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XXXII. Hochzeit im Hafen

Allen nacheinander fiel Wilhelmine um den Hals, Fordan übrigens zu Unrecht. Er war gar nicht mitengagiert. Als einziger. Er hatte doch auch in Köben schon Mißerfolg gehabt. Bedrückt war er aber weiter nicht; er wollte auf der Oder bleiben, sowieso.

Aber wie die anderen bejubelt worden waren. Das Fräulein ahmte die Bravorufe nach, schlug die langen Hände heftig gegeneinander, damit Wilhelmine nachträglich alles miterlebe. Sie konnte es sich kaum vorstellen.

Ein Agent war dagewesen? Ein Varietéagent? Und das hielt er immer so, sich Typen aus dem Volk anzusehen? Wegen des Nachwuchses? Was das Wort bedeutete? Warum das so wichtig war für den Agenten? Wegen der Auflösung der Parenna? Staatlicher Arbeitsnachweis für Artisten?

Das Fräulein redete nur noch im Fachjargon, denn es war nahezu mitengagiert. Die Männer wollten Zerline als Garderobiere mitnehmen; und damit sie die Truppe billiger verpflege, als es im Hotel möglich war. Garderobiere der »Oderkrebse«. Das Fräulein schlug, mit dem Rockzipfel schwenkend, etwas Ähnliches wie ein Pfau sein Rad. Und ein Agent sei gar nicht alt und dick; er habe keinen Specknacken und den Bonbonhut hintenüber gestülpt, daß man die Glatze sieht; keinen Bauch; keine Zigarre beim Sprechen zwischen den Zähnen.

Am Morgen nach dem Fastnachtsball, am Aschermittwoch, nicht zu denken, hatte er die am Vorabend bestellten »Oderkrebse« in Knickerbocker und Pullover empfangen; er war jung, nett, hatte einen vollen, schwarzen Scheitel, zu Guras Anfechtung, obwohl er ihm sonst sehr gefiel.

»Nachwuchs seid ihr zwar gerade nicht«, murmelte der Agent und schmunzelte, »denn ausgerechnet den Jungen kann ich nicht gebrauchen, so gut er im Kostüm aussieht. Aber alles hat seine Grenze. Denn viel könnt ihr sowieso nicht. Deshalb dürft ihr euch auch keine übertriebenen Hoffnungen in punkto Gage machen. Eine große Tournee; mal sehen, ob ihr Anklang findet, ob sich eure Nummer einigermaßen verkaufen läßt; als Truppe aus dem Volk. Und keine neuen Kostüme anschaffen. So wie ihr gestern wart, verstanden.«

Der Onkel grüßte militärisch. Dann ging es sofort los mit der vielen Schreiberei. Namen hinsetzen, Klauseln prüfen. Daß letzteres bedacht wurde, war Ohnesorges Verdienst. Vielleicht würde er selbst auf das Engagement nicht eingegangen sein, wenn er den Zustand des Kahnes ›Helene‹ nicht so klar beurteilt hätte. Er wollte es auf sich nehmen, Wilhelmine Butenhof darüber einiges anzudeuten, und ihr erst dann von dem Varietévertrag mitteilen, als kleinem Trost. Aber das Fräulein redete leider zuerst und verkehrt und überstürzt alle Breslauer Ereignisse heraus. Der Steuermann vermochte Wilhelmines Freude nicht ganz zu begreifen, bis er sich etwas Richtiges dachte.

Brave Schifferstochter, lüftete er im Geiste seinen riesengroßen, bunten Strohhut.

Das Fräulein ließ einen nicht einmal in aller Kürze auf höfliche Gedanken kommen. Dabei war es doch gar nicht zugegen gewesen, als man mit dem Agenten verhandelte. Erstaunlich, wie die Leitgöbel dennoch mit Rede und Gegenrede Bescheid wissen wollte.

Der Agent (nach Fräulein Leitgöbel): »Wenn es mir gelänge, Sie zu gewinnen, obwohl ich weiß, daß die mir nahestehenden Theater nicht in der Lage sind, Sie Ihren Leistungen gemäß –«

Die Truppe: »Wir werden es uns trotzdem überlegen, weil diese Art von Engagement, wie Sie uns vorschlagen, immerhin unseren künstlerischen Interessen –«

Vielleicht hatte aber auch Winderlich dem Fräulein manches so ähnlich berichtet.

Unverrückbar wahr blieb jedoch das Engagement der »Oderkrebse«. Nun wollte das Unglück, daß im Hafen durchaus nicht so viel und so lange von dem gänzlich unerwarteten Ereignis erzählt wurde, wie das in des Fräuleins Wünschen lag. Denn auf dem Nachbarkahn war Hochzeit, und das schien den meisten noch wichtiger. Ehe die erste Schleppfahrt des Jahres beginnt, findet immer eine Hochzeit statt, in jedem Hafen stromauf und stromab, die Oder von Zeuthen aus betrachtet.

Noch lagen die Kähne lang, schwarz und stumm im Hafen. Aber dann wurde an einem neugeteerten Kahn die Luke aufgestoßen, weit, als hoffe man auf erste Frühlingsluft. Ein Schiffer stieg herauf, eine Wimpelschnur über dem Arm. Wenige Augenblicke später standen rings auf den Kähnen Steuermann und Bootsjunge, zogen Fahnen und Transparente auf. Über dem stillen Hafen flatterte es bunt und froh; Kinder sammelten sich vor den Fischerhäusern, obwohl alle Familien drinnen auch zu feiern hatten; denn es war Firmungssonntag und Konfirmation.

Das schmale Laufbrett des Butenhofschen Nachbarkahnes entlang reichten Burschen sich Girlanden, nagelten sie an, legten einen bekränzten neuen Steg zum Ufer. Schiff um Schiff tat es ihnen gleich. Rönnpagels Kapelle in langen, schwarzen, spiegelnden Gehröcken marschierte mit blankgeputzten Posaunen und Trompeten die Fischertreppe herab und stellte sich bei den von Baum zu Baum gehängten Netzen auf. Die Schiffer und ihre Frauen, darunter die Butenhofschen Leute mit ihrem Anhang Michel und Zerline, kletterten vorsichtig (der guten Kleider wegen) von überallher dem Hochzeitskahn zu. Der Bräutigam wartete vor dem unruhigen Gewölk des Märzhimmels auf dem Deck seines neu gerichteten Schiffes und reichte die Kajütentreppe hinab seiner Braut die Hand, um ihr die schmale Stiege hinauf zu helfen. Der Braut lächelte er gut und den Gästen verlegen zu, weil das schlanke Mädchen aus der Stadt sich auf seinem Kahn noch nicht so recht zu bewegen verstand.

Den Steg zum Ufer mußten Frauen und Männer nacheinander beschreiten, nicht als Paare. So führte die Braut den Zug an. Der Bräutigam und Schiffseigner leitete sie behutsam vor sich her und zerdrückte mit seinen schweren Händen den leichten Schleier nicht. Die Kleider der Frauen wehten und leuchteten wie die Wimpel. Die Männer in den ungewohnten feierlichen Anzügen und gesteiften Hemden streckten ihre groben, braunen Hände unbeholfen von sich; den meisten war ihr Frack um Brust und Schulter zu eng, und die blaue Mütze oder der hohe Hut spannte über dem vollen Haar der jungen Schiffer.

Langsam stieg der Zug zur Stadt hinauf, flüsternd und schwer schreitend. Die Jüngeren lachten ein bißchen zwischendurch, weil immer wieder einmal in einer Reihe ein Witzbold war; die Älteren waren nur mit der Strapaze des Treppensteigens beschäftigt.

So festlicher Schar erwiesen selbst die unartigsten Fischerkinder Ehre. In deutlicher Entfernung folgten sie nach. Die kleinen Mädchen hoben die Blumen auf, die aus den buschigen Sträußen der Schifferfrauen fielen.

Die Konfirmanden und die Firmlinge begleiteten gesetzt die bewunderten Hochzeitsleute; die Knaben in ihren langen, blauen, knappen Anzügen mit Myrtensträußchen im Knopfloch und dem runden, schwarzen Hütchen auf dem frischgeschorenen Haar; die Mädchen mit gebrannten Locken, mit weißer oder schwarzer Schleife, in schwarzen oder weißen Kleidern, buchsbaumumwundene Kerzen oder das erste Lacktäschchen und ein Gesangbuch in der Hand. Es war eine schöne Unterbrechung des gemeinsamen Konfirmandenspazierganges auf dem Oderdamm.

Von Giebel zu Giebel waren die langen, dreizipfligen Schifferfahnen gespannt; vor den Türen, die breiten Stufen der Fischertreppe entlang, hatten sich die Gruppen der Nichtgeladenen postiert, rufend und grüßend, denn aus jedem Hause war zum mindesten ein Sohn oder eine Tochter unter den Gästen. Es war eine reiche Schifferhochzeit. Der Bräutigam hatte Geld aus Holland geerbt. Das war hier noch nie vorgekommen.

Wilhelmine verriet es nicht einmal Michel, der sie führte, daß sie ihn und sich als das eigentliche Brautpaar dieses Tages empfand. Jedenfalls dachte sie und niemand (nicht einmal der Onkel) daran, daß sie heut eigentlich zu den Konfirmanden gehörte: vor den Altar, zum Photographen und auf den Oderdamm zum Spaziergang vor dem Verwandtenkaffee. Aber mit dem lieben Gott fühlte sie sich ganz im reinen. Mit dem Kahn. Mit ihren Leuten. Mit Michel. Mit dem Waisenhaus für Schifferkinder. Mit Kapitäns. Mit Hannchen. Nur »Sie« müßten alle von jetzt an zu ihr sagen.

In der Kirche zischte sie, weil die Orgel sehr laut spielte, Lattersch etwas ins Ohr. Er saß zu ihrer Rechten. Lattersch sollte sich überlegen, was für ein Gedicht er sich zu ihrer eigenen Hochzeit ausdenken würde, wenn sie vielleicht einmal hier in derselben Kirche oder auch weiter unten, in Pommern sogar, einen Kapitän heiratete, vielleicht. Herr Lattersch überlegte schon.

*

Die Frau Kapitän überlegte auch. Sie solle allein entscheiden, hatte der Herr Kapitän so oder so in alles gewilligt, ehe sie noch davonbrausten mit ihrem ›C. W. V‹, dem vollen, blauen Schmelzwasser entgegen.

Bis zur Carolather Biegung war Frau Woitschach sich noch nicht im klaren. Sie wartete und wartete immer auf ein Zeichen, ein gutes, ein untrügliches.

»Nu, nu, nich gar«, schmunzelte Kapitän Otto Woitschach, »da möchte man wohl in jedem Fall in Zeuthen anlegen. Der Hafen ist ja voller Fahnen noch und noch.«

Der Kapitänin blieb das Herz stehen. Die Schaufelräder drehten rückwärts. Die Ankerkette rasselte. Das Tau wurde um einen Steinpflock und zur Sicherheit auch noch um einen Baum geschlungen. Der trug die ersten, kargen Knospen. Woitschachs ›C. W. V‹ rauchte nur noch ein bißchen aus seinem weiß und rot beringten Schornstein.

Es war sehr ruhig im Hafen, als Kapitäns an Land gingen. Aber dann kehrten die Hochzeiter aus der Kirche zurück, über den Markt, zur Fischertreppe –

»Der ›C. W. V‹!« schrie Wilhelmine und rannte dem Brautzug voran hinunter zum Ufer.

*

»Ob wir dich nicht auch – mit dem Jungen –, dich auch adoptieren, mein Herzel«, ließ die Kapitänin das Mädchen nicht aus ihren Armen, »du Biestel, du kleines –«

»Nee, nee, nich«, glänzten Wilhelmines Augen vor Tränen, »auf den Dampfer ja – aber nicht so –, wir dürfen nämlich nicht Geschwister werden, weil wir heiraten, der Michel und ich –«

Da war sie wieder weg. Bei Michel, bei ihren Leuten und dem Fräulein, riß sie aus der festlichen Schar, entschuldigte sich nicht bei dem anderen Brautpaar.

»Ein sehr ein aufgeregtes Kind«, wurde Vormund Müßiggang ganz mißtrauisch. Denn der Großneffe und das Mündel standen lächelnd vor Kapitäns.

Jetzt war das Mädchen ganz still.

»Wenn wir und wir täten's doch, dann wär'n die Leitgöbeln und ich ebenst das andere Schwiegerelternpaar«, tüftelte er sich aus, und Fräulein Zerline mußte ihm rechtgeben. Sie hatte sein Gemurmel gehört, und das verlangte eine Antwort.

»Seelensgutt bin ich Ihnen, liebes Fräulein«, nahm der Alte ihre Hand, »seelensgutt. Und nun kann ja überhaupt auch keine Feindschaft nich mehr sein zwischen uns. Wenn die und sie heiraten leibhaftig, dann kommen ja die vielen kleinen Mindels zu uns beiden.«

»Und die wissen dann auch nicht, daß wir nicht die richtigen Großeltern sind«, war das Fräulein wieder so sehr klug.

Lattersch holte sich Wilhelmine beiseite:

»Ich weiß jetzt das Versel:

Die Wilhelmine ist heut Braut.
Sie wird hier auf dem Land getraut.
Der Bräutigam ist Kapitän,
da darf der Kahn auch untergeh'n –«

Ob er jetzt an Michels Stelle Marketender werden dürfte, fuhr Fordan dazwischen. Und beinahe hätte er vor Spannung und Erregung Wilhelmine Butenhof »Frau Kapitän« angeredet.


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