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Siebzehntes Kapitel

Über meinem Zimmer war ein Dachstübchen, in welchem ich schon mehrmals schwere Tritte gehört hatte. Am Abend des dritten Tages schallten auf einmal drei ungeheure Schläge durchs Haus. Erasmus hätte sich den Arm aus dem Leibe schlagen können, um dafür eine Tasse Tee hineinzukriegen, aber was half's?

Ich muß mich näher erklären. Schon war ich am dritten Abend im Begriffe, zu der Stube über mir mit der Diogeneslaterne hinaufzusteigen, als ich, noch auf der Treppe stehend, sah, wie sich die Tür der Dachstube auftat, und der Studiosus der Theologie Erasmus Gabelstich – so hieß der Dachmensch – lang und hager, mit einer Brille und einem großblumigen Schlafrocke aus seiner Türe heraustrat. In der linken Hand hielt er eine Lampe, welche das blasse Gesicht beleuchtete, und eine Tabakspfeife, an der ein messingener Deckel hing und sonderbar läutend an den Pfeifenkopf schlug. In der rechten Hand aber trug er ein Stück Holz, als hätte er eine Katze auf der Spur, die er treffen wollte. Aber er ging bloß an das Treppengeländer und schlug drei große Fehmgerichtsschläge darauf, daß es dröhnte bis auf die Hausflur. Auf diese Weise pflegten die Bewohner der Grundewaldschen Dachstube, die immer arme Teufel und genügsam waren, zu klingeln, wenn sie etwas haben wollten. Aber, wie gesagt, das Klingeln half nichts, weil's blauer Montag war, und die Grundewaldsche Nadel in der Schenke saß und soff. Niemand ließ sich hören, weder Christian, der dumme Lehrling, dessen Beine im goldnen Elefanten wankten, statt zur Dachstube zu fliegen, noch das Wasser zum Tee, sondern bloß drei neue Schläge, wodurch aber ebenfalls weder Christian aus dem goldenen Elefanten (was erst später geschah), noch das Mosiswasser aus dem Treppengeländer herausgeschlagen wurde.

Ich sagte zum blassen Treppenvernichter, ich wäre vorgestern eingezogen und wollt' ihn besuchen. Gabelstich machte ein stummes, hölzernes Kompliment, indem er mich in seine Stube führte. Das herunterlaufende Dach schnitt einen Teil der Stube schräg ab und ließ kaum Platz zu einem Mansardenfenster, aus dem man gerade in die Dachrinne sah. In der Stube war ein Sofa, ein Tisch, ein heiseres Schulmeisterklavier, eine Gitarre, ein paar Noten und Kollegienhefte, ein halber Laib Brot und ein Topf mit Schmalz.

Ich habe schon neulich des Abends, sagt' ich, nachdem wir gegenseitig etwas bekannter geworden waren, Sie singen hören. Die Töne zogen mich an und wurden mein Führer nach oben.

Die Musik ist meine einzige Unterhaltung, sprach der Theologe, schlug den Schlafrock über den Knieen zusammen und setzte sich neben mich. Ich gehe selten aus. Rauchen Sie, so will ich Ihnen eine Pfeife stopfen.

Erasmus reichte mir eine mit langen Quasten. Die Pfeife mit dem läutenden Deckel behielt er selbst.

Sie werden sich wundern, fuhr er fort, es ist ein trauriges Leben hier. Nachdem ich zehnmal um den Wall herumgegangen war, hatte ich Göttingen vollkommen satt, und das Einerlei ergriff mich mit so wahnsinniger Gewalt, daß ich wünschte, der Wall möchte nun auch einmal um mich herum gehen, bloß damit's Abwechselung gäbe. Doch sind hübsche Partien in der Nähe, z. B. die Rasenmühle, die ich Ihnen empfehle. Weende hat wenig Reiz, und Groonde ist neulich erst durch die Mordgeschichte berühmt geworden, die sich da ereignet hat.

Ich bat Gabelstich, mir diese Geschichte zu erzählen.

Vor acht Tagen, begann er, standen in Groonde, das eine kurze Strecke von hier an der Straße liegt, viele Leute vor einem Hause und schauten neugierig hinein. Das Haus hatte ein Stockwerk, war zehn Schritt lang und eben so viele breit und mit Stroh gedeckt. In dem Stübchen rechts lag ein Greis mit dem Gesicht auf der Erde und mit drei großen Axthieben in den Kopf getötet. Daneben lag im Bette ein altes Mütterchen, gekrümmt, und mit drei großen Axthieben in den Kopf, getötet. Eine kleine Leiter führte hinauf zum Boden. Da lag die Tochter im Bett, ein blühendes junges Weib, aber jetzt sah sie blutig aus und zerschnitten an Hals und Gesicht, und die schöne Brust war schwarz und zerschlagen, und das große Auge war gebrochen. Bei dem Brunnen im Dorfe stand ein Pfahl, darauf waren fünf blutige Finger abgedrückt. Die gehörten einem jungen Bauern, der seine Kleider da gewaschen hatte, und dieser junge Bauer war, wie sich jetzt entdeckt hat, der Mörder. Zufällig ist er auch der Sohn der beiden alten Leute und der Bruder der jungen Frau. Das Häuschen, wo die fatale Geschichte passiert ist, steht nicht weit von der Chaussee. Es ist noch nicht zusammengestürzt. Über der Haustür steht ein hübscher Vers.

Ich fragte Gabelstich, wie der Vers lautete. Erasmus lächelte und sagte: der Vers lautet:

»Herr Gott, segne dieses Haus
Und alle, die gehen ein und aus.« –

In diesem Augenblicke sprang mit einem verwehenden Gewimmer eine Saite auf der Gitarre, was mir gelegen kam, da das Gespräch eine unbehagliche Wendung nahm. Gabelstich nahm das Instrument auf mein Bitten, um den Schaden zu reparieren.

Ich fragte ihn: wie denn das gesellige Leben in Göttingen sei?

Gesellschaften in Familien, z. B. in Professorenhäusern, sind schwer zugänglich und entsetzlich steif.

Ich werde sie meiden, sagt' ich.

Auch ich tat es, rief der Theologe, und doch weiß ich ein Lied davon zu singen.

Haben Sie Verwandte hier? oder sind Sie vielleicht aus Göttingen?

Ich bin aus Lillerode. Aber das launige Schicksal hat einen Onkel von mir zum Professor gemacht und ihn nach Göttingen gesetzt. Zu diesem mußt' ich, infolge väterlichen Befehles, alle vierzehn Tage, Sonntags morgens hingehen und ihm meinen Respekt bezeigen. Bald merkt' ich, daß dieser Onkel, wenn andere Klienten zugegen waren, mich Sie nannte, wogegen er mich, wenn wir allein waren, mit Du anredete, – natürlich, denn ich trage einen braunen, strapezierten Frack. Darauf schrieb ich nach Lillerode, sie möchten mir einen neuen Frack schicken, den wollt' ich alle Sonntagmorgen zum Oheim tragen lassen, wie eine Visitenkarte, aber ich selber würde nicht wieder hingehen. Neulich nun hatte mich der Professor zu einem Teedansant einladen lassen. Nicht ohne Wehmut besah ich meinen Frack.

Gabelstich holte ihn vom Nagel. Ich sah deutlich, daß kaum noch so viel Haare darauf waren, als ein Schinkenburger Stadtsoldat auf den Zähnen hat.

Besagten Frack, fuhr Erasmus fort, ließ ich mir, da ich ihn zum Professor anziehen wollte, von meinem Stiefelwichserjungen rein machen. Apropos! diesen Jungen schaffen Sie sich an! Er heißt Haase, hat Witz und ist flink auf den Beinen. Als er draußen die Motten herausklopfte und bürstete, stürzte er plötzlich totenbleich und vor Schrecken bebend, in das Zimmer herein und erzählte mir, er habe, als er den Frack gebürstet, plötzlich, nichts mehr unter den Händen gehabt. Er müßte, meint' er, den ganzen Leibrock weggebürstet haben.

Erasmus band einen Knoten in die Saite, tat einen tiefen Zug aus der Pfeife, blies den Dampf langsam von sich, und über sein hageres Gesicht ging ein Sonnenschein der Heiterkeit.

Also mit diesem Frack, fuhr er fort, ging ich zum Professor. Die Teegesellschaft blendete mich, als ich hereintrat, mit ihren vielen Lichtern und Damen. Lachen, Rufen, Sprechen, Klappern mit den Tassen und Teelöffeln, Rutschen mit den Stühlen – alles tönte durcheinander. Die Gesellschaft kam mir vor wie ein Schlachtfeld, wo's blutig herging. Hier lagen ein paar zappelnde Herzen, dort lag ein guter Ruf, dem das Bein abgeschossen war, hier eine Courage im Sterben (nämlich die meinige). Dort brannte ein Zimmer in Entzückung, ganze Regimenter von Romanfloskeln zogen heran. Amoretten plänkelten, dicke Rauchwolken von Parfümerieen stiegen empor. Das kleine Gewehrfeuer von Galanterie und Koketterie knatterte rechts und links, und das grobe Geschütz dicker Lügen umdonnerte mich. Endlich hing über dem Schlachtfelde nur noch eine große trübe Wolke von langer Weile, und viele Seufzer und viel Unsinn zogen wimmernd hin und her. Die Seufzer galten hauptsächlich der Tanzmusik, die auf sich warten ließ. Nicht weit von mir stand ein Fräulein mit der Tasse in der Hand und sprach über das neue hannöversche Kriminalgesetzbuch.

War sie schön? fragt' ich.

Ihre Frisur war unerreichbar und ein hängender Garten der Semiramis. Köstliche Blumen kamen in jenen hohen Regionen noch fort und blühten, wie hier unten auf der Erde. Zwischen den Haaren lagen einige Perlen, wie Tränen der gekränkten Natur. Zwischen dem Ober- und Unterkörper des Fräuleins war ein starker Einschnitt, der dazu dienen mochte, das Herz mit etwas anderem zu pressen, als mit der Sehnsucht vergeblicher Liebe. Sie war gerüstet zum Kampfe gegen die böse Männerwelt, aber gerüstet wie die Griechen, welche beim Kampfe das Kleid kürzten. Und der Fuß! Ich wünsche mir eine Handvoll Claurenscher Fußfarben, um diesen Fuß malen zu können. Er war unmenschlich gepreßt, um nie vor dem Feinde laufen zu können. Das Fräulein war schön wie ein mit Gold beschlagenes Rosenknöspchen. Aber er stand vor ihr, süß wie sein Tee, interessant wie ein wahnsinnig gewordenes Vergißmeinnicht. Zwei schmachtende Augen sprachen, was sein Herz nicht zu nennen wußte. Die kühne Nase sprang verwegen in das Weltall. Auf dem Munde wuchs, wie auf einem Beet, ein Schnurrbart, und unter dem Kinn ragten zwei große Vatermörder hervor. Auf jedem derselben saß an der Spitze ein sterbender Amor und deklamierte aus der »Schuld«. Der süße Herr schlug einen Entrechat und sprach zu dem Fräulein: »Ich bin sehr unglücklich.« Dabei trat er mich auf den Fuß. Ich hätte den Kerl gern eine Zeitlang zum Fenster hinausgehalten, aber da mein Onkel die Gesellschaft gab, und ich einen strapezierten Frack an hatte, so tat ich's nicht. Endlich ging der Tanz los. Eine Polonäse brauste, wie eine unendliche Tonflut, in den Saal hernieder. Melodische Walzer wiegten die Seele, der Triangel fiel mit klingenden Tontropfen dazwischen, glühende Paare rauschten an mir vorüber. Ich bekam auch Lust zu tanzen. Da ich aber einen strapezierten – und überhaupt war mir's zu heiß, und die Trios der Walzer waren himmlisch. Ich hörte ihnen lieber zu – und überhaupt ich kann's niemand beschreiben, wie einem bei einem schönen Walzer auf einem Balle zumute ist, wenn man sich allein fühlt.

Sie haben recht! erwiderte ich. Man wird nie leichter traurig, als mitten im Jubel, und nichts ist entsetzlicher, als sich durch das heiße Glutmeer des Ballsaals ohne Teilnahme des Herzens hindurchdrängen zu müssen. Ein weiches, gesangreiches Walzertrio ergreift uns dann mehr, als zwanzig dickbackige, prahlende Posaunen.

Eben das meint' ich, sagte der Dachmensch. Es ist ein eigenes Gefühl, wenn beim Jubel der Instrumente plötzlich das Herz eine stille heimliche Frage tut, ich will einmal annehmen z. B. »Wo ist dein Mädchen?« – dann steigt ein Gedanke herauf aus den tiefsten Tiefen der Seele, ein lieber Gedanke. Es ist, als würd' er getragen von Schalmeientönen, vom Kuhreihen der Sehnsucht. Der Gedanke legt sich dicht ans Herz. Er ist süß, aber er tut weh, sehr weh. Er träufelt Gift ins Herz und nagt darin immer weiter, und das Herz merkt's nicht. Er ruft lauter und schreit endlich in das Walzertrio hinein: du armer lustiger Mensch, wo ist denn dein Mädchen?

Nein, da ist's doch, rief ich, in Kassel anders. Dort tanzt' ich im Abendvereine wohl öfters. Da geht's gar nicht steif her. Da wickelt sich das Vergnügen die Ärmel auf und tanzt dem Teufel ein Ohr ab.

Die Gitarrensaite war aufgezogen. Ich bat Gabelstich, mir eins zu singen. Er ging nicht gern daran. Endlich klimperte er immer vernehmlicher. Die Lampe stand auf dem Tische und warf ein geisterhaftes Licht auf das schöne, blasse, brillenlose Angesicht. Er sang folgendes Lied:

Ich sammelte die Trümmer
Aus meiner gold'nen Zeit,
Die alten, lieben Zeugen
Verschwundner Seligkeit.

Ich nahm die braune Locke,
Die sie mir umgehängt,
Und die verwelkte Rose,
Die sie mir einst geschenkt.

Und die zerbrochne Nadel,
Und auch das rote Band,
Und jenen kleinen Faden,
Den ich ihr einst entwandt,

Und manches alte Zeichen
Von Lieb' und Liebesschmerz, –
Da ward mir's, ach, ich weiß nicht,
Unnennbar weh ums Herz.

Mir war, als wenn es zu mir
Wie Heimatglockengang,
Wie liebliches Geläute
Von fernen Kirchen drang.

Wohl hatt' ich eine Kirche
Mir gläubig einst gebaut,
Drin hatt' ich zu der Liebe
Gebetet und vertraut.

Das Kirchlein ist verschüttet
Tief in die Erd' hinein,
Und diese Heiligtümer
Behielt ich noch allein.

O legt mir doch, ich bitt' euch,
Werd' ich gestorben sein,
Die Kleinigkeiten alle
In meinen Sarg hinein.

Erasmus sang dieses Lied mit einer schönen Baßstimme. Hierauf wurde er ernster. Es war nichts Gescheites mehr mit ihm anzufangen, und als der Nachtwächter Zehn rief, ging ich hinunter in meine Stube. Wir drückten uns die Hand. Ich löschte meine Diogeneslaterne aus. –


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