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Neunzehntes Kapitel

Erasmus und ich wurden bald vertraut. An jedem Abend rief ich ihn entweder durch meine Geige herunter, oder er mich herauf durch seinen Gesang zur Gitarre, nicht zum Klaviere, denn der Ton des letzteren drang nur in die Herzen, welche drei Schritte von ihm schlugen. Dann wechselten wir manch' trauliches Wort. Eines Abends – es war schon Winter, und der Schnee lag fußhoch – saßen wir am Tische in der Erkerstube und tranken Schneiderbier, das Erasmus aus dem Treppengeländer gezapft hatte. Nämlich die Studenten im Grundewaldschen Hause hatten, wenn sie Bier trinken wollten, die Wahl zwischen zwei Arten. Das Schneiderbier war eigentlich bloß für die Grundewaldsche Werkstätte bestimmt und mit Wasser vermischt, damit das Schneiderblut sich nicht zu Exzessen hinreißen lasse. Aber das Studentenbier war unvermischt. – Also wir saßen am Tische bei Schneiderbier und sprachen über allerlei. Ich erzählte Erasmus aus meiner Lenzbacher Kinderzeit und die Geschichte von der einsamen Harfe. Wir nannten uns längst schon du, und dieses Wörtchen war der Schlüssel, mit dem wir manches aufschlossen. Auch Erasmus ließ mich in seine Knabenjahre blicken. Nie, Eduard, war ich glücklicher, sagt' er, als in Lillerode, wie ich auf meines Vaters Knieen ritt, im kleinen Wohnstübchen an der Hausflur. Und nun erzählt' er, wie in der warmen Schulmeisterstube die Lampe düster auf dem Tische gebrannt, der Vater in der kattunen Jacke auf dem Kanapee gesessen und Rechenexempel korrigiert, die Katze sich unterm Tische geleckt, daneben ein hölzernes Pferdchen aus einem kleinen Rollbrett gestanden habe, mit einem langen Bindfaden daran, die Wanduhr geschnarrt, die Wäsche am Ofen gehängt, und im Ofen die schürende Magd gelärmt. Das war meine Welt, fuhr er fort, mein Himmel, mein alles. Rauschend zog eine große Zeit mit blutigen Flügeln über dem Stübchen hinweg. Mich kümmerte sie nicht. Die elterliche Liebe durchdrang, durchatmete, trug und hielt mich. Die Außenwelt blitzte hier und da mit paradiesischen Farben in meine unverständige Seele und rief darin himmlische Ahnungen und Träume hervor. Der Vater brauchte sich also kaum noch an das Klavier zu setzen, um mein kleines Herz zu entzücken. Wenn er die Skala buchstabierte so durchschauerte mich das Gefühl, als wären jene Töne Worte eines fremden Wesens. Alle Sonntagabend kam der Pfarrer, um mit meinem Vater über die Zeitungen, über Napoleon und die Alliierten zu reden. Er pflegte, als ich größer geworden, mich an solchen Abenden im Lateinischen zu unterrichten und zu examinieren, so lange, bis sein Töchterchen kam, um ihn abzurufen. Nun, Rasmus, sprach in solchen Fällen der Vater zu mir, zeige dem Herrn Pfarrer, ob du die Konjugationen inne hast. Bescheidentlich trat ich vor den Herrn Pfarrer und ließ mich befragen. Die Augen der Mutter glänzten mir voll Stolz entgegen, und ihre Besorgnis, die fremdartigen Wörter, besonders da, wo es in das verwünschte iri hineinging, möchten falsch sein, weil sie so schwer klangen, verschwand mit einem Male, als sie den Herrn Pfarrer das Examen mit »gut« schließen hörte. Jetzt schlug es 10 Uhr. Zugleich hört' ich die Haustüre auf und zu rappeln. Darauf öffnete sich leise die Stubentür, und des Pfarrers Töchterchen trat herein. Sie trug damals noch herunterhängende Zöpfe und ein weißes Schürzchen. Sie sagte guten Abend und näherte sich dem Tische. Darauf hob der Pfarrer den Schirm der Lampe auf, um den kleinen Gast zu erkennen, und da schien das Lampenlicht auf ihr Antlitz. Siehst du, wenn die Abendsonne auf den Frühling scheint und die hängenden Birken und das duftige Firmament beleuchtet, und dann die abendliche Gegend flüsternd, errötend und zitternd den Gruß erwidert, so denk' ich an das kleine Gesichtchen, das die Lampe beschien, als der Pfarrer den Schirm hob. Auf beiden Seiten ihrer Stirne floß, wie ein träumender Strom, das gescheitelte braune Haar. Ihr Auge war ein Miniaturbild einer Welt, die im Äther schwimmt, und es war, als hätte sie der Herr eben geschaffen und den feuchten Glanz seiner Liebe über die jungfräuliche Kugel gegossen. Das Näschen, Eduard, ist mir das Liebste von allem Griechischen. Zwischen dem Ohre und der Wange schlängelte sich die Schönheitslinie einer verirrten Locke. Wenn die Engel auf dieser Erde nirgends mehr ein Plätzchen hätten finden können, um zu beten, – auf den Wangen dieses Mädchens durften sie getrost beten und opfern dem Herrn auf diesem schneeigen Plane. Ja, es kam mir vor, als wehte schon die Opferflamme glühend über dem reinen Altare. – Du bist's, Marie? sagte der Pfarrer und klappte den Schirm wieder über die Lampe, und es war, als wäre die Sonne hinuntergegangen. – – Ich selbst (fuhr Erasmus nach einigem Schweigen fort) wußte nicht, wohin ich meine Hände tun sollte ob ich sie auf die Knie legen oder in die Taschen stecken sollte. Während nun die Eltern verständig miteinander fortredeten, gesellten sich die Kleinen zusammen. Marie kam auf den kleinen Schulmeister los und fragte: Was hast du denn da für ein Buch, Rasmus? Ich errötete vor Eitelkeit und antwortete gleichgültig: O, das ist der Bröder, darin muß ich lernen bei deinem Vater deklinieren und konjugieren. – Das ist wohl schwer? fragte sie mit ängstlicher Miene. – Ja, sehr schwer! sagt' ich mit Wichtigkeit. Da steh nur her, – das ist hortor, das nennt man ein deponens, dem siehst du's gar nicht an, wie schwer es ist. Du solltest glauben, das hieße: ich werde ermahnt, – behüte! es heißt: ich ermahne. Aber konjugieren kann ich nun schon, und ich komme bald an die Syntaxis. – Marie bekam einen Schrecken vor diesem Worte und flüsterte: Ach du armer Junge! – Jetzt nun störte der Pastor den kleinen Professor und sprach: Komm, Marie, die Mutter wartet, wir wollen nach Hause gehen. – Und sie hüpfte an ihres Vaters Hand zur Stubentür. Die Alten gaben sich die Hände, und da gab ich ihr auch die Hand und sagte nichts, nicht einmal gute Nacht, aus Dummheit. –

Erasmus schwieg und schaute still vor sich hin.

Und was ist aus der kleinen Marie geworden?

Die ist ein großes, hübsches Mädchen geworden. – Eduard, soll ich nicht noch eine Flasche Schneiderbier bestellen?

Mein Gott, Erasmus, die Flasche ist ja noch über die Hälfte voll. Träumst du denn?

Er sah mich an. Es standen ihm Tränen in den Augen. – Wir beide schwiegen. – Da klangen wieder die Kuhreigentöne der Hörnermusik durch die Nacht.

Ich trank in der Verlegenheit schnell ein Glas Schneiderbier und sagte – ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber auf jeden Fall war es nichts Gescheites.

Erasmus gab keine Antwort.

Ich sprang auf und faßt' ihn an beiden Ohren und rief im Gemisch von Scherz und Rührung: Weine nicht, ich kann das nicht leiden. Oder wenn du's nicht lassen kannst, so erzähle mir wenigstens, was dich drückt. Heraus damit! du bist verschlossen.

Ich bin nicht verschlossen.

Ja, das bist du, eifert' ich, und das ist unrecht von dir. Wer weiß, in welches Meer du den Schlüssel zu deinen Herzkammern geworfen hast. Aber die Freundschaft hat einen Dietrich und will die Kammer öffnen.

Ach, störe die Kammer nicht, sagte Erasmus. Es ist eine Schlafkammer. Wecke niemand darin auf, Eduard. – Du nennst mich verschlossen? Hast du einmal gesehen, wenn die Kinder um ein brennendes Papier stehen und den irrenden, verschwindenden Funken in der Asche zusehen?

O ja! sagt' ich. Die Jungen sagten mir dann: Siehst du, das ist eine Kirche, und die Fünkchen, die so sanft hin- und herziehen, das sind die Kirchenleute. Die gehen alle nach Hause. Der letzte ist der Küster, der geht auch nach Hause und schließt die Kirche zu. – Aber was willst du damit, Erasmus?

Erasmus stand auf. Sein Pfeifendeckel schlug läutend an das Rohr. Mein Herz, Eduard, sagte er mit kalter Miene, war eine Kirche, und die Liebe war der Küster. –

Nein, rief ich, sei nicht verschlossen! Sie sind noch alle in deinem Herzen und beten, nur du bist nicht darin. Am Altare kniet noch dein Küster, wenn er dir auch den Rücken zuwendet. Ich höre noch Choräle in deiner Kirche, ich sehe noch die ewige Lampe darin brennen und höre den Glauben noch mit großen Orgeltönen durch deine Brust ziehen und die Liebe darin singen, alte fromme Melodien, die du nicht mehr kennen willst, Erasmus, die du zurückweisest von deinem Ohre, damit sie nicht die alten, verhaltenen Tränen lösen, ohne welche du ja nicht leben, nicht einmal unglücklich sein kannst. Sei nicht mehr verschlossen. Komm, wenn es dir wohltut, an mein Herz. Erzähle mir! sprich, wie war es? Du hast das Mädchen lieb gehabt?

Da warf sich plötzlich Erasmus schluchzend in meine Arme. Lange lag er so. Eine große Last schien sich von ihm zu wälzen, und eine laue Frühlingsluft durch seine Seele zu wehen. Die Hornmusik wurde immer weicher und sehnsüchtiger, die Tränen immer sanfter, das Weinen immer stiller. – Mein Arm, auf dem er lag, schmerzte mich. Ich richtete den Freund langsam in die Höhe. – Jetzt nicht, sagt' er leise, ich will dir bei Gelegenheit alles erzählen. Jetzt bin ich nicht ruhig genug. Laß uns heute nicht mehr davon reden. Ich fühle, daß ich zu weich geworden bin. Er trocknete sich hastig die Augen, griff zu seiner Gitarre und spielte, in der Stube auf- und niedergehend, in den Saiten.

Ich ehrte seine Stimmung und schwieg.

Von dem albernen Schneiderbiere war noch die halbe Flasche voll. Ich schenkte ein, um etwas Wirklichkeit in Erasmus hineinzulärmen. Keiner trank.

Da gestalteten sich die Gitarrentöne zu weichen, vollen Akkorden. Erasmus stand, mit dem Rücken an das Fenster gelehnt, und seine Stimme sang mit bebender Innigkeit

In der Ferne
Wohnt mein Glück,
Wie der Sterne
Goldner Blick.
In der Ferne
Wohnt mein Schmerz,
Ringt zum Sterne
Himmelwärts.

In der Ferne
Wohnt ihr Bild,
Und die Sterne
Grüßen's mild.
In der Ferne
Wohnt mein Leid,
Sagt ihr, Sterne:
Lieb' verzeiht.

In die Ferne
Schaut' ich oft,
Hab' zum Sterne
Treu gehofft.
Weit und ferne
Wohnest du,
Überm Sterne
Meine Ruh'.

In der Ferne,
Dort und hier
Lieb und gerne
Bist du mir.
Lieb und gerne
Du allein,
Überm Sterne
Wirst du mein.

– Die Klänge versäuselten langsam. Die Töne der Jägermusik wiegten sich noch rufend in den Lüften und schwammen endlich, vereinigt und versöhnt, in einem großen Akkorde zusammen.

Erasmus sah ich drei Tage lang nicht wieder.


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