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Drittes Kapitel

Überhaupt war es eine gute Zeit, als ich nur zwei Schulen kannte. Ich war damals noch ein kleiner Junge, zu Lenzbach, wo meine Eltern wohnten, und ungefähr in dem Alter, wo man noch an das Christkindchen glaubt, und wo einem spaßhafte Leute weis machen, man könnte die Vögel fangen, wenn man ihnen Salz auf den Schwanz streute. Jene beiden Schulen hießen die Kantorschule und die Rektorschule und erschienen mir als die beiden einzigen Stufen und Stationen zur erschrecklichsten Gescheitheit. Aber ich habe hernach gefunden, daß sich der Weg bis zur Gescheitheit sehr lang zieht, wie die Station von Lutter am Barenberge bis Braunschweig. Die Kantorschule und die Rektorschule waren mir sozusagen die beiden Universalbrüste aller menschlichen Weisheitsmilch. Die erstere säugte den Knaben mit Liebe und lehrte ihn das Wort Gottes buchstabieren, ihr verdank' ich also das meiste. Bei der anderen kriegt' ich die rasendsten Prügel, worauf ich gleich zurückkommen werde. Es ergibt sich schon hieraus ein fühlbarer Unterschied zwischen beiden Schulen. Ein anderer bestand darin, daß in der ersteren zweimal wöchentlich gesungen, in der anderen aber alle Tage geheult wurde, eben wegen der Prügel. Und ein dritter Unterschied war der, daß in der Kantorschule viele frohe Kinder saßen und jedes zwei Kinderfreunde vor sich hatte, einen, um in ihm lesen zu lernen, und den andern, um es von ihm zu lernen, denn dieser war der Kantor selbst. Nur einen Vereinigungspunkt hatten beide Schulen, nämlich die gemeinschaftliche Türe aus einer Schulstube in die andere. In dieser Türe war ein Guckloch, das der Kantor geschnitzt hatte, um zu sehen, ob faule Schüler die Singstunde etwa privatim und heimlich in der Rektorschule hielten. Das Auge, das oft durch dieses Loch sah, ist nun längst gebrochen, und meine Liebe weint ihm dankbare Kindertränen nach. Der Rektor aber prügelt lustig im Schaumburgschen fort. Raff hätte was Gescheiteres tun sollen, als seine Naturgeschichte schreiben, und die römischen Könige etwas Besseres, als Rom auf sieben Hügel bauen, was ich beweisen will. Reden wir zuerst von Raff. Als uns in der Rektorschule Naturgeschichte gelehrt wurde und wir an den Esel kamen, konnten wir's unmöglich lernen, wodurch sich der Esel von den übrigen Geschöpfen vorzüglich distinguierte, weil nämlich jeder von uns ein Esel sein sollte. Folgendermaßen ging's her. Der Esel, lehrte der Rektor aus Raff pag. 534 ff., hat eine dicke, fast unempfindliche Haut! Hatte das nun einer in der nächsten Stunde vergessen, so hieß es: Warte, du Esel, ich will dich's lehren! Dann gab's Prügel, daß es ein Jammer war, und wenn die vorbei waren, dann schrie der Rektor: Was hat nun der Esel? Dann heulte der Geschlagene, Ellnbogen und Rücken befühlend: Eine dicke, fast unempfindliche Haut! – Der Esel, hieß es weiter, hat über den Rücken einen langen Streif! Hatte das einer vergessen, so hieß es: Warte, du Esel, ich will dich daran erinnern. Schnapp! gab's einen starken Wichs über den Rücken. Was hat nun der Esel? Die schluchzende Antwort war: Einen langen Streif über den Rücken. Der Esel, rief der Rektor, wird 20 bis 25 Jahre alt. Wie alt wird der Esel? wie alt? 25 sausten auf den Rücken. Antwort: 25 Jahre (nicht einmal die 5 ließ er ab). Der Esel, wenn er schreit, schrie der Rektor, schreit: Hinham! Hinham! und ia! ia! Ich folge hier einer authentischen Quelle, nämlich Raff a. a. O. Wie schreit nun der Esel? Wir hatten's vergessen. Wartet, ich will's euch lehren! Es regnete Schläge. Wie schreit der Esel? Hinham! Hinham! ia! ia! auweh! – Von der Eselshaut, schrie er, macht man Trommeln. Aber auf dem Rücken dessen, der's vergessen hatte, schlug der Rektor eine Reveille des Gedächtnisses. Was macht man nun aus der Eselshaut? Trommeln! Herr Rektor, ach du lieber Gott! Trommeln! –

Mit den sieben Hügeln verhält es sich so. Die größeren Jungen – es waren schon ziemliche Schlingel – hatten beim Rektor von 10-11 und wir Kleinen von 11-12 Uhr Privatstunde. Eines Tages nun kam ich um 11 Uhr, aber doch etwas zu frühe, in die Schulstube und drückte mich bescheiden in die Ecke. Der Rektor sah mich zwar, ließ sich aber nicht irre machen und fragte eben einen von denen, die vor ihm saßen: auf wieviel Hügeln Rom erbaut sei? eine Frage, die mich wegen ihrer Schwierigkeit in gerechtes Erstaunen setzte. Vergnügt rieb ich mir die Hände, weil ich dachte, es ist gut, daß du nicht dasitzest und die Frage zu beantworten hast. Ein ganz großer Bengel antwortete nun: Auf zehn Hügeln! Entweder hätte er kein großer Bengel sein oder richtig antworten sollen, denn beides kam mir zum Schaden. Den Rektor jagte die Zahl zehn wie ein Blitz vom Stuhle auf, und sein Gesicht glühte in historischem Zorne. »Du Erz-General-Schafkopf!« war der erste Donnerschlag auf jenen Blitz, und nun fuhr er fort: »Dort der Kleine in der Ecke (hier meinte er mich) soll dich beschämen! Komm' mal her, du!« Mit Zittern naht' ich. »Auf wieviel Hügeln ist Rom erbaut?« Mir fiel zunächst eine sehr angenehme Lustpartie bei Lenzbach ein, wo man eine schöne Aussicht hat, und welche »die neun Hügel« heißt. Zugleich wollte ich von jenen zehn doch etwas abziehen und platzte also heraus: »Auf neun Hügeln!« Auf diesen neun Hügeln kam das Gewitter zur vollständigsten Entladung, und wer bekam die Schläge? Ich, der Kleine, der mit aller Gewalt beschämen sollte, und es doch nicht konnte, ich bekam die Hiebe, der ich doch nur neun Hügel gesagt hatte, und so der Wahrheit doch um einen Hügel näher gerutscht war, während der andere gar drei Hügel der Stadt Rom zugelogen hatte, ohne nur einen einzigen Schlag dafür zu erhaschen.

Unschwer wird der Leser aus diesem allen schließen, daß ich in der Naturgeschichte sowohl, als in der Geschichte, wenig profitierte. Ebenso auch im Konjugieren. Von amare ist mir das Activum immer leichter geworden, als das Passivum. Ich kann hierbei nicht unbemerkt lassen, wie gewissenlos Bröder seine Beispiele der lateinischen Konjugationen gewählt hat. Sind sie nicht ein wahrer Roman? Fängt nicht die ganze Geschichte mit Liebeleien durch alle Tempora an, und läßt er nicht, nachdem alles hortari, doceri, fateri, legere, loqui und audire vergebens gewesen ist, die traurige experientia hinten nachhinken? Bröder ist allein schuld, wenn der Schüler mit dem Konjugieren zugleich zu lieben anfängt. Mehr dagegen als in obigem habe ich in der Naturlehre gelernt und über manche Dinge richtigere Begriffe erhalten. So fing ich z. B. als kleiner Knabe oft das Regenwasser auf und schmeckte es, in der Absicht, etwas ganz Besonderes daran zu schmecken, weil es nämlich aus dem himmlischen Brunnen kam, aus dem der liebe Gott und die Engel tranken. Später, als ich Naturlehre lernte, hat mir der Rektor diese Dummheit ausgebleut. Jetzt regnet's Regenwasser statt Gottesbrunnen, und der liebe Gott und die Engel sind mir über den Kopf gewachsen, und mein liebes kleines Kindertraumbuch ist zum Katechismus geworden. Ach, ich möchte mich noch einmal sehen, wie ich das Regenwasser kostete und dabei andächtig nach dem Himmel sah, und den Glauben an das Christkindchen möchte ich auch noch einmal wieder haben, und auch den Glauben, daß alle Menschen gut wären. Man wird rasend vernünftig, wenn man erst groß wird.

Jetzt hat mir der liebe Gott bereits 25 Goldstücke gegeben und mir dabei gesagt, ich sollte fröhlich damit spielen. Sie sollten alle mein gehören, aber ich sollte keins davon verlieren, und wenn ich müde wäre, wollte er sie mir aufheben und mir demnächst einen schönen Christbaum dafür kaufen. Ich wollte, ich bliebe noch lange leben, denn diese Goldstücke sind Jahre. –

Ich freue mich über diese Abschweifung und kann nun einiges daran knüpfen. Zuvörderst muß ich bekennen, daß ich in des Rektors Prügelsystem weiter nichts als einen neuen Beweis gründlicher Pädagogik erblicke, und mich freue, zu dieser Erkenntnis gelangt zu sein. Die gewöhnliche irrige Meinung vom Gegenteile rührt offenbar daher, daß die Prügel den ersten Völkern als etwas Unangenehmes und Unbehagliches erscheinen mochten. Aber so inconsequent ist der Mensch! Mir ist die Hafersuppe schon als Knabe zuwider gewesen, einem andern ist es die Sagosuppe, einem dritten die Reissuppe u. s. w. Aber alle diese Suppen sind sehr gesund. Warum sollte nicht eine gute Prügelsuppe, obschon sie nicht jedem Unkundigen mundet, zuträglich sein? So mochte mein Rektor denken, und in der Tat hatte er recht, aus vielen Gründen. Es ist bekannt, daß das Rückenmark die Fortsetzung des Gehirns ist, indem das Gehirn durch den Rückgrat ausläuft. Im Gehirn sitzt aber der Verstand, der Scharfsinn, das Gedächtnis. Es ist daher schlau, durch Kitzeln und Anregen des Rückgrates mittels Schlägen das Gehirn, und somit den Scharfsinn zu wecken und, wie der Rektor auf diese Weise tat, in steter Wachsamkeit zu erhalten. Was kann überdies ein wohlwollender Rektor, wenn er aus dem Knaben einen hoffnungsvollen Schüler bilden will, besseres tun, als daß er ihn mit der Farbe der Hoffnung übermalt? Was kann er, frag' ich, um sich das Andenken an die Lehren des Guten stets im Knaben zu erhalten, besseres tun, als ihm die Farbe des Vergißmeinnichts sanft aufzudrücken? Was kann er, frage ich weiter, um patriarchalischen Frieden in der Schule einzuführen, besseres anwenden, als jedem Schüler die Farben des Regenbogens, welcher das Sinnbild des Friedens ist, zierlich auf den Rücken zu pinseln? Zugleich ist ein wohlgeeigenschafteter Stock für den Knaben der Zauberstab, durch den der Rektor den religiösen Sinn in des Knaben Herz influieren läßt. Er prägt ihm auf diese Weise ein, daß man sich frühe an die Schläge des Schicksals gewöhnen und sich ihm dankbar ergeben müsse. Ja, er sagte mir einmal: »Gerade weil ich dich so lieb habe, ärgert's mich von dir am meisten, und deswegen bekömmst du so harte Wichse.« – Aber der Rektor muß mich erschrecklich lieb gehabt haben.

Hier hab' ich einen neuen Stock (sagte einmal der Rektor, als er hereintrat) da könnt ihr dran riechen! Dabei hielt er den Stock dem Ersten unter die Nase. Wir Kleinen aber kamen alle hinter den Bänken hervor und riefen: Ach, lassen Sie uns auch mal riechen, Herr Rektor! – Der Stock blieb ungerochen, oder nicht unsere Naivetät.

Erkläre mir doch der Leser, warum ich schon in meinem achten Jahr die Winkel eines Triangels berechnen mußte? Ach, ihr Eltern und Lehrer! Tut doch mir und den Kleinen die Liebe und laßt sie Kinder sein! Streifet doch dem jungen Geiste, wenn er eben seine Knospe entfaltet, nicht den Blütenstaub ab, um Schulstaub darauf zu streuen, und laßt die Blume an der Sonne Gottes blühen, statt hinter den Treibhausfenstern der Studierstube. Jaget dem Knaben, wenn er mit frischen und roten Wangen vor euch steht, nicht das junge Blut durch Vocabeln aus dem kindlichen Antlitz, und trübet nicht das helle fröhliche Auge durch den Kummer über gelehrte Zweifel. Reißet ihm nicht die kleinen Finger auseinander, damit er Decimen auf dem Klavier greifen, zerret ihm nicht die kleinen Flügel auseinander, damit er glücklichere Kinder überflügeln könne, und lasset ihn auf keinen andern Stelzen gehen, als auf wirklichen. Ach, ist es denn nicht genug, daß den gereiften Geist Zweifel quälen, wohin er nur das forschende Auge wendet, muß denn schon die junge Saat durch diese Qual, welche im kleinen Kopfe tausendfach wächst, getötet werden? Ist es denn nicht genug, daß die Männerbrust soviel Schmerz über Lebensfragen zerreißt, muß denn schon das kleine Herz des Knaben die Angst martern, mit der er am Sonntagabend ins Bett kriecht, wenn er seine Montagslection nicht begriffen hat? O warum mußt' ich in meinem achten Jahre den mathematischen Triangel berechnen, statt dem klingenden nachzulaufen, wenn das Bataillon mit der Musik kam? Warum mußt' ich mich mit algebraischen Formeln herumbalgen, statt mit andern Knaben? Wo ist der Mensch, der nicht manche Stunde zurückwünscht, die er anders verleben möchte? Beim Jüngling ist's manche drückende Lehrstunde in der staubigen Schule, bei dem Manne oft das Gegenteil, und beim Greise oft das ganze Leben.

*

Vorstehendes, wie alle folgenden Kapitel, auf einem Spaziergange in mein Taschenbuch niedergeschrieben, trug ich soeben – es ist Mitternacht – in das Manuscript ein, und komme, wie der Souffleur, nachdem das Stück (d. h. hier das Kapitel) aus ist, hiermit nochmals unter dem Vorhang hervorgekrochen, um dem Leser privatim eine gute Nacht zu wünschen. Niemand ist mehr wach, als ein fernes Posthorn und meine Feder, – vielleicht nicht einmal mehr der geneigte Leser. Draußen liegt finsteres Dunkel auf der Stadt, und die Träume der Schläfer ziehen flüsternd um die düsteren Kammerfenster. Die Katze schleicht über die Dächer, und der Alp schwirrt durch die Schlüssellöcher. Droben aber am Himmel gehen leise die freundlichen Sterne und singen:

Wir ziehen über Berg und Tal
und über's weite Meer;
Wir ziehen über Menschenqual
Und Menschenglück daher.

Wir kennen, was in stiller Brust
Sich vor der Welt verhüllt,
Und was in namenloser Lust
Ein einsam Auge füllt.

Und wenn der Schmerz die Seele quält,
Wir geben ihr die Ruh',
Und wenn die Lieb' ihr Glück erzählt,
So hören wir ihr zu.

Wir schau'n auf manches kühle Grab,
An dem ein Mensch sich härmt,
Und schimmern in die Laub' hinab,
In der die Liebe schwärmt.

Wir reden mit dem Gram und sind
Stets mit dem Kummer wach;
Die Träne des Entzückens rinnt
Gern unter unserm Dach.

Wir schlingen in den luft'gen Höh'n
Den stillen, frohen Reih'n,
Und scheinen Ruh' und Wiedersehn
In jedes Herz hinein. –

Wie freundlich jener große Stern auf mich herniederblickt! Er wandelt so still und rein daher, wie die Tugend. O was gleicht diesem Sterne? Rosa-Stramin nenne mir den teuersten Namen!

»Henriette.«

Henriette, ich liebe dich, und du bist schön wie dieser Stern! –


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