Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Verwandtschaft, Dampfer und Flittermäntel

Sie beschlossen, Kaffee zu kochen. Wilhelmine ging zum Bäcker oben am ›Schwarzen Berg‹, Propheten und Küsse holen; und weil die festliche Stimmung nach Gästen verlangte, sah sich August Müßiggang schnell einmal in der neugierigen Nachbarschaft nach seinem Großneffen um.

»Wir haben einen schönen Kahn«, flüsterte der Onkel bei dem Vesper dem Neffen zu, und Wilhelmine schubste den Jungen unter dem Tisch und kniff, am Propheten beißend, ein Auge zu. Er würde verstehen, daß der Alte schon ein bissel kindisch wurde, daß man ihm seinen schönen Glauben lassen mußte und daß sie die alleinige Schiffseignerin war, Schiffseignerin Wilhelmine Butenhof.

»Ich erbe mal Vatels Fleischerei«, setzte Müßiggangs Neffe sich ins rechte Licht; und dann gestand er ehrlich: »Aber ich möchte auch lieber auf die Oder.«

»Ich gestehe es frei und offen«, gebrauchte Wilhelmine eine von den Frauen aufgeschnappte Lieblingsredensart, »wenn du eine Fleischerei in der Stadt hast, dann gehörst du aufs Land.«

Als Schifferkind mußte sie ihn verweisen. Der fromme Vormund fiel auch gleich ein: »Bei dir ist das ganz was anderes als bei uns«; und dann begütigte er: »Du hast doch überhaupt deinen Dampfer, Michel.«

Wilhelmine wurde neidisch, neugierig, unruhig. Wie? Was? Einen Dampfer?

Michel lächelte, traurig und verlegen. Die Butenhof ließ nicht locker. So kam die ganze Geschichte heraus, wegen Onkels dummer Redensart. Aber schließlich hatten ja noch hundert andere Leute, ach, die ganze Stadt, von der merkwürdigen Freundschaft mit Fräulein Zerline Leitgöbel gewußt. Damals, als Michel noch sehr klein gewesen war, hatte es sich herumgesprochen, daß er sich einmal an jedem Tage den beschwerlichen Weg die Fischertreppe hinauf machte. Es lohnte ihm, weil droben im ersten Hause in der Richtung auf den Markt zu Fräulein Zerline ihr Schaufenster hatte, wenn man die kleine Scheibe so nennen will. Denn ein Dampfer stand darin mit einem goldenen Gitter, einem Anker und zwei Schornsteinen. Und der Rauch, der aus dem ersten aufstieg, war der Griff des Schlüssels für das Uhrwerk. Staunenswert war auch ein Puppentheater aus Pappe und Holz, mit einem Vorhang, grell bemalten Kulissen und einer knienden Genoveva auf der Bühne. (Daß die Kniende bestimmt Genoveva sei, erfuhr Michel erst später.)

Als Michel und Zerline noch nicht miteinander sprachen, hatte sich des Jungen Sehnsucht nach all den schönen Dingen einmal so unbezähmbar gesteigert, daß er sich ihnen näherbringen zu müssen glaubte. Er drückte seine Hände so heftig gegen das Fenster, daß Fräulein Zerline drinnen im Zimmer – es wurde in seinem vorderen Teil Spielwarenhandlung genannt – ein leichtes Knacken zu hören meinte. Dadurch lernten sie einander kennen.

Denn Fräulein Zerline kam heftig herausgestürzt: Groß, hager, den Rock wie einen Bausch von Falten um die mageren Hüften geschnürt, mit kurzem, dünnem, grauem Haar und leeren, kleinen, grauen Augen.

»Du Nichtsnutz«, begann sie zu schimpfen, »du willst wohl einer armen alten Frau noch Schaden zufügen?«

Bei Michel überwog das Erstaunen den Schrecken: »Ich habe gedacht, Sie wären reich. Wer so herrliche Dinge hat wie die Frau Zerline und sie immer behalten kann –«

»Ja, immer behalten«, erbitterte sich das Fräulein, »das ist eben das Schlimme. Niemand kauft einem in diesem gottverfluchten Nest etwas ab.«

Das war etwas viel auf einmal. Das Fräulein war gar nicht reich, und es sprach den Namen Gottes aus und fluchte dazu. Wirklich, das war aufregend. Denn Michel war ein stilles Kind, weil er so viel allein war. Drunten im letzten Haus an der Treppe hatte sein Vater eine kleine Hafenfleischerei und dazu in einer Kammer zwei Schränke voll alter Kleider zum Weiterverkaufen, und überall in der Kammer und Küche Flaschen und Tüten mit Eßware und dazu Pantoffeln. Mit all der Ware fuhr er immer, wenn Schleppzüge in der Fahrtrinne abends vor Anker gingen, die mit Sonnenaufgang weiter stromauf mußten, im Fischerboot an die Kähne heran. Sonst saß er im Gasthof, ach ja, auch im ›Grünen Baum‹, und ließ seinen Jungen unbeachtet.

Davon kommen die traurigen Augen, dachte das Fräulein barsch, aber die Wimpern, nein, sind die hübsch.

Und hübsch war auch das schmale Gesicht mit dem starken, roten Mund. Michels Körper aber war wie zu niedrig, halb demütig und ungeschickt, halb gedrungen und voller verhaltener, unerwachter Kräfte.

»Sieh dir nur wenigstens alles an, damit du mir nicht nächstens die Scheibe ganz einschlägst«, befahl Zerline und schob den Jungen vor sich her ins Haus, in die Stube, ans Fenster. Michel griff nach dem Dampfer. Was so besonderes an dem Blechding sei, konnte Fräulein Zerline nicht begreifen.

Aber Michel machte es ihr klar.

Der Dampfer arbeitete, leistete Gewaltiges. Allerdings durfte er nie in einer Schüssel fahren, denn er mußte neu und unversehrt bleiben für den Verkauf. Alles spielte sich brav im Trockenen ab, auf Fräuleins Tisch – das war der Fluß; auf dem Sofa – das war der Hafen; auf dem hochgetürmten, geglätteten Bett – das war das Meer. Wenn man ein wenig in die Kissen fuhr, das gab vielleicht einen Sturm. Da konnte der Dampfer seine Kraft erweisen. Der Dampfer hieß er. Das genügte.

Ein Herbsttag war noch einmal so lind, so licht, daß es Zerline und Michel nicht im Zimmer hielt. Sie nahmen den Dampfer mit vor die Tür. Nicht etwa, als hätten sie zum Hafen hinuntergehen und den Dampfer ein wenig ins Wasser setzen können, an einer Schnur um den Schornstein. Nein, das wäre kläglich gewesen. Und außerdem mußte er eben »neu bleiben«.

Auf der obersten Stufe der Fischertreppe standen Zerline und Michel, und das Fräulein kauerte sich tief neben den kleinen Jungen. Sie kniffen beide Augen zusammen, und tatsächlich, wenn Michel den Dampfer dicht vor ihre Gesichter hob und man blinzelte, dann sah es aus, als fahre er drunten unter sich färbenden Bäumen, in zarter Sonne und starkem, klarem Herbstwind auf zitterndem, strömendem Wasser.

Das gab Grund genug, zum erstenmal eine Festvorstellung auf dem Puppentheater zu veranstalten. Fräulein Zerline bestand darauf. Die ganze Geschichte von Genoveva spielte sie, und sie konnte es wundervoll.

»Das verstehst du, Theaterspielen«, sah Michel die Freundin mit großen Augen an. Da machte sie ihm ein Geständnis.

Im Schrank von Michels Vater sollte ein überaus prächtiger Flittermantel hängen. Des Pastors Schwägerin hatte ihn früher einmal getragen. Aber das war noch der alte Pastor. Es ist gar nicht auszudenken, welche Macht die Pastoren, die alten und die neuen, in den kleinen Städten noch haben; trotzdem es Antennen und Kinos und Autos überall und überall schon gibt. Das ändert gar nichts.

Des alten Pastors Schwägerin war sehr zu seinem Leidwesen Schauspielerin. Und einmal, als sie zu Besuch im Pfarrhaus war, hatte sie in Zeuthen eine Fee gespielt, im ›Schwarzen Adler‹, ganz umsonst, mit Dilettanten, aus Wohltätigkeit. Dagegen vermochte auch der Pastor nichts zu sagen. Als die Schwägerin nach den Ferien wieder heimreiste in ihr Theater, ließ sie den Kindern des Pastors den Flittermantel zurück. Daß die Kinder damit spielten, wollte der Pastor ganz und gar nicht. Und weil er den Mantel niemand schenken konnte und er sich nicht verkaufen ließ, nein, mit Würde nicht, schickte er ihn zu Michels Großvater. Der Mantel hatte den Trödler nichts gekostet, aber er brachte ihm und seinem Sohn auch nie etwas. Doch weiterverschenken? Ware blieb Ware. Der Mantel hing im Trödlerschrank und war verloren für Fräulein Zerline, die in den letzten jungen Jahren ihres Lebens geträumt hatte, Schauspielerin zu werden und in solchem Flitterstaat über eine Bühne zu stolzieren und zu deklamieren wie des Pastors Schwägerin.

Michel wühlte daheim im Schrank, er rollte den Flitterschleier zusammen, steckte das Bündel unter den Arm und breitete es dann vor Fräulein Zerline aus. Das gab ein Entzücken! Sie stand vor dem schmalen, blinden Spiegel; sie raffte den Flittermantel um sich, sie steckte ihn in Falten, schlug ihn über die Schulter und zeigte es Michel einmal gründlich, wie sie als richtige Genoveva auf dem wirklichen Theater gesprochen und sich bewegt hätte.

Abends mußte der Flittermantel wieder unter dem Altkleiderkram hängen. Abends mußte Michel wieder in seinem kalten Bett liegen. Aber Tag um Tag, nach der Schule, pilgerte Michel hinauf zu seinem Dampfer und trug das Bündel von vergrautem Tüll mit glitzernden Steinchen zu Fräulein Zerline.

Jahrelang hatte Michels Vater nicht nach dem alten Theaterzeug gefragt. Nun geschah es doch, daß er davon redete: »... du bist keine Hilfe für deinen Vater wie die kleinen Jungen rings, die alle Fischerkähne teeren und die Netze flicken.« Michel hatte viel zu beschwören. Er arbeite auch. Er werde einmal etwas schaffen.

»Einmal, ich verstehe immer einmal«, schrie der Vater und ging zum Schrank, »in der Fleischerei kann ich dich nicht brauchen. Verkauf den Flitterdreck hier, und ich werde dir sagen, ob du etwas verdienen kannst.«

Er warf ihm den Knäuel zu. Von da an spürte Michel einen heftigen, einen schmerzhaften Druck in seinem Herzen, wenn Fräulein Zerline, die arm war und nur den Dampfer besaß und das Theater, den Mantel um sich hüllte oder ihn behutsam ausbreitete wie eine strahlende Erinnerung an ein Leben, das sie nie gelebt hatte.

»Sie spielen wieder einmal in der Stadt. Zur Wohltätigkeit, wie damals. Für Weihnachten«, redete sie aufgeregt zu Michel hinüber, »ganz wie damals.«

Michel schluckte an seinen Tränen. Der Vater hatte es ihm auch schon gesagt. Jetzt wäre die Gelegenheit. Jetzt hieße es beweisen. Und Michel bewies es, weil er den Vater traurig und vergrämt sah, denn der Fluß trieb schwere Eisschollen, die Kähne lagen in größeren Häfen als dem von Zeuthen, und niemand fragte nach Fleisch, Pantoffeln und alten Hosen.

Michel ging zu der Frau Rektor, die er aus der Schule kannte. Sie leitete den Verein, der »das Theater spielte«. Er verkaufte ihr den Flitterstaat für den Weihnachtsengel. Für eine Mark. Er schob es auf bis zum Sonnabend, dann wollte er dem Vater die Mark geben.

Nicht ganz am selben Tage, aber sehr nahe an ihm, machte droben Fräulein Zerline Leitgöbel ihr einziges Weihnachtsgeschäft. Etwas, etwas wurde endlich auch bei ihr geholt. Der Dampfer. Für des Bürgermeisters Jungen. Denn der Bürgermeister sagte immer: »Man muß am Ort kaufen.«

Am dritten Advent, am »Silbernen Sonntag«, wie man so sagt, war es, an dem das Fräulein in ihrem kleinen Laden verkauft und nicht gefeiert hatte. Es brachte ihr, obwohl es polizeilich erlaubt war, keinen Segen. Michel hatte recht, recht, recht mit seinen Warnungen.

»Aber ich habe es ihm gesagt«, murmelte sie, mit roten Flecken auf ihren knochigen Backen, »ich habe es ihm immer gesagt: der Dampfer ist für den Verkauf.«

Sie wiederholte es noch immer, als Michel schon vor ihr stand – vor ihr stand, wie beladen mit Schmerz und Schuld. Dann faßten sie sich an den Händen und setzten sich nebeneinander aufs Sofa und redeten nicht mehr von der Sache.

»Es geht nicht«, stöhnte Fräulein Zerline, als sie am Abend verlassener war als sonst, »ich werde morgen zum Bürgermeister gehen. Entschuldigen werde ich mich. Ich werde sagen: der Dampfer war schon verkauft. Die Frau überm Flur hat mich vertreten und ihn verkauft, und ich habe es nicht gewußt.«

Der Herr Bürgermeister solle nur verzeihen; was recht sei, das wisse niemand besser als der Herr Bürgermeister.

»Sie brauchen doch heut den Flitterstaat nicht mehr«, ereiferte sich Michel vor der Frau Rektor, als wolle er einen ordentlichen Handel betreiben. »Die Vorstellung ist doch vorüber. Ich gebe Ihnen die Mark zurück, und Sie haben umsonst gehabt, was Sie brauchten.«

Das war eine zwingende Beweisführung. Geradezu angenehm war sie. »Aber ein schlechter Trödler«, schüttelte die Frau Rektor den Kopf, »macht erst ein Geschäft und zerschlägt es dann selbst.«

Der Fluß lag dunkel und starr in schmutzigem Schnee. Der Wind der Oderebene heulte über die Fischertreppe hin und riß ein paar Silbersterne aus dem Flitterkleid, das Michel unter dem Arm trug, als er die Treppe hinaufstapfte zum Fräulein.

Was sie bisher vermieden hatte aus Angst vor dem Spott der Leute – heut konnte es Zerline nicht lassen. Sie hielt Ausschau nach Michel. Den Dampfer hatte sie unter der Schürze. Aber nun hob sie ihn mit beiden Händen in die Höhe.

Michel sah es von drunten. Er hielt an und faltete sein Bündel auseinander. Er winkte mit dem Flittermantel wie mit einer schönen Fahne.

Es war nichts geworden mit dem Handel in Zeuthen. Aber niemals und nirgends haben Liebende sich ein größeres Geschenk gemacht.


 << zurück weiter >>