei Hof hinterbrachte. So anziehend ihr dabei Hermann's ideale Anschauungen – so abstoßend Ludwig's Blicke ins wirkliche Leben erschienen, so wenig besorgte sie doch, oder kam ihr überhaupt nur der Gedanke, daß sie etwas von der einen oder der andern Empfindung auf Hermann oder auf ihren Ludwig übertragen könnte. Und doch gerieth unter dem ruhigen Abwarten des Herdfeuers und der kochenden Töpfe ihr Herz unvermuthet von Hermann's Unterhaltung auf seine Person. Eine innere Umwandelung schien mit dem Freunde vorgegangen zu sein. Daß es eine Herzensneigung sei, bezweifelte sie. Es hätte ihm, der sich sonst so fröhlich, unruhig und hinausstrebend gezeigt hatte, doch ähnlicher gesehen, dieser Neigung nachzujagen, als sich auf eine gelehrte Arbeit zurückzuziehen. An eine unglückliche Liebe dachte sie nicht, entweder weil sie ihn aus einem Bestreben, wie sie es voraussetzte, noch nicht beobachtet hatte, oder vielleicht auch, weil sie selbst zu lebhaft fühlte, daß man den Freund nicht leicht ungeliebt lassen könnte. Sie kam zuletzt wieder auf jene Aeußerung zurück, die er über Müllern gethan hatte – er verstehe ihn: der arme Mann gehöre auch zu Denen, die sich fremd in diesem Cassel fühlten. Dies Leid, das auch das seinige schien, ging ihr nahe; sie setzte sich vor, es wenigstens nicht an sich fehlen zu lassen, daß es dem brüderlichen Freunde wohl in ihrem Kreise werde.

Ludwig, dem sie über Tische von Hermann's Stimmung und Besuch bei Müller erzählte, war der Meinung, der Freund bedürfe mehr einer praktischen Thätigkeit.

Ein Ueberschuß von Kräften stört die Zufriedenheit eines Mannes oft viel eher, als eine Unzulänglichkeit derselben, sagte er. Diese nöthigt doch zu einem Bestreben, zu einer Anstrengung, während der Ueberschuß meistens zum Ueberdruß führt. Glaube mir, Linchen, unser Hermann ist nicht mit Cassel, sondern wahrscheinlich mit sich selbst unzufrieden, und irrt sich, wenn er's umgekehrt meint, nur in der Selbstbeurtheilung.

Die Stimmung Hermann's, die ihn zur wehmüthigen Einsamkeit seines Zimmers zog, rührte freilich von einer Ursache her, von der das junge Ehepaar keine Ahnung hatte. Doch war es nicht mehr die ursprüngliche, mit innern Vorwürfen verbundene Trauer über die verhängnißvolle Stunde, die ihn im Boudoir der Gräfin Antonie überrascht hatte. Er beklagte einen Verlust nicht mehr, der ein ihm eben geschenktes Glück in demselben Moment, und ehe es ein Gewinn des Herzens geworden, rasch verschlungen hatte. Daß aber eine solche Hingebung, wie er sie erfahren, sogleich zu einem Nichts werden konnte, hatte ihm doch hinter all' den lustigen Geschichten der Residenz, die ihm bis jetzt unglaublich gewesen, einen tiefen Blick ins Leben geöffnet, der in einer für das Ideelle im Leben so vertieften Seele einen dauernden Eindruck zurücklassen mußte.



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