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Viertes Kapitel

Besser als das Schulwesen zu Lenzbach gefiel mir dasige Kirchenwesen.

Bei uns ist in jeder christlichen Stadt, wie in einem frommen Menschen, eine Kirche. So hat auch Lenzbach eine Kirche, aber nur eine, und das ist gut, denn in der Residenz passiert's einem oft, daß man es läuten hört und weiß nicht wo? Die Lenzbacher Kirche hat ein schönes Geläute. Dieser Umstand könnte dem Leser vielleicht unwichtig erscheinen, und die Weltgeschichte könnte sich wundern, daß ich ihr diese Lapalie aufgespart habe, allein es hat seinen Grund. Ich habe nämlich einmal eine Reise geschrieben, und darin habe ich den Lenzbacher Wein als Essig an den Salat speisen lassen. Als die Reise auf den Lenzbacher Leseclub gekommen ist, hat's Flüche gesetzt. Da es aber bald bekannt wurde, daß ich es war, der den Salat eingerührt hatte, so ist die Bombe, welche ein Lenzbacher schon gegen mich geladen hatte, nur aus besonderer Schonung gegen das Lenzbacher Stadtkind nicht losgebrannt worden. Aber Jean Paul sagt: »Verzage nicht, wenn du einmal gefehlt hast, und deine Reue sei eine schönere Tat.« Daher mache ich den Lenzbachern hiermit zwei unverhoffte Freuden. Erstens nämlich erkläre ich den Lenzbacher Wein für gut, und zweitens bekenne ich hiermit öffentlich und mit aufrichtigem Gemüt, ohne Falsch und Hehl, ohne Vorbehalt und reservatio mentalis, so wie ich es einst vor meinem Richter zu verantworten gedenke, daß das Lenzbacher Geläute sehr schön ist.

Da meine damaligen Mitschüler bereits große Kerle geworden, auch in alle Welt zerstreut sind, und ich sonach niemand mehr habe, mit dem ich noch einmal beim Mittagsläuten auf den Lenzbacher Kirchturm steigen und mich an's Glockenseil hängen kann, oder mit dem ich um die Kirche herum Räuber und Gensdarmen spielen, oder in der großen Kirchtüre mit gebrannten Tonkugeln schießen kann, so muß sich schon der Leser nolens volens bequemen, diese Dinge mit mir durchzumachen. Indessen ist es schon durch diese Worte geschehen, und der grimmige Gensdarm läßt hiermit den Leser wieder los. Vielleicht aber saust es ihm erhaben vor den Ohren, welche Erscheinung ich ihm gern erklären will. Es sind nämlich die Glocken auf dem Lenzbacher Turme, neben welchen ich jetzt im Geist wieder stehe, und zum Schalloche in die große weite Welt hinausschaue. Mein Herz wollte vergehen vor innerer Lust, wenn ich von oben herab die fernen blauen Berge und in der Nähe alle die Spielplätze, die mir unten immer so groß schienen, mit einemmal übersah, und von einem zum andern immer schnell fliegen konnte. Und unser Haus sah ich auch und freute mich, als mein Vater im Fenster guckte, unbefangen und nicht ahnend, daß ich ihn aus dieser Ferne und Höhe beobachtete. Jetzt hört er's läuten, dacht' ich, und du kannst ihm hernach sagen, daß du dabei gewesen wärest; und viele tausend Menschen, dacht' ich, hören's jetzt läuten, und ich kam mir recht wichtig vor, daß ich so dicht neben dieser großen Ursache einer so großen Wirkung stand. Den Hammer bei der Glocke besah ich mir genau und freute mich, denselbigen Hammer zu sehen, den ich oft hatte schlagen hören.

Doch wer gibt mir die kindliche Andacht zurück, mit der ich in der Lenzbacher Kirche betete? Ich durfte ja zum Herrn kommen, und niemand durfte mir wehren, denn dem Kinde war das Himmelreich. Wir Knaben saßen auf der Orgel nach der Ordnung, die wir in der Schule beobachten mußten, und der Kantor ging zwischen uns herum und sah auf Zucht, und wer von uns fehlte. Kirchenschwänzer wurden am Tage darauf in der Schule gefragt, über welchen Text gepredigt worden sei, und wer den Text nicht wußte, dem wurde er gelesen. Ich sitze jetzt wieder auf der Orgel und denke folgendes:

Erstens, daß so wenig Geschäftsleute in die Kirche kommen. Der Amtmann kommt nicht. Ohnehin macht er als Honoratior von Lenzbach nur an hohen Festtagen dem lieben Gott einen Anstandsbesuch in Stiefeln und Sporen und mit einem Tressenhut. Jetzt sitzt er zu Hause im Schlafrock und hat ein Untersuchungsprotokoll vor, betreffend den Diebstahl eines Laibes Brot. Wer dem lieben Gott Sonntage stiehlt, geht frei aus. – Pfui, wem das Sonntagsgeläute nichts ist, als ein Ohrenkitzel, bei welchem sich's am besten arbeiten läßt! Pfui, wenn, während Gott mit tausend Glockenstimmen seine Gläubigen auf der Erde zusammenruft, daheim am Aktentische ein Ding sitzt, das aussieht wie ein Rückstand, oder wie ein Submissionstermin, oder wie eine Rubrik in Sachen des gegen den puncto debiti, d. h. wegen einer Schuld, einer großen Schuld, die es sich selbst und der Menschheit zurückbezahlen soll, – ein Geschäft, das sich mit Appellation-Extrajudicial- und Hämorrhoidalbeschwerden herumplagt, und dem der Geschäftsstil lieber ist, als der deutsche Stil, das die Freundschaft nur kennt aus dem litis consortium, und die Liebe aus den Fornications- und Divortiensachen, und die Natur aus den gerichtlichen Augenscheinen und Steuerbuchs-Extrakten, und den lieben Gott aus dem juramentum judiciale, – wenn so ein Ding, sag ich, daheim sitzt und sagt: Ich habe keine Zeit in die Kirche zu gehen.

Unterm Läuten klappen die Bänke, und die Männer poltern auf den Chören und Bühnen, und die Weiber gehen ehrbarlich und ernst durch die langen Gänge der Kirche, bescheidene Jungfrauen mit dem Buche in der Hand desgleichen, und kein Mensch tut, als kenne er den andern. Die Männer halten einige Minuten lang, wenn sie in die Kirche und an ihren Platz gekommen sind, den Hut vor's Gesicht. Warum tun sie das? Schämen sie sich, daß sie den heiligen Geist um seine Gegenwart anflehen? Oder wollen sie, daß man es, wenn auch nicht ihrem Gesicht, doch der Hutmaske ansehe? Vernünftiger scheinen mir zwei andere Gründe. Man will entweder den eigenen flatterhaften Geist unter dem Hut gefangen nehmen, wie man auf diese Weise Schmetterlinge fängt, oder man will, wie man sich mit vorgehaltenem Hut böse Hunde vom Leibe hält, auf diese Weise den Teufel von sich abhalten. Bei allen folgenden Gebeten betet der Hut, wie ein vornehmer Mann, nicht mit, ausgenommen beim letzten. Wahrlich! vor dem Sonntagshut eines bejahrten Spießbürgers soll man Respekt haben, bloß wegen der vielen Gebete, die schon hineingehaucht sind

Das Lied beginnt. Der Gesang schlägt seine Wogen um mich her und reißt die Herzen mit sich fort. Jetzt wälzt auch die Orgel ihre großen Töne durch die Kirche. Eine unendliche Flut rauscht und braust um mich her, und die wonnezitternde Seele nennt gläubig den großen Namen des Herrn.

»Die Himmel rufen, jeder ehret
Die Größe Gottes, seine Macht,
Die ausgespannte Veste lehret
Die Werke, die sein Arm gemacht.
Und aller Welten Harmonie
Verkündigt und besinget sie.«

In tausend Echos umziehen mich die Akkorde. Horch! wie die Engel singen, wie die Sonnen durch die Unendlichkeit den großen Namen des Herrn rufen! Wer nicht Gott ist, müßte beben und auf die Knie hinzittern und jammern um Gnade, daß die Allmacht den Wurm nicht zertrete. Aber durch die Donner der Sphärenmusik klingen sanfte Flötentöne der Liebe. Millionen und Millionen danken und hoffen und lieben und sehnen sich, und der Vater hört und sieht jedes kleine ohnmächtige Gefühl in dem Herzen der Menschen, jede Freude und jedes bange Weh und jede weinende Empfindung und jedes jubelnde Entzücken, und weiß es, Henriette, wie mein Herz dich liebt!

»Es strömt von einem Tag zum andern,
Gleich Bächen, ihre Rede fort,
Und eine Nacht erzählt der andern
Laut ihr gedankenvolles Wort.«

Die Sternennächte gehen durch die Unendlichkeit. Sie heben ihren Schleier und senken ihn wieder, und alles erkennt und betet an. Sonnen ziehen durch das unermeßliche All. Eine Welt schwingt sich in ewigen Kreisen um die andere. Auf jeder wird gekämpft und gerungen und geliebt und gehofft. Aber einen Stern gibt es in der ewigen Vereinigung, und auf diesem Stern, Henriette, werd' ich dir sagen, wie mein Herz dich liebt. –

Gesang und Orgel verstummen, die Menge schlägt die Gesangbücher und die Himmelstore meiner Phantasie zu, reinigt sich das bequemste Plätzchen zum Sitzen und bedenkt gar nicht, wie dem jungen Kandidaten zumute ist, den ich jetzt die Kanzel besteigen sehe. Er stört mich, weil ich ihm die Angst ansehe und in meine Seele herüberpflanze. Ich habe einmal gelesen, daß wer zum ersten Male predigt, niemand so sehr rührt, als sich selber. Davon ist der Kandidat ein Beweis. Die Geister meiner Andacht lagen, wie sonnige Paradiesvögel, mit ausgebreiteten Flügeln über meiner Seele. Der junge Pfarrer hat sie verscheucht. Der Prediger soll sich in die Herzen seiner Zuhörer versetzen, und die guten Gefühle und Gedanken die schon darin schlummern, nur herausziehen und emporrichten. In meiner Brust treff' ich den Kandidaten nicht an. Er gibt sich viele Mühe, den Knäuel religiöser Gedanken, der in manchem Zuhörer liegen mag, ordentlich auf dem Haspel des Systems abzuweisen. Aber bei mir fruchtet's wenig.

Er predigt über die Barmherzigkeit und Mildtätigkeit und macht, nicht ohne Geist, die Bemerkung, daß einem hier auf Erden diese Tugend selten gedankt wird. Verfasser dieses weiß davon mehrere Geschichten. Nämlich ein kleiner armer Junge stand an der Straße vor dem Frankfurter Tore, wo der Weg nach den Felsenkellern führt. Da kam ein Ladenschwengel angetanzt mit einer schönen Crawatte und einem Bambusstöckchen und sang aus Fra Diavolo. Der Junge sagte, er hätte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und sah dabei aus, wie die Stubendecke da oben, und weinte. Jedoch der Ladenschwengel sang weiter aus Fra Diavolo, bis ihn, als der Junge hinter ihm herlief und ihn um Gottes willen bat, eine menschliche Rührung übermannte, und er dem Knaben einen Pfennig gab. Der Pfennig war freilich ein hannöverscher, und der Junge war in Kassel. Aber bedanken hätte sich der Bettelbube doch wohl können. Nicht den Mund tat er auf. Der junge Mensch tanzte weiter, und das Herz pupperte ihm in dem seligen Gefühl, etwas für die leidende Menschheit getan zu haben. – Aber nicht nur, daß einem selten gedankt wird, – die Leute verschmähen oft sogar den guten Rat, den man ihnen aus christlichem Herzen gibt. Davon weiß ich wieder eine Geschichte. Nämlich ein alter zerlumpter Bettler stand an derselben Chaussee. Da kam ein Primaner daher. Der Kerl sprach ihn an mit zitternder Stimme um eine kleine Gabe. Aber der Primaner sagte, indem er vorüberging: »Das Betteln ist verboten, Ihr müßt arbeiten und die Knochen gebrauchen, wie andere Leute auch.« Das war wohl ein gescheiter Primaner! Der alte Bettler hätte sich den guten Rat merken sollen. Aber das tat er nicht, sondern hob drohend den Finger auf und riß die Augenlider weit auseinander und rief mit fürchterlicher Grabesstimme hinter dem Primaner her: »Ich bin sechsundachtzig Jahre alt!« Dem Primaner wurde ganz angst. Er lief schneller, und die ganze Nacht stand ihm das alte Bettlergesicht vor den Augen. In derselben Nacht starb der Bettler. Hätte er gearbeitet und seine Knochen gebraucht, wie andere Leute auch, so wäre er nicht verhungert. – Was ist wohl weniger wert als ein Strauß Veilchen? Und ein Kreuzer ist wahrhaftig Geld genug dafür. Dennoch weiß ich eine Geschichte, wo ein Bauernmädchen, obgleich es einen Kreuzer für so einen Strauß bekam, schändlicherweise den Käufer betrogen hat. Rosa-Stramin, sing' doch mal das Lied:

»Kauft, schöner Herr, die Veilchen!
Zwei Kreuzer gebt Ihr mir!
Ich steh' ein langes Weilchen
Bereits vergebens hier.

Mein Vater liegt im Grabe,
Meine Mutter liegt im Grab.
Herr, für die kleine Gabe
Kauft mir die Veilchen ab!«

»Geh', kleine Dirne, raff dich!
Die soviel Geld begehrt!
Das Sträußchen ist wahrhaftig
Kaum einen Kreuzer wert.«

»Aß heut' noch keinen Krumen,
Und, Herr, mich hungert sehr.
Drum nehmt sie, nehmt die Blumen!
Gebt mir den Kreuzer her.«

Das Mädchen gab die Veilchen, –
Da fiel 'ne Träne drauf –
Der Herr, der nahm die Veilchen,
Die Träne mit in Kauf.

Und wie er kömmt nach Hause –
S' ist kaum 'ne Stunde her –
Da blühet an dem Strauße
Kein einzig Veilchen mehr.

Die Farben, die sie trugen,
Sie sind verwelkt und blaß.
Er will den Duft versuchen, –
Da sind die Veilchen naß.

Da faßt's ihn erst mit Leide,
Und drauf unheimlich an,
Er legt den Strauß beiseite,
Sieht nie ihn wieder an. –

Der Kandidat predigt noch immer fort. Da aber die Predigt kein Ende nimmt, so denk' ich, lassen wir ihn reden, denn ich habe so wenig Zeit als der Leser.

Ich sitze übrigens, während ich schreibe, wie in der Kirche, nämlich auf einem alten Baumstamm, mitten im schönsten Frühlingsabend. Matter, goldiger Glanz liegt auf der Gegend. Zwischen zwei violettfarbigen Bergen zieht ein Strichregen dahin. Aus Nachtigallenkehlen singt der Tag sein Schwanenlied. Ferner Bauerngesang und schwaches Abendläuten zittert durch die ruhigen Lüfte. Die Mücken spielen im letzten Strahle der Sonne, und balsamduftend weht der Hauch der ewigen Liebe durch die klare freundliche Welt. – O wie schön, wessen Leben einst so verginge, wie dieser Abend!


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