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XXI. Für Reisende mit Traglasten

Stundenlang heulte das Nebelhorn vor ihnen her. Das hohe Wasser und der graue, dichte Dunst machten die Ufer fast unkenntlich: flach, klobig und verschleiert. Die Brücken wurden zu tiefen, dünnen Strichen im Gewölk.

Einmal begegneten sie dann noch einem Kahn, der aus seiner Richtung gedrängt und auf einer Buhne festgelaufen war. Die Schiffer hatten den lecken Kahn verlassen; vom Frankfurter Bergungsdampfer waren sie rechtzeitig aufgenommen worden. An einem Stock war die rote Notflagge gehißt.

Die Leute von der ›Helene‹ gaben diesem noch neuen, stabilen Motorkahn keine Zukunft mehr. Wenn das Wasser fiel, mußte er in der Mitte auseinanderbrechen, weil er quer über dem Buhnenkopf hing. Die Ladung war zur Ableichterung längst über Bord geworfen; Rohzuckersäcke trieben noch in der Nähe, es hatte nichts genützt.

Für den Butenhofschen Kahn ging mit der ungewöhnlichen Überschwemmung alles noch gut ab. Aber dann kam eben das schlimme Malheur mit dem Zank. Diesmal war Wilhelmines Grobheit und ihr Jähzorn ganz bestimmt nicht schuld. Im Gegenteil: Was an ihr Liebreiz war, hatte das Unheil heraufbeschworen. Natürlich trug auch die Nähe des Winters dazu bei. Und daß Kapitäns in der Gegend um Stettin ihren festen Wohnsitz hatten. Alles war so verworren.

»Wie das so gekommen ist«, schüttelte August Müßiggang den Kopf. Dabei mußte er es schließlich am besten wissen. Wer hatte sich denn sonst etwa mit Frau Kapitän in den Haaren gelegen?

Denn Wilhelmines Äußerung war weiter nicht böse gemeint gewesen.

Welche Äußerung? Nun: »Ich will aber nicht mehr Kind von Eltern werden. Ich bin das jetzt so schön gewöhnt mit dem eigenen Kahn und meinen Leuten. Vielen schönen Dank, aber bitte, bitte, ich möchte nicht.«

Ob es die Frau Kapitän übel nahm oder ob es sie mehr schmerzlich berührte, das läßt sich bei der kolossalen Aufregung, in der man sich befand, so schwer entscheiden.

Der ›C. W. V‹ und die ›Helene‹ waren also heil im Stettiner Hafen angelangt, das Wasser ging langsam zurück, man mußte sich um neue Ladung bemühen. Für den ›C. W. V‹ ergab sich aber keine Ordre, die sich gut mit dem Auftrag für die ›Helene‹ verbinden ließ. Die hatte Fracht an Erz zu erwarten, für die Alte Hütte, das Neusalzer Werk; eine gute Sache an sich. Nur daß sie die bedauerliche Trennung von Kahn und Schleppdampfer bedingte.

Durch diesen unerwartet plötzlichen Abschied wurde Frau Woitschach vermutlich zu der voreiligen Andeutung über ihren Entschluß verleitet. Der Entschluß selbst war sicher nicht so überstürzt. Mit Kapitän Otto jedenfalls war alles schon im klaren.

Wie der Vormund Müßiggang und das Mündel darüber dächten, wenn die Kapitänsleute Wilhelmine an Kindes Statt annähmen?

Man muß den Onkel gesehen haben, als dieses Wort fiel! Was Wilhelmine Butenhof selbst dazu sagte, das ist ja bekannt. Daß es den Onkel so packen würde!

»Das ist Kindesentführung, polizeilich betrachtet!« schrie der Onkel, und was nicht sonst.

»Was Sie sich da nicht ausgeheckt haben mit Ihrem freundlichen Getue!« bedrohte er Frau Woitschach, und der Kapitän trat immerzu auf die Seite seiner Frau, bildlich gesprochen natürlich; sonst wäre es nicht so ehrenvoll für den Kapitän gewesen.

Ausgeheckt hatte sich die Kapitänin wirklich etwas. Sie wollte es nämlich vermeiden, daß Wilhelmine, sobald der Vorschlag gemacht war, wieder allein mit ihren Männern auf ihrem Kahn die neue Fahrt antrat. Das konnte sonst eine zu gefährliche Entfremdung bringen zwischen ihr, dem Gatten und dem Kinde.

Die Kapitänin überlegte – und das erinnerte tatsächlich ein wenig an Kindesentführung – noch viel, viel umsichtiger.

Für die Kenner der Oder und des späten Herbstes stand es ganz außer Frage, daß die letzte Fahrt vor dem Eintritt des Eisganges schon wieder gekommen war. Nach dem langsamen Fallen des Hochwassers hatte eine zu anhaltende, durchdringende Kälte eingesetzt.

Gelang es Frau Woitschach, die kleine Schiffseignerin von dieser letzten Fahrt des Jahres zurückzuhalten, mußte das für die Loslösung des Kindes von seiner ›Helene‹ und all dem Drum und Dran, das ihm so lieb geworden war, unendlich viel ausmachen. Das lag in den Interessen der Kapitänin; es läßt sich gar nicht beschreiben, wie sehr.

Selbst die Geographie war Frau Woitschach behilflich, nämlich soweit sie sich auf Storkow bezieht. In Storkow hatten Kapitäns sich für ihr Alter angekauft. Mitunter hatte Frau Woitschach es schon bereut. Durfte ein hübsches Haus es einem denn gleich so antun? Saß die Verwandtschaft nicht in Schlesien? Gehörten Schlesier nach Pommern?

Der Kapitän hatte seine Frau mit schlagenden Beweisgründen, alles bildlich gesprochen, beruhigt: Ob die Oder nicht durch Schlesien, die Mark und durch Pommern fließe? Aber freilich, die Oder sei ein schlesischer Fluß.

Denn ein bissel tücksch hatte seine Marie von der Seite geschielt, ziemlich tücksch sogar, wenn man an ihre Gutmütigkeit denkt.

Nun sollte Storkow in Pommern zu der großen Gelegenheit werden. Die Frau Kapitän beabsichtigte, den ›C. W. V‹ allein mit Otto stromauf ziehen zu lassen; sie selbst hatte vor, sich bereits im Storkower Haus auf den Winter einzurichten und das immer noch blasse, magere Mädelchen – nebst Pferd in eigens zu mietendem Quartier – schon ganz bei sich zu behalten. Ach, stach die Kapitänin vor Wintersanfang in ein Wespennest! Wer an diesen Zwistigkeiten nicht beteiligt war, soll nur froh sein!

Der Onkel traute nichts und niemand mehr; nichts und niemand; kein Wort daran ist zuviel. Selbst auf der Oder fühlte er sich nicht mehr geschützt, wenn er daran dachte, daß Kapitän Woitschach mit seinem Raddampfer und nun vielleicht doch wieder mit der Frau auf ihr herumfuhr. Was Woitschach Mariechen konnte, darauf verstand Herr August Müßiggang sich auch; oho! Und wie listig er wurde.

Er wäre krank, völlig krank. Von den Aufregungen. Ausgeschlossen, daß er das Gezottele stromauf –. So klaterig, wie manche Dampfer wären. (Das war aber häßlich, vom Onkel. Doch man versteht schon.)

Er allein per Bahn nach Hause? Damit ihn noch vor dem Umsteigen in Reppen der Schlag rühre, vielleicht? Nee, nee – keine Mannsperson für ihn alten, anfälligen Mann. Ob so ein nichtsnutziges Mündel nicht Pflichten habe gegen seinen Vormund? Oder bloß gegen einen Kahn, vielleicht? Wenn ein Kraftakt erst einmal leidend würde, dann auf den Tod –

»Gutt und gutt«, sagte das Kind und ging daran, zwei Pakete und zwei Kleidersäcke zu verschnüren, und Lattersch erhielt den Oberbefehl über die völlig verwirrte ›Helene‹, wobei man sich, Lattersch einschließlich, ganz auf den Steuermann Ohnesorge verließ.

Donnerstag früh mit dem Zehnuhrzug sollte es losgehen, für Vormund und Mündel. Mittwochabend –

(Aber nun nicht groß hinsehen und hinhören: Wilhelmine lief auf den Dampfer, schlang die Arme um Frau Kapitäns Hals, küßte das gute, verbitterte Gesicht und zischte ihr ins Ohr: »Ich besorge Ihnen ein anderes Kind, ein viel besseres.«)

Und weil sich die Kapitänin das nicht vorstellen konnte, war die Frau so böse und traurig und wollte am Donnerstagmorgen auf ihrem Dampfer gar nicht daran denken, daß gerade jetzt, ganz genau in der Minute, der Zug aus der Halle fuhr.

Gern sah es der Schaffner nicht, wieviel Platz die gewaltigen Bett- und Kleidersäcke der beiden Schiffersleute, des Alten und der Kleinen, einnahmen; auch im Abteil für Reisende mit Traglasten mußte alles seine Grenzen haben.

Wilhelmine vermochte sich aber weiter nicht sehr um den Schaffner und die anderen Leute zu kümmern. Für ihr Köpfel war zu viel zu begreifen. Daß sie nun zu Lande, in heißem, rauchigem, trockenem Eisenbahnwagen neben der Oder her raste, über Brücken bald aufs rechte, bald aufs linke Ufer, als könnte ihr blauer Kahn sie niemals mehr erreichen. In knappen Stunden eine Fahrt von Tagen!

Und der Mann, der den Zug führte, nicht zu sehen. Kein Ohnesorge am großen Steuer. Der Oderwald ein schmaler, dunkler, vorüberziehender Streifen in der Ferne –

Das Grünberg: keine Weinberge! Bahnhöfe, Gleise, Signale, Telegraphenstangen, Stoppelfelder, Kartoffeläcker, polternde, schlagende, dröhnende Brückenbogen, Güterwagen, Leute, die nicht blieben, sondern ausstiegen, einstiegen, wie besessen.

Von Grünberg an besserte sich des schweigsamen Onkels düstere Laune. Noch eine Stunde, und er hatte sein Hundel in Sicherheit gebracht, geborgen vor allen Kindesentführungen.

Müßiggang entsann sich an die ersten Gespräche mit seinem Pflegekind. Es gab doch Räuber auf der Oder. Wilhelmine war bloß zu gut gewesen, um aus ihrem Kahn ein gefährliches Schiff zu machen, wie sie es dem Vormund ursprünglich angedeutet hatte.

Es gab doch Räuber auf der Oder.


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