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Neuntes Kapitel

Ein blondlockiger Knabe (Sigismund hieß er) sagte, als ich ihm gestern die Weihnachtsgeschichte von meinem Brüderchen Louis erzählte: ich sollte ihm noch mehr erzählen. Gern nahm ich den Knaben vor mich zwischen die Kniee und erzählte ihm die Geschichte vom kleinen Paul folgendermaßen.

Nämlich, lieber Sigismund, es ist einmal ein kleiner Junge gewesen, namens Paul, und seine schöne Mutter. Die hat den Jungen sehr lieb gehabt und saß vor der Hütte und strickte, und der kleine Paul lief um sie her und spielte. Gegenüber wohnte der Nachtwächter, der hatte einen Hund, namens Felix, und der Felix und der kleine Paul waren sehr gute Freunde. Wenn die Mutter den kleinen Paul angezogen hatte des Morgens und ihm ein Stück Brot in die Hand gegeben hatte, dann lief der Junge vor die Tür und rief mit seiner lieben kleinen Stimme: Felix! Felix! Dann dauerte es gar nicht lange, so kam der Felix herbeigesprungen und warf dabei die Vorderpfoten wie ein stolzes Pferd und galoppierte auf den kleinen Paul los. Dieser setzte sich dann auf die Schwelle der Tür, und der Felix legte sich vor ihn mit dem Kopfe auf die Vorderpfoten, als möchte er gern spielen, und dann tat der kleine Paul, als wenn er weglaufen wollte, und dann lief der Felix hinter ihm her, und so liefen sie und spielten zusammen, bis der kleine Paul müde war und sein Brot herausholte. Dann sah der Felix bald das Brot und bald den Knaben an, und der kleine Paul meinte, der Felix wäre ein artiges Kind, das niemals fordert, sondern wartet, bis man ihm gibt. Dann brach er sein Brot von einander und gab dem Hunde die Hälfte davon, und das geschah alle Morgen. – Aber nun auf einmal ist Pauls Mutter krank geworden, sehr krank, und des Nachtwächters Frau ist viel ein- und ausgegangen, und einmal, da ist sie auch aus dem Hause gekommen und hat geweint. Der kleine Paul spielte just wieder mit dem Hunde. Und nicht lange nachher sind Leute gekommen, die brachten einen großen, langen Kasten, der braun angestrichen war, und stellten ihn auf die Hausflur, und der kleine Paul wußte gar nicht, wo seine Mutter war, weil er sie seit zwei Tagen nicht gesehen hatte, und sein Brot hatte ihm immer die andere Frau gegeben. Wie nun der kleine Paul eines Morgens wieder aufgewacht ist, da hat in dem langen Kasten seine Mutter gelegen, in einem schönen, weißen Kleide, und hat geschlafen, und die Leute haben dabei gestanden und haben geweint. Der kleine Paul aber ist herbeigelaufen und hat gerufen: Aufwachen, liebe Mutter, aufwachen! Aber die Mutter ist nicht aufgewacht. Da hat der kleine Paul gefragt, warum denn seine Mutter so geputzt wäre; aber sie haben ihm keine Antwort gegeben, sondern es war da ein alter schwarzer Mann, der hat den Knaben, wie er so fragte, auf die Stirn geküßt und hat gesagt: Warte nur, lieber Paul, deine Mutter wird gewiß bald wieder aufwachen! Darauf hat die Frau des Nachtwächters das Kind auf den Arm genommen und es herüber in ihr Haus getragen, damit der Junge nichts sehen sollte, und dabei hat's just geläutet auf dem Kirchturme. Aber der Junge ist der Nachtwächtersfrau hernach wieder weggelaufen, hinüber in seiner Mutter Haus, und hat immer gerufen: Mutter, liebe Mutter! Aber es war keine Mutter da. Der Felix wollte wieder spielen, aber der kleine Paul hatte keine Lust, sondern ist weiter gelaufen, durch die Hintertüre und durch den Garten aufs Feld, und hat immer gerufen: liebe Mutter! Aber es war keine Mutter da. Nun ist der kleine Johannes daher gekommen, der sagte zum Paul: »Ich will dir sagen, Paul, wo deine Mutter ist, dort auf dem Totenhofe, wo die Tür aufsteht, und wo da so viel neue Erde ist, da ist deine Mutter drin.« Und da ist der kleine Paul fortgelaufen, und die Nachtwächtersfrau hat ihn nirgends finden können. – Wie's nun Abend geworden ist, da hat der Wind gebraust, und es ist kalt geworden, weil's nämlich schon Wintertag war, und der Mond hat hell durch die Bäume geschienen. Die Abendglocke hatte schon lange geläutet, und es war Mitternacht und der Nachtwächter ist mit dem Felix durch das Dorf gegangen. Wie sie bei dem Totenhof kamen, da sieht der Nachtwächter, daß was Weißes darauf ist, und der Felix läuft geschwind hin, aber er hat nicht gebellt wie sonst und ist auch nicht zurückgekommen, sondern hat bei dem Weißen gestanden und geleckt, denn es war sein kleiner guter Freund, der Paul. Der lag auf dem Grabe und rief: Mutter! liebe Mutter! – Was machst du denn hier, Paul? sagte der Nachtwächter. – Ich will zu meiner Mutter, zu meiner lieben Mutter! – Der Nachtwächter hat ihn aber wieder auf den Arm genommen und in sein Haus getragen und aufs Bett gelegt, wo er auch bald eingeschlafen ist, denn er war müde von der strengen Luft. Am andern Morgen hat er Milch und Brot bekommen und hat den Felix gefragt: Felix, weißt du nicht, wo meine Mutter ist? Die Nachtwächtersfrau sagte: Paul, sei still, deine Mutter ist im Himmel. Und da hat der Paul bitterlich geschrieen: Ich auch, ich auch in den Himmel, ich will bei meiner Mutter! – Wie es nun Abend war, da ist der kleine Paul wieder weg gewesen, und der Nachtwächter ist wieder am Totenhofe hergekommen, und der Mond hat wieder geschienen, und es ist wieder sehr kalt gewesen. Der Felix sprang gleich wieder voran auf den Totenhof nach der frischen Erde, und der Nachtwächter sah, wie der Hund wieder leckte. Diesmal bellte er aber auch ganz laut. Aber der Nachtwächter, als er bei den Hund kam, sah wohl, daß das Bellen nichts half, denn der kleine Paul war – erfroren.

»Ach! Und da –?« fragte mein goldgelockter Sigismund, der mich andächtig und nachdenklich anblickte und immer noch nicht genug hatte.

Nun, und da ist der kleine Paul bei seine Mutter gekommen.

»Und da?« fragte Sigismund weiter.

Ja, und nun ist die Geschichte aus, lieber Sigismund, und da hat der kleine Paul nie wieder geweint. –


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