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VII. Blindekuh

Heut zum Feierabend wirst du ja staunen«, konnte sich der Onkel am Sonnabend morgen nicht beherrschen. Am Abend mußte Wilhelmine es sich gefallen lassen, daß sie mit einer Binde vor den Augen – wie beim Blindekuhspiel – aus ihrer Kajüte zur Laube auf dem Deck geführt wurde. Der Steuermann schob sie auf den nicht gerade sehr breiten Laufbrettern, wie sie längs der Kahnseiten führen, behutsam vor sich her. Es war gar nicht nötig. Wilhelmine Butenhof ging auf ihrem Schiff auch mit verbundenen Augen ganz sicher.

Am Bug wurde sie auf einen für sie bereitgehaltenen Bretterstuhl gedrückt. Man nahm ihr das Tuch von den Augen, und vor dem Kinde tat sich ein herrlicher Anblick auf. An allen vier Ecken der Laube waren an langen Stöcken Lampions angebracht. Der nüchterne Bretterverschlag war mit roten und blauen Tüchern drapiert, von denen eins sogar mit goldenen Flittersternen besetzt war. Das Mädchen mußte an den Theatermantel von Michels Freundin Zerline denken. Hier verhüllte der Flitterschleier den Eingang der Laube.

Außer dieser unerwarteten Pracht und dem Steuermann Ohnesorge, der seitlich hinter Wilhelmine stand, war nichts und niemand zu sehen. Bunt, fremd und verheißungsvoll glitt die strahlende Hütte an den Wiesen, Erlen und Weiden der Oderebene vorüber.

Der Steuermann klatschte dreimal in die Hände, Wilhelmine rückte auf ihrem Stuhl hin und her, fuhr sich mit beiden Händen in die Locken und blickte aufgeregt bald auf Ohnesorge, bald auf die Hütte. Aber die Überraschung, die sich immer deutlicher ankündigte, kam aus einer ganz anderen Richtung.

Aus der Männerkoje war der Schiffsjunge Fordan die Kajütentreppe heraufgestiegen und ließ sich, eine Ziehharmonika schwenkend, auf der obersten Stufe nieder, nicht ohne in gänzlich ungewohnter Weise ein Taschentuch untergebreitet zu haben. Denn er trug einen schönen weißen Anzug mit einer breiten roten Schärpe, dazu Steuermanns Ohnesorge großen Strohhut, seitlich hochgeschlagen. Unter dem Hut war ein rotseidenes Tuch eng um seinen Kopf geknotet. Am rechten Ohr, unter der hochgebogenen Strohkrempe, klirrte ein runder, goldener Ohrring.

»Ein schönes Männlein«, nickte die Schiffseignerin ernsthaft, sich zu dem Steuermann zurücklehnend, »und wie das Männlein spielen kann.«

Der Umgang mit der Ziehharmonika (neben dem Bogenspucken über die Bordwand) war aber auch das erste gewesen, was Fordan von den Fertigkeiten der Schiffahrt mit Eifer erlernt hatte.

Bei den letzten, tiefen und unruhevollen Klängen seines Instrumentes wurde der glitzernde Vorhang der Laube beiseite geschoben, und Lattersch trat mit einer tiefen Verbeugung hervor.

»Wilhelmine zum Dank,
viel Jubel – nie Zank!«

deklamierte er, und die Butenhof stellte fest, daß er zu dieser Ansprache einen Frack angezogen, ein Gebiß in den zahnlosen Mund geschoben und seine ungewaschenen grauen Haare wellig gebrannt hatte. Ganz fremd war er ihr, fremd wie Fordan, fremd wie der Kahn; sie versank in staunendes Schweigen und fühlte nur ihr Herz schlagen und das Wasser an die dunklen Schiffswände pochen.

Der Steuermann steckte fünf Laternen rings um die Laube an. Lattersch zog einen silbernen Häkelbeutel aus jeder Hosentasche, legte sie auf einem bereitgehaltenen Tischchen mit Samttrotteln und Goldbeschlag vor sich hin und entnahm ihnen glatte weiße Kugeln; eine Mandel, als wären es Eier. Mit dem leidenschaftlichen Ausruf: »Erste Nummer: Rio Bellardi, Zauberkünste aus dem bloßen Handgelenk, zu Wasser und zu Lande!« begann er nun ein wildes Spiel. Alle Bälle kamen an die Reihe, allerdings nacheinander, immer zu dreien. Mit mehr Bällen schaffte es der Alte nicht mehr.

Wilhelmine blieb trotzdem der Mund offenstehen. Denn jeder der nicht allzu hoch gewirbelten Bälle war mit einem Buchstaben bemalt, und ihre Folge ergab eindeutig und unverkennbar: »Hurra, Wilhelmine!«, wozu eine Mandel Bälle gerade ausreichte. Darin bestand die Zauberei.

Fordans Harmonika fiel wieder brausend ein. Lattersch brannte ein bengalisches Feuer in zwei Farben ab, und in dem roten Schein hüpften Winderlich und Gura aus dem Zelt, in anliegendem Rosatrikot mit goldenen Badehosen. Winderlich kleidete sein Kostüm gar nicht gut, aber er hatte ja früher auch niemals in diesem Genre gearbeitet, und er sehnte sich heiß seine Frau und seinen Jungen herbei. Dann brauchte er nicht nur als gewissenhafter Aushelfer dazustehen oder besser, hervorzuhüpfen. Der schwarzhaarige Gura sah vorzüglich aus; von den dünnen Stellen seines Haarwuchses war nichts zu entdecken; er hatte heut auch wirklich keine Kartoffeln gegessen und sich lebhaft geschminkt. Ohnesorge streifte hinter Wilhelmines Rücken die Hose herunter, den Pullover über den Kopf und sprang, ebenfalls in Trikot und goldener Dreieckshose, zu den beiden Kollegen.

»Die drei Spanielos!« schrien sie gemeinsam; Ohnesorge tänzelte nach links, Gura nach rechts, und den älteren Herrn stemmten sie wie ein Brett in die Höhe; das schlug ja beinahe in sein Fach. Mit Kopf und Füßen sich anpressend, glitt Winderlich tiefer, so daß die drei Männer ein klares lateinisches ›H‹, den Anfangsbuchstaben des Kahnes ›Helene‹ bildeten. Dann ließ Winderlich sich graziös zur Erde sinken; Gura schlug über ihm eine Brücke, faltete sich mehrmals zusammen und blickte, den Kopf unter dem Hinterteil hervorsteckend, die Schiffseignerin Butenhof beifallheischend an.

Wilhelmine beugte sich tief herab, aber sie konnte sich nicht genügend damit beschäftigen, das Rätsel von Guras unheimlichen Verschlingungen zu lösen. Ohnesorge und Winderlich begannen einen Ringkampf, was von Seiten des feinen Herrn Winderlich sehr leichtsinnig war. Aber der Kampf gelangte dadurch zu einem guten Ende, daß der Onkel als Indianer verkleidet aus der Laube stürzte (wie hatten die Männer nur alle Platz in ihr gehabt!), beide ohne Anstrengung zu Boden streckte (was aber vereinbart war) und sich auf ihrem Rücken postierte, um nun auch noch ein riesiges Gewicht in die Höhe zu stemmen. Zur Belohnung hob dann der Steuermann den Onkel mitsamt dem Gewicht über sich hinaus, und Winderlich begleitete die Szene mit vornehmen Bewegungen.

Wilhelmine atmete schwer, die Männer klatschten sich gegenseitig Beifall, die Lampions und die Laternen flackerten, die Oder schwand im Dunkel der einbrechenden Nacht, und Fordans Harmonikaspiel nahm kein Ende mehr.

Da kam es auch über das Kind. Es wollte sich beteiligen, einen Tanz darbieten; und die Männer fanden alle, daß es eine reizende Aufführung wäre, wie das tanzende, pausbackige, derbe kleine Mädchen mit seiner ernsten Miene schwärmerisch mit beiden Armen in Höhen und Weiten zu greifen, mit seinen Füßen aber auf den Boden zu stampfen schien. Eigentlich handelte es sich um einen Reigentanz; Wilhelmine hatte ihn in der Fürstenberger Winterschule für die Schifferkinder gelernt, und sie mußte ihn zu der solistischen Aufführung selbständig etwas umwandeln, was ihr nach Meinung der Artisten vortrefflich gelang. Sie applaudierten alle begeistert, als Wilhelmine ihren Tanz mit einem wilden Wirbel schloß und mit ihrer rauhen Stimme atemlos sang:

»Mein kleines Bäuchlein, freue dich;
was ich verdiene, ist für dich.«

Als die Männer sie bewunderten, erklärte sie, ganz außer Fassung, ihre Großmuttel sei auch immer so fidel gewesen. »Viel Vergnügen« hatte sie der Familie Butenhof gewünscht, als sie am Verscheiden war.

Es wäre ein vollendet glücklicher Abend geworden, hätte der Schleppzug nicht wieder sein feindliches Treiben entfaltet. Ein ohrenbetäubendes Quietschen von sinnlos zusammengedrückten und auseinandergezerrten Harmonikas setzte ein. Die Schiffer von den beiden nebeneinander gekoppelten Vorderkähnen hatten sich zusammengerottet, warfen Kartoffelschalen und alte, vertrocknete Mohrrüben aufs Deck der ›Helene‹, verbaten sich die Helligkeit und den Lärm, bei dem kein Mensch schlafen könne, und erkundigten sich, ob die Butenhof Wilhelmine nun total übergeschnappt wäre und was das ganze Zirkusgesindel eigentlich im Schleppzug zu suchen habe.

Der Vormund murmelte vor sich hin: »So eine Menschheit – so eine Menschheit!« und wischte sich mit dem Zeigefinger in den Augenwinkeln herum. Lattersch versuchte nach Jongleurart die dürren Mohrrüben wieder zurückzuwerfen, und Fordan reichte sie ihm zu. Der Steuermann und sogar der bequeme Gura machten alle möglichen Anstalten, auf dem Wege über das große Steuer und das Beiboot auf die Vorderkähne zu klettern. Gura rief immerzu, daß dies das Aufregendste sei, was er je erlebt habe; und der gemessene Herr Winderlich suchte in all den Lärm hinein weltmännisch zu verhandeln und steckte sich überlegen eine Zigarette an.

»Schnickt sie feste«, schrie die Kleine dem Steuermann und dem Schlangenmenschen zu, »schnickt sie in ihre dreckige Fresse.«

Daraufhin verstärkte sich der Rüben- und Kartoffelhagel, und der Onkel ließ die Arme sinken, indem er verzweifelt mahnte: »Ihr könnt doch nicht so ein kleines Mäderle mit Kartoffeln schmeißen – was macht ihr denn mit dem Kindel –«

Das Kindel half sich selbst. Ja, es schien, als verteidige in allererster Linie Wilhelmine ihren Kahn und seine ganze Besatzung. Sie hatte den Kohlenberg in der Tiefe des Schiffsrumpfes erklommen und schleuderte die kleinen Stücke, die zersplittert auf den großen Blöcken lagen, in hohem Bogen über Bord auf das feindliche Deck, daß drüben die Männer fluchend und die neugierigen Frauen kreischend auseinander stoben.

Ihre eigenen Leute beruhigte die Kleine; aber unentwegt schmiß sie Kohle und schrie mit kohlschwarzem Gesicht (die Locken hingen ihr wirr in die Augen): »Scheißkerle ihr – ihr feigen Armleuchter, ihr dort drüben –«

Der Bootsjunge in Strohhut und Schärpe schwang ihr die Laterne.

– »Immer habt ihr mir eins auszuwischen – meinem Kahn – meinem schönen Zirkus – meinen Männern hier – Fordan, wirf du auf die Lergen – ich treff nicht so gut.«

Sie riß ihrem Helfer die Laterne aus der Hand und schwenkte sie hoch durch die Luft, daß die Kerze erlosch; und damit war der Kampf beendet. Den Onkel wurmte es sehr, daß man ihm vorgeworfen hatte, er sei kein richtiger Schiffer, und daß sie die ›Helene‹ einen erbärmlichen Kahn genannt hatten.


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