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XIV. Der Ehrenplatz

Wilhelmine hatte etwas zuviel versprochen. Am nächsten Sonntag war die Aufführung noch nicht möglich. Ohne jede Probe wollten die Männer auch keineswegs auftreten. Namentlich hatte aber Fordan vor, sich etwas einzuüben; mit dem bloßen Kostümieren und dem Harmonikaspiel durfte die neue Vorstellung für ihn nicht mehr abgetan werden. Die kleine Peinlichkeit mit dem Steuermann war rasch vergessen; er schüttelte alles schleunigst von sich ab und war immer ganz bei jeder neuen Sache. Radschlagen vorwärts und rückwärts. Das war jetzt der einzige Inhalt seiner Gedanken und das höchste Ziel seines Ehrgeizes.

Die Zeit für die Proben war – abgesehen von Hannchen und Lattersch – allseitig schwer aufzubringen. Ging die Tagesarbeit ihrem Ende zu, sackte man todmüde zusammen und war zu nichts mehr zu gebrauchen. Ganz allein Wilhelmine wollte nichts von Ruhe wissen. Unter den Farbtöpfen, die Herrn Senftlebens Geselle und Lehrling in einem Winkel sorgsam zusammengeräumt hatten, suchte sie sich Pinsel und eine Büchse mit Blau hervor und lackierte, bis Dämmerung und Mückengeschwirr es unmöglich machten, am Geländer ihrer Kajütentreppe herum. Von den Weidenbüschen her schwärmten die Mücken heran, als brüteten dort noch sumpfige Stellen vom letzten Hochwasser immer neue Tausende aus. Mit ihr jammerten und räsonierten die beiden jungen Männer und der Bootsjunge. Denn seit man die alten Segeltücher ans Ufer geschleppt und auf einen Haufen geworfen hatte, schliefen sie manchmal auf den Ballen Segel drüben, weil es in Laube und Koje zum Ersticken war.

»Die Mücken gehören nun mal zur Oder«, gab Wilhelmine endlich kleinmütig zu und klagte nicht mehr.

Unter all den Mühen der Menschen strahlte der Kahn ›Helene‹ in immer blauerem Glanz. Die Renovation war beendet, die Sonne zum Trocknen sogar erwünscht. Nur am Segel nähte man noch; dann kamen die Proben an die Reihe – und kurz vor dem großen Sonntag der Vorstellung, die nun zu einer Einweihungsfeier des blauen Schiffes wurde, hielt Wilhelmine plötzlich ihre ganze Mannschaft dazu an, Wimpel zu nähen und sie an Schnüre zu heften.

Die Malergehilfen hatten es beim Meister und seiner Verwandtschaft erzählt, wie viel herrlicher noch alles werden sollte auf der ›Helene‹; und von der Vorstellung war auch verschiedenes durchgesickert.

Herr Kapitän, Frau Kapitän, Schwester und Schwager sagten sich daraufhin zur Besichtigung des Kahnes und als Zuschauer für die Galapremiere an. Die Butenhof tat sich sehr.

So überaus erfreut die kleine Schiffseignerin sich aber zeigte, konnte sie doch eine gewisse Bedrücktheit nicht verbergen.

»Jetzt sind doch alle Schiffer neidisch auf meinen neuen Kahn und daß Sie als Kapitänsleute mich besucht haben. Und wenn wir auch noch wieder Zirkus –. Und die Polizei auch. Der Köbener Schupo. Wo sie nicht mal Hannchen umsonst weiden lassen!«

Frau Kapitän Woitschach entfaltete eine Geschäftigkeit, als sollte sie binnen zwei Tagen auch einen ganzen Schleppkahn renovieren, einen Zirkus begründen und die gesamte Polizei einer Reform unterziehen.

»Otto«, hieß es, »ohne Kapitän ist keine Disziplin im Schleppzug. Dem Butenhofkinde sein Kapitän ist auf dem Lande bei der Tochter und dem Schwiegersohn. Wir gehen auf alle Kähne und sorgen, daß das Mäderle seine Ruhe hat. Bissel fein mußt du es anfangen: sie sollen ihre Kinder ermahnen, daß sie am Sonntag das gute Werk für die Arbeitslosen nicht stören. Und ich werde sie in Wilhelmines Namen einladen.«

»Herr Bürgermeister«, ereiferte sich die Frau, »keine Lustbarkeit, Herr Bürgermeister. Die Künstler nehmen ja keinen Eintritt. Eine reine Wohltätigkeitsvorstellung, Herr Bürgermeister.«

Die Einmischung des Kapitänsehepaares übte eine erstaunliche Wirkung aus, auch wenn ein paar Mißgünstige noch auf den schönen Verdienst der Malerverwandtschaft anspielten.

Den Ausschlag gab aber, daß der Magistrat den Lantsch für den Sonntagnachmittag von drei bis sechs zur Verfügung stellte. Unter Aufsicht des Schupos. So lange reichte ja das Repertoire der Schiffsartisten gar nicht aus. Eine Stunde höchstens, auch wenn man Fordans Springerei mit einrechnete.

Der Lantsch war voll Sonne und Menschen. Im Kreise lagerten sich die Arbeitslosen von beiden Bänken mit ihrem ganzen Anhang; sie wurden von den Schifferfamilien umschlossen, deren Vergnügungssucht größer war als ihre böse Gesinnung gegen die ›Helene‹; außerdem wollten sie ihren Kindern endlich was bieten und dachten gar nicht mal mehr so übel von der ganzen Sache. Von der Stadtpromenade her fanden sich endlich noch Sonntagsspaziergänger ein und stellten sich, was anstrengend war, auf die Zehenspitzen. Aber da der Boden auf dem Lantsch so hart gedörrt war, sank man wenigstens nicht ein.

Für Herrn und Frau Kapitän hatte man die Bank von Wilhelmines Kahn auf die Wiese geschafft. Weil sie aber Platz für vier Personen bot, durften sich der Schupo und Wilhelmine in ihrem schwarzen Kleide zu den Gönnern setzen. Von einem Auftreten mit ihrem Tanz aus der Schifferschule in Fürstenberg wollte die Kleine nichts mehr wissen. Sie war erdrückt von Verantwortlichkeitsgefühl und mußte sehr oft gähnen, weil sie sich wirklich in den letzten Wochen zuviel zugemutet hatte.

Die Künstler steckten alle in der Mitte des freigelassenen Kreises in einem Zelt. Das alte Segel verrichtete noch ganz gute Dienste. Fordans Harmonikaspiel war zum Beginn der Vorstellung nicht so stimmungsvoll wie das Glockengeläut von der katholischen Kirche her; eine Viertelstunde lang, drei ganze Pulse wurde geläutet, weil es auch fromme Leute in Köben gab, die in den Nachmittagsgottesdienst gingen statt in den Schifferzirkus.

Fordan fand auch sonst nicht zuviel Beifall. Sportliches beherrschte ein großer Teil der Zuschauer nun einmal selbst zu gut; der alte Müßiggang mit seinen noch immer erstaunlichen Kräften dagegen machte aber einigen Eindruck. Alles rein Artistische wurde sehr beklatscht, da man dergleichen so lange nicht gesehen hatte. Der Schlangenmensch, von der vielen Arbeit endlich schlanker geworden, stand auf der Mitte zwischen Sport und Kunst; deshalb fand er im selben Maße Bewunderung wie nüchterne Abschätzung. Winderlich war nur in Gruppen zu verwenden, weil er es aus dem Leben mit Frau und Sohn nicht anders gewöhnt war.

Lattersch mit seinen Zaubereien rückte durchaus in den Vordergrund. Er war so ungeduldig, daß man seine Nummer vorverlegte. Den Höhepunkt bildete das Pony mit seinen Glocken. Die Frau Kapitän faßte Wilhelmine immerzu an den Arm.

»Es müßte auf eine große Varietébühne«, flüsterte sie, als säße man in einer Parkettreihe.

»Nee, dazu ist es nicht mehr jung genug«, wirbelten die Locken hin und her, und Wilhelmine war voller Wärme für ihr böses, altes, geschicktes Pferdchen. Sie wäre am liebsten zu ihm gelaufen und allein mit ihm auf dem Lantsch zur Weide gegangen. Jedenfalls sah sie über die Vorführung hinweg in das Grün und die Wolken und wurde gewahr, daß der starre blaue, durchsonnte Himmel eine bleierne Färbung erhielt, von der sich rundgeballte, dichte weiße Wolken scharfumrandet abhoben. In ihrer Mitte wuchs ein dunkler Fleck und zerteilte sich in seinem Kern nicht mehr.

Wilhelmine stieß beglückt mit dem Ellenbogen in Frau Woitschachs Hüfte, aber die war ganz bei der Zauberei und Springerei, den Kunststücken und der Musik. Richtig aufgeregt machte sie ihren Mann auf alles aufmerksam. Die Schwüle lähmte sie nicht, obwohl sich der eine oder andere Zuschauer müde ins Gras niedersetzte. Schließlich hatten ja auch allein Kapitäns, die Butenhof und der Schupo, der jung und vergnügt mehr als alle Erwachsenen lachte, von Anfang an eine Bank gehabt und konnten es aushalten. Frau Senftleben war sehr neidisch auf die Schwester; man war zwar eingeladen, aber ohne Sitzplatz. Ins Gras wollte sie sich im guten Kleide nicht setzen.

»Otto«, suchte die Kapitänsfrau auch ihren Mann anzuregen, »wie wär's, Otto? Was meinst du, Otto?«

Er murmelte zurück: »Wenn's mit dem Wasserstand gerade klappt – Ladung hat sie ja nicht mehr –«

Er wollte ungestört zusehen. Ohnesorge forderte zum Ringkampf heraus; der für die Arbeitslosen interessanteste Teil des Programms begann. Dann tuschelte wieder die Frau, und er beruhigte sie, teils weil es so in seinem Wesen lag und teils weil er recht hatte: »... ach nee, nee, für die Weinernte war die viele Sonne gar nicht so schlecht. Der quietschige Grünberger braucht Sonne und Sonne.«

Wilhelmine ahnte nicht, was über sie beschlossen wurde; denn an den Schupo gedrückt, war sie eingeschlafen. Und der Mann saß still da und tat, als merkte er es nicht; sonst hätte er sich vor den Leuten schämen müssen. Aber in die Hände klatschte er nicht mehr, während die feindseligsten Schiffer sich nicht genug tun konnten. Es galt Hannchens neuem Auftritt.

Auch Frau Woitschach nahm am allgemeinen Applaus nicht mehr teil. Sie mußte die Hände frei haben, um das Kind vom Schupo hinweg auf ihren Schoß zu ziehen. Was sie mit Otto verabredet hatte, wollte sie an die Kleine weitermelden, und da sah sie, daß Wilhelmine fest schlief.

»Die Luft drückt so; darum ist das Kind so müde; es wird ein Gewitter kommen«, nickte die Frau dem jungen Manne zu; gegen einen Polizeibeamten wollte sie nicht unhöflich sein.

Der Schupo hob den Kopf und fuhr sich mit zwei Fingern in den heißen Kragen seiner Uniform:

»Wenn es über die Oder kann, Frau Kapitän.«


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