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XXVI. Fischmarkt

Dieser Winter sollte kein Ende nehmen, wünschte Fräulein Zerline. Noch nie hatte sie mit dem künstlerischen Leben der ganzen Stadt so in Fühlung gestanden wie jetzt. Keine Theateraufführung zum Winterfest eines Vereins oder einer Innung, von der sie nicht wußte. Überall hatten die befreundeten Artisten die Hand im Spiel; sie wurden von Wilhelmine getrieben, die ihnen Verdienst zuschanzen wollte, wo es nur irgend angängig war. Die Leitgöbel war klug und überlegt genug, um sich einzugestehen, was auch sie der kleinen Butenhof zu verdanken hatte. Sie bemühte sich, das Schifferkind neben dem jungen Marketender in ihrem alten störrischen Herzen unterzubringen. Mit der Zeit fiel es nicht mehr so schwer.

Daß ihr engerer Freund Lattersch im Lauf der Zeuthener Vereinsfestsaison vor seinen Kollegen immer mehr in den Vordergrund rückte, sah Zerline nicht so ungern. Bei seinem Aufstieg maß sie sich selbst einige Bedeutung zu. Ihr Gedanke mit der Veröffentlichung in Dorns ›Beobachter‹ hatte ihm guten Erfolg gebracht. Lattersch erhielt von der Bäckerinnung, vom Bürgerverein, von der Roten-Kreuz-Sanitätskolonne, vom Verschönerungsverein und dem Bund ›Heimattreuer Posener in Niederschlesien‹ Aufträge für Prologe. Sie machten sich nicht schlecht bezahlt, zumal Herr Lattersch sie selbst auswendig lernte und vortrug. Auf die einzelnen Betonungen bestimmter Zeilen hatte Fräulein Zerline beachtlichen Einfluß.

Was sie jetzt erlebte, war nun die heißersehnte Zugehörigkeit zu jener Sphäre hinter den Kulissen: alles, was geboten wurde, schon zu kennen; Bescheid zu wissen um das Zustandekommen des einen und des anderen Effektes; nachher mit den Künstlern selbst ganz, aber auch ganz vertraulich sprechen zu dürfen!

Als Winderlich in der Rolle eines fürstlichen Kammerherrn feierlich über die gelben Seidenaufschläge seines Frackes strich und in sichtlicher, aber dennoch höfisch beherrschter Bewegung an den Goldknöpfen der aufgesetzten Manschetten zupfte – denn es handelte sich um einen historischen Einakter –, vermochte Fräulein Zerline ihrer Platznachbarin im Saal vom ›Goldenen Frieden‹ nicht länger zu verheimlichen, daß diese Verwandlung eines modernen Kleidungsstückes in ein geschichtliches Kostüm –

»Ja, droben bei mir. Sie gehen alle bei mir aus und ein.«

Die Nachbarin wollte es kaum glauben. Aber wie der Herr so ein Stück auch zu tragen verstehe. Er habe ja jetzt in mehreren Aufführungen so vornehme Rollen gespielt.

Obwohl es nun schon ein wenig zu viel war mit Tuscheln und Zischen, hatte die Leitgöbel noch zu bemerken, daß das Zeuthener Publikum sich selbst zum Lob Herrn Winderlichs Spezialbegabung für das Kavaliersmäßige entdeckt habe.

Die ganze Stadt galt ihr nur noch als Publikum. Sie faßte es nicht, daß im ›Beobachter‹ noch etwas anderes zu lesen stand als Kritiken über die Feiern und als Gedichte von Herrn Lattersch. Über Herrn Winderlich müsse noch viel geschrieben werden. Niemand, der nicht von Beruf Künstler sei, habe auf der Bühne einen so elegant wiegenden Gang, klopfe so nachlässig die Asche seiner Zigarette ab und streife im Vorübergehen den Partner mit so verächtlichem Blick. Oder wie er stumm und huldigend auf die Partnerin schaue, ganz rasch, ganz flüchtig, ohne sich etwas damit zu vergeben. Das nenne man mit dem Fachausdruck Mimik. Selbst dem von ihr so besonders geschätzten Herrn Lattersch wäre in dieser Hinsicht Kollege Winderlich überlegen.

Dann wurde Fräulein Leitgöbel aber doch von Latterschs Kaninchen im Zylinderhut mitgerissen, innerlich. Für Lattersch hatte es sich durchaus gelohnt, sich aus dem Spittel-Gutshof wieder ein Kaninchen zu beschaffen. Man hielt sich ja jetzt so lange an Land auf und fand für eine solche Nummer recht häufig Verwendung. Zudem kam es bei dem viel belachten und bestaunten Auftritt nicht im mindesten auf eine Dressur des mitwirkenden Tieres, sondern allein auf die Geschicklichkeit des Zauberkünstlers an.

Der Erfolg freute Herrn Lattersch überaus. Aber er dachte manchmal mitten im Applaus des Sonntagabends mit leichtem Grauen an den nächsten Morgen. Um fünf hieß es in Dunkelheit und Kälte aufstehen, wollte er nicht den Zug nach Neusalz versäumen. Damit verstand aber Wilhelmine Butenhof keinen Spaß. Punkt acht Uhr hatte Lattersch vor der Fischbude auf dem Wochenmarkt postiert zu sein und zu der seltenen Gelegenheit aufzufordern, die sich dank Wilhelmines Klugheit und Unternehmungslust da bot. Die zwei Stunden von der Ankunft in Neusalz bis zum Marktbeginn verbrachte der alte Mann im Wartesaal; sie waren abscheulich für ihn. Kaum war es ein leichter Balsam, daß ihn manchmal früh Arbeiter und Angestellte, die mit ihm fuhren, auf seine Darbietungen vom Vorabend hin ansprachen. Er kannte jetzt sowieso schon fast alle Leute hier.

Das Ausrufen selbst dagegen barg für ihn einige Reize. Hand aufs Herz, er hing am Rekommandieren mehr als am Zaubern. Und deshalb fand Wilhelmine Butenhof ihr Verhalten nicht so hart.

Schließlich brach sie selbst ja schon eine Stunde eher auf als ihr Angestellter. Mit Michel und Hannchen, die das Wägelchen mit den Tonnen, Fischkörben und Wannen ziehen mußte.

Den Gedanken, auch den Glogauer Markt zu beliefern, hatte man bald aufgeben müssen. Die zehn Kilometer längere Chausseestrecke schaffte Hannchen nicht mehr.

»Alte Schwarze«, strich Wilhelmine nach der Versuchsfahrt durch Hannchens Mähne und nahm ihr nichts übel, »alte Schwarze«.

Der Fischstand erregte in Neusalz viel Aufsehen.

»Diese Fische sind das Ei des Kolumbus! Wer an der Oder lebt, muß Fische essen!« schrie Lattersch mit Wohllaut und wärmte sich, indem er seine Arme immer um sich schlug, als wollte er sich heftig umarmen.

»Der Mann hat recht«, sagten die Frauen und traten näher, die Auslage an Fischen zu besichtigen. Wilhelmine hatte mit Michel Pflöcke aufgestellt und sauber gescheuerte Bretter darübergelegt. Darauf standen die Emailleschüsseln und Blechwannen mit den schlagenden, glatten, geschmeidigen Fischen von herbem Geruch.

»Alles lebendig! Die Lebendigkeit ist das Geheimnis des guten Flußfisches!« gab Lattersch den Vorübergehenden einen Tip, »der raschen Anfahrt wegen vermag unser auswärtiges Unternehmen alles frisch zu liefern. Unser Fischstand hat für die Jugend zugleich den Wert einer Menagerie, eines sogenannten Aquariums. Alles wudelt, alles lebt, alles biegt und schlängelt sich. Besuchen Sie Butenhofs Aquarium!«

Aber diesen Satz mußte der Ausrufer auf Wunsch seiner Vorgesetzten wieder weglassen. Sie hatte sich schon zu ausschließlich in das Wesen einer Fischhändlerin vertieft, wog und verpackte die Fische mit Inbrunst und Geschick, wusch die Hände, ehe sie Geld nahm und herauszahlte, schützte ihr Haar gegen den Fischgeruch, indem sie ihre Locken alle unter ihre wollige Baskenmütze zwängte und ein weißes Tuch darüberband. Dadurch ging viel von der Schönheit des Kindes verloren, es sah sogar ein bißchen komisch aus, aber man fand Wilhelmine Butenhof überaus appetitlich.

Der Fleischerssohn Michel Burda richtete sich vorzüglich mit dem Schlagen der Fische ein. Auch schnitt er sie so erfahren aus, daß allein dieser Umstand die Butenhofsche Fischhandlung bei den Neusalzerinnen sehr einhob. Eine Kleinigkeit machte dabei vielleicht auch aus, wie hübsch der große Junge war. Wilhelmine fragte nur nach seiner Zuverlässigkeit und seiner Gewandtheit.

Mit Gura, Winderlich, Ohnesorge und Fordan, diesen ihren neuen Fischern, war sie mitunter weniger zufrieden. Da fehlte es oft an der nötigen Aufmerksamkeit, wenn es galt, Löcher ins Eis zu hacken, Netze zu beschweren, sie unter dem Wasser entlang zu ziehen und – der in den Grund gewühlten Schleien wegen – recht tief zu senken.

Auch ließen sie ihr zuviel Fische zurückspringen, statt sofort den ganzen Fang aus den Netzen in die schwimmenden Kästen mit den Luftlöchern zu werfen. Namentlich Winderlich war etwas zu träge, um rasch und entschlossen genug die Auswahl zwischen marktfähigem Fisch und wertlosen Uckeln und Stichlingen zu treffen, die gleich wieder ins Eisloch gehörten. Der Vormund lernte es aber, für die anderen auf alles zu achten und jeden richtig anzustellen. Wilhelmine besaß seine Achtung schon wieder in solchem Maße, er selbst suchte so heftig ein gewisses dunkles Unrecht auszugleichen, das er an dem Kinde begangen hatte, daß er jede Anweisung des Mündels pünktlich und gewissenhaft befolgte.

Und so dachten sie alle mit Stolz an die Wannen, Schüsseln und Tonnen mit Fischen, die sich auf den Verkaufsbänken aneinanderreihten und für die winterliche Fruchtbarkeit der Oder zeugten: grünlichgelbe Barsche mit den schwarzen Querbinden; bleigraue Zander, silberbäuchig; ihr Fleisch war im Winter besonders schmackhaft; olivgrün gefleckte, plumpe Welse mit breitem, abgeplattetem Kopf, sehr geeignet zum Garnieren mit Mohrrübenscheiben und Petersilienkraut.

»Der interessanteste Fisch unseres Stromes!« verkündete Lattersch, von der oderkundigen Butenhof belehrt, »er lauert hinter versunkenen Baumstämmen, Schiffstrümmern auf Beute, fängt mit seinen Barteln die kleineren Fische, frißt Krebse, Frösche, Wasservögel – Sie ahnen nicht, meine Damen, ob Sie nicht mit diesem unserem Elitewels vielleicht eine ganze Speisekarte auftischen können!«

»Dieser Lachs«, gönnte Lattersch sich keine Ruhe, »zog von Stettin an vor uns her, von der Ostsee aus wollte er mit seiner gesamten Familie – sie bestand aus dreißig bis vierzig Köpfen – auf der Winterreise unseren Fluß besuchen. Wir überzeugten uns von Bord aus von den außerordentlichen Fähigkeiten dieser erlesenen Tiere, denen es gelingt, vier und fünf Meter hoch über Wehre und Stromschnellen zu springen, ohne Dressur.«

Aber die Käuferinnen kümmerten sich noch mehr um die Hechte, prüften die fleischigen Rücken, die langgestreckten, und die starkbezahnten Rachen. Die Hechte schlugen mit den Schwänzen, wanden sich durcheinander, grau und weiß.

Die Butterlämmchen aus Aufhalt nebenan hatten keine Gönnerinnen mehr.

»Die Haie der Binnengewässer«, unterbrach der Ausrufer seine Lehren vom Lachs, weil er bemerkte, daß ein Geschäft in Hechten zustande zu kommen versprach.

»Der Aal rutscht aus der Schüssel«, schnitt die Fischhändlerin Butenhof ihm roh das Wort ab, und Lattersch hatte seine Mühe, die Firma vor dem Verlust eines Aales zu bewahren. Noch kam es auf jeden der Fische an. Denn ein Schleppkahn und ein Haus am Hafen wollten von ihrem Ertrag ihr winterliches Dasein fristen.


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