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VI. Feierabend

Aber außer August und Berthold kamen gar keine neuen Athleten mehr. Gura, der jüngste Sohn von Müßiggangs erstem Partner, war Schlangenmensch; allerdings schien er bereits ein wenig ungelenk geworden. Lattersch konnte zaubern und Parade machen; das war immer so verlangt worden: Zaubern und Parade machen, Rekommandieren zusammen. Und der Winderlich aus Deutsch-Nettkow war schon ein bißchen taperig, gab sich aber sehr elegant. Er war früher in einem Balanceakt mit Frau und Sohn Obermann gewesen. Die Frau schaffte es spielend, Gatte und Sohn tänzelnd über die Bühne zu tragen.

Der Steuermann und der Bootsjunge hatten für die Neuankömmlinge eine Art Laube, einen Verschlag auf dem Bug des Kahnes, zurechtgezimmert. Wilhelmine schimpfte fürchterlich, als die Schützlinge das nette Ding nicht in Ordnung hielten; und Gura, Lattersch und Winderlich bewiesen einen großen Respekt vor ihrer wilden Wohltäterin.

Mit ihren vielen alten Koffern taten sie etwas ängstlich. Sie merkten, die Schiffseignerin wollte ihrem reichlichen Gepäck nicht wohl.

»Der alte Lattersch ist am liederlichsten, Onkel, nimm den zu dir und hol dir noch den Winderlich dazu, zum Ausgleich, weil der Kerl so fein tut.« Wie er jemals Räuber werden sollte, war ihr unerklärlich.

»Fordan und Ohnesorge sollen mit dem Gura in die Laube aufs Deck«, räsonierte die Butenhof weiter.

Alles fügte sich und fand es anerkennenswert, daß die Kleine so auf Sauberkeit achtete. Es war gar nicht zu verstehen, daß der Kahn in so schlechten Ruf gekommen war.

So viel es auch zu schimpfen gab, fand Wilhelmine sich dennoch sehr häufig bei den Männern ein, um ihnen zuzuhören. Sie mußte wissen, mit wem sie es zu tun hatte und ihren Kahn teilte.

Lattersch, der Zauberer, war hager wie der Onkel, hatte aber nicht so muntere braune Augen, sondern blaue, die etwas unruhig hin und her gingen. Aber der Onkel erklärte ihr, das hätte nichts Schlimmes zu bedeuten. Es kam daher, daß er beim Rekommandieren vor der Schaubude immer nach rechts und links sprechen und das Publikum heranlocken mußte. Die Stimme des ehemaligen Rekommandeurs war noch heute, in fraglos geborstenem Zustand, mächtig, mächtig. Er machte viel zuviel Gebrauch von ihr und seiner gewandten Redeweise, wie er sich überhaupt gern in Positur setzte und sich immer betrug, als stände er vor einer großen Menge. Er fuchtelte mit den Armen herum, schüttelte seine große graue Scheitellocke, frisierte sich aufs künstlichste – aber Wilhelmine hatte den Eindruck, als würden seine Haare kaum jemals gewaschen. Der Verdacht war gerechtfertigt; denn Lattersch stieß sich auch nicht an dem Gegensatz, den seine leuchtend bunten Schlipse zu den zerfransten und vergrauten Stehkragen bildeten. Aber Späße konnte er einflechten, immer wenn ein Absatz seiner jeweiligen Rede zu Ende war, Späße – man hörte ordentlich eine ganze Volksmenge brüllen, obwohl seine Zuhörerschaft jetzt nur aus den wenigen Männern bestand, mit denen eine helle Knaben- und eine rauhe Mädchenstimme lachte.

Winderlich, der als Balanceakt mit Frau und Sohn gereist war, spielte den Kavalier der alten Schule und redete gern in zweideutigen Redensarten, wobei er die Asche seiner Zigarette mit großer Geste weit von sich weg in die Luft stipste. Seiner Frau war das ewige Herumtragen von Mann und Sohn eines Tages doch zuviel gewesen und hatte sich ihr so aufs Herz gelegt, daß gar nichts mehr aus ihr wurde und sie rapid hinschwand. Der Junge war inzwischen längst in einem anderen Beruf arbeitslos.

»Nun kann er sich nicht einmal mehr engagementsloser Artist nennen«, beurteilte der Vater die gesellschaftliche Lage seines Einzigen abfällig und klopfte, während er wiegend auf und ab promenierte, an seiner Zigarette herum.

»Sie werden sich ein bissel einen anderen Gang angewöhnen müssen auf unseren schmalen Brettern«, gab ihm die Kleine grollend zu verstehen, »sonst fliegen Sie links in die Kohlen oder rechts ins Wasser.«

Und er wippte lächelnd weiter.

»Zigarette auf die Wasserseite halten«, schrie die Schiffseignerin ihm nach, »bei den Kohlen wird nicht geraucht.«

Das sah er vollkommen ein, machte eine kurze Verbeugung und wechselte die Zigarette in die andere Hand hinüber, was Wilhelmine Butenhof mit einem »Fatzke, aber er folgt« quittierte.

Gura verbarg unter einzelnen schönen schwarzen Locken einige peinlich dünne Stellen seines Haarwuchses. Er war noch jung, ansehnlich, aber eine kleine Spur niederbeinig, was ihm sogar sehr zustatten gekommen war, wenn er früher als Schlangenmensch mit dem halben Rumpf durch die eigenen Beine kriechen mußte. In der unzerstörbaren Hoffnung auf neue Engagements erklärte er vor jeder Mahlzeit, heut aber auf keinen Fall viel essen zu dürfen. Doch er nahm sich dann immer – ganz geistesabwesend – die schönsten Stücke und aß riesige Mengen von Kartoffeln hinterher. Fordan hatte es längst herausbekommen, daß er sich dann immer über einen Beutel mit Abführpulver hermachte, um das Vergehen gegen seine Schlankheit und Geschmeidigkeit wieder auszugleichen. Dagegen trainierte er nur sehr ungern; und das wäre doch das einzig richtige Mittel gewesen. Aber er war nun einmal trotz seines ständig aufgeregten Wesens faul und sanft; seine Aufgeregtheit tobte sich in überschwenglichen Ausdrücken aus. Die ›Helene‹ nannte er das schönste Schiff der Welt und Wilhelmine die gröbste Person, die ihm je begegnete. Das Kind war entzückt über diese üble Nachrede und benahm sich gegen den sanften Schlangenmenschen gern besonders schroff.

Aber wenn die schwarzen und blonden und grauen Männerköpfe alle dicht beieinander steckten und die ehemaligen Artisten ihre Erinnerungen austauschten, schnappte das Mädchen gar zu gern ein paar Brocken vom Gespräch auf. Was es nicht alles gab, wovon man gar keine Ahnung hatte; wohlklingende fremde Namen; unverständliche Fachausdrücke; abenteuerliche Redensarten; Komisches, Gefährliches und Geheimnisvolles.

Wilhelmine schien, so höflich sie behandelt wurde, überflüssig. Man ließ sie jederzeit zuhören, unterhielt sich weiter und kümmerte sich nicht sehr um sie.

Der Schiffsjunge Fordan war Feuer und Flamme für die Artisten. Er folgte ihnen auf Schritt und Tritt, hockte möglichst eng neben ihnen auf der Bordkante oder der Kajütenbank. Aber eines Abends warf man ihn recht eindeutig hinaus, und sobald Wilhelmine auftauchte, verstummte das Gespräch oder wurde ungeschickt mit zusammenhanglosen Phrasen in andere Bahnen gelenkt.

Die Kleine wurde verdrießlich und tobte los in groben, lächerlichen Flüchen. Sie drohte Faustpüffe und Fußtritte an, und zwar so heftig, so erbittert, daß die Männer, die erst belustigt gewesen waren, zum Schluß verlegen dreinschauten und betreten gestanden, sie hätten etwas für sie vor.

»Na, dann beeilt euch aber«, grollte die Kleine und gab sich noch einmal zufrieden, »sonst Feierabend.«

Sie zog mit der geballten Faust einen kühnen Strich durch die Luft zwischen sich und den Artisten.

»Nicht wahr, Onkel?« zupfte sie danach den Vormund am Ärmel, um ihm den Traum von seiner Autorität auf dem Kahn ›Helene‹ nicht zu zerstören.

Den Ausdruck »Feierabend« behielt Wilhelmine Butenhof von nun an bei als eine Art Punkt, Gedankenstrich oder Ausrufungszeichen in der Sprache. Er gefiel ihr besser als ein neuer Fluch, als die hübschesten Flüche, die sie sich laufend von ihrem Schiffsjungen zur Erweiterung ihrer früher erworbenen Kenntnisse beibringen ließ.


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