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XXIX. Altenteil, Große Sprünge

Was allein unter den Männern schwer zu erleben gewesen wäre, machte Wilhelmine sanft und verwundert in Fräulein Zerlines Stube durch. Die Leitgöbel erklärte ihr, daß an dem Zustand nicht alles vom Ärger über den Kahn herkäme, wie die Butenhof zunächst hartnäckig behauptet hatte. Dann machte der Gedanke an den Onkel sie auffallend unruhig. Man konnte es ihm nicht verheimlichen, daß sie den Kahn verlassen hatte und bei dem Fräulein wohnen würde. Die Leitgöbel nahm Wilhelmine den schweren Gang ab.

Der Vormund empfing die Mitteilung gedrückt.

Wenn die Mindel, das Lämmel, das bewuschperte, nur im geringsten den Wunsch geäußert hätte, wieder zu ihm ziehen zu wollen, stantepe würde er den Lattersch und den Winderlich 'raussetzen. Aber das Fräulein habe ja recht. Er sei dem Fräulein richtig gram. Das müsse er schon sagen. Ob sein Großneffe nicht genüge. Nun müsse sie auch noch das Mäderle haben, nun würde das Hundel immer bei ihr 'rumpurren. Wo er so froh war, daß er sie der Frau Kapitän –

»Nee, nee, da haben Sie sich ganz bestimmt verhört, möcht' ich glauben«, ließ Müßiggang das Fräulein nicht weiter fragen, »ich hab' och ganz und garnischte was von einer Frau Kapitän gehört. Ich kenn' Ihnen überhaupt keine Frau Kapitän.«

Das Fräulein wunderte sich und führte wieder weibliche Fürsorge ins Treffen. Der Vormund gab ganz klein bei. Er wollte nicht zum zweitenmal an seinem Mündel schuldig werden.

Zerline tröstete. Müßiggang solle doch seinen Neffen Michel zu sich holen.

Ganz giftig wurde der Alte:

»Ach nee? Nich gar? Jetzte wo er groß ist? Und Sie haben mein kleines Herzerle? Sie sind aber sehr garstig, Fräulein. Ich werd' Ihnen was sagen, liebes Fräulein, sagen darf man's ja: Es gibt ebenst nich genug kleine Kinder für die alten alleinstehenden Leute, und dadervon kommt ebenst das ganze Unglück in der Welt, möcht' ich sprechen. Die jungen Leute, die können das gar nich wissen und wenn unsereins und er war' klüger gewesen in seiner Jugend –«

Er zeigte bald auf sich und bald auf sie –

»Sie auch, liebes Fräulein, und iche, wir würden vielleicht und wir hätten – denn damals war doch noch eine sehr eine gute Zeit. Ich muß Sie überhaupt erschtemal bitten, liebes Fräulein, daß wir das so richtig und regulär verdischkurieren tun«, damit zog er die Leitgöbel neben sich aufs Sofa, »weil und daß de das nich gutt tut, wenn das nicht alles bis ins letzte ausventiliert ist.«

Zerline war ganz befangen. Aber einem älteren Herrn durfte sie als gesetzte Person natürlich nicht weglaufen wie ein dummes, junges Ding einem grünen Springinsfeld.

August Müßiggang druckste entsetzlich: herum, fand Fräulein Zerline, bis sie begriff. Damit ihm sein Wichtel nicht ganz verloren ginge. Und sie könnten sich doch sozusagen, möchte er sprechen, in die beiden Kinder teilen und sie zusammen haben. Sehr einsam wäre er. Nicht einmal zu den kirchlichen Gemeindevertretern traue er sich; wegen 'm Herrn Pastor und Mindels ausgefallenem Konfirmandenunterricht. Wenn das liebe Fräulein (mit einem Male) und sie könnte sich entschließen –

In aller Stille. Von der Trauung, dadervon brauchte erst niemand 'was zu wissen; vielleicht gar nicht einmal kirchlich; wegen 'm Herrn Pastor und Mindels ausgefallenem Konfirmandenunterricht. (Es beschäftigte ihn sehr.)

Dem Fräulein brannten wieder rote Flecken auf den Backenknochen. Zerline hatte es gefühlt, sie hatte es gefühlt, daß eine neue, große Zeit ihres Lebens schon seit Wochen im Anbruch war.

Herr Müßiggang ernüchterte sie schlimm. Immerzu redete er vom gemeinsamen, bescheidenen Altenteil, während in ihr die gewaltige Empfindung blühte, daß sie sich zu einem Sprung ins Bodenlose aufraffen müsse. Etwas ganz Neues schwebte ihr vor. Aber keinesfalls hatte es auch nur im entferntesten mit Herrn Müßiggangs Angebot zu tun. Soweit sah sie klar, und das gab ihr die Haltung für einen raschen Abschied.

Dabei war in ihrem Innern die Sache kaum so flink abgetan. Zuviel ereignete sich für sie zu gleicher Zeit. Das Fräulein hätte vielleicht überhaupt nicht das entschiedene Bedürfnis nach dem großen Sprung verspürt, wenn ihm nicht ausgerechnet an diesem Morgen der Wirt endgültig mit Exmission gedroht hätte. Das Weihnachtsgeschäft hatte dem Fräulein nichts gebracht; die Leitgöbel vermochte auch nicht einen kleinen Teil ihrer Schulden abzustoßen. Sie sollte nicht gerade zu Silvester oder am Neujahrsmorgen auf die Straße gesetzt werden, aber so um den dritten, vierten Januar herum, hatte der Wirt gemeint. Ihr Angebot, sich an ihre Spielwaren zu halten, mußte er ablehnen. Das wäre unverkäuflicher Plunder und zu gar nichts mehr nütze.

Dem alten Fräulein tat es schon sehr wohl, eine junge Frauensperson zum Aussprechen bei sich zu haben. Da konnte das Fräulein auch zeigen, daß es nachträglich sehr schlagfertig war, und es glaubte fest, vorhin Herrn August Müßiggang genau so geantwortet zu haben, wie Wilhelmine es jetzt zu hören bekam.

Das ist nicht die wahre Liebe, Herr Müßiggang. Sie tun es ja mehr, um sich das Kind zu sichern. Und eigentlich hatte ich diesen Antrag von ganz anderer Seite erwartet. Ist es so schwer zu erraten? Freilich von Herrn Lattersch. Aber auch da hätte ich mich nicht entschließen können. Das unordentliche Haar. Trotz der hohen Begabung. Die schmuddeligen Kragen. Und dann tut es auch nicht gut, wenn zwei so künstlerische Temperamente wie Herr Lattersch und ich das ganze tagtägliche Leben miteinander verbringen.

Aus dieser – wirklich empfindsamen – Erkenntnis heraus hätte Herr Lattersch es sicher auch niemals zu dem unheildrohenden Antrag kommen lassen.

»Das haben Sie dem Onkel auch gesagt?« staunte die Butenhof.

Nein, nein, das nicht. Das sei ihr nur jetzt im Augenblick so privat herausgefahren. Heut vormittag hätte sie das nicht geschehen lassen, so schlagfertig, so klarblickend, wie sie wäre. Das Gespräch mit Müßiggang wäre in dieser Hinsicht gerade ganz anders verlaufen.

So etwa: Sie müssen es nicht zu schwer aufnehmen, lieber Freund. Ich will es Ihnen erleichtern. Ich habe einen sehr bestimmten Geschmack. Ich liebe seit jeher Männer in der Art eines Ohnesorge. Das muß es Ihnen erträglicher machen. Klagen Sie nicht unser Alter an. Dort liegen nicht die wahren Gründe meiner Weigerung. Keinen Künstler wie Lattersch. Keinen treuen Hausvater wie Sie.

Erst stellte Fräulein Zerline sich in der bedauernden und bewundernden Pose von Herrn Müßiggang hin, dann wiederholte sie die eigenen kühlen, gewandten, ein wenig schmerzlichen Handbewegungen, damit für Wilhelmine alles recht eindrucksvoll würde.

Wilhelmine preßte ihre Hände über Mund und Nase und wiegte den Kopf entsetzt hin und her. Das Fräulein errötete bis unter die grauen Locken.

Kein Wort von Ohnesorge sei über ihre Lippen – Sie beschwor es leidenschaftlich. Da aber für Zerline immerhin dies und jenes peinlich geworden war, vollzog sie eine rasche Wendung zum Jähzorn. Alles in Erinnerung.

Wovon gedenken Sie zu leben, Herr Müßiggang, wovon in aller Welt? Muß sich Ihre Affäre nicht so entwickeln, lieber Herr, daß wir Ihrem Mündel zur Last fallen?

Wilhelmine winkte ab. Nicht der Rede wert. Das sei sie gewohnt.

Das Fräulein blickte unruhig auf die junge Freundin. Aber weiter, weiter. Die Leitgöbel fühlte sich gehetzt. So erschlagen, genau in dieser Weise, wie sie es vorführe, hätte Herr Müßiggang dagestanden. Und sie selbst, ruderte Zerline mit weitausladenden Gesten durch das Zimmer, habe »Nein« und abermals »Nein« gerufen.

»Aber was machen?!« hielt sie plötzlich vor Wilhelmine Butenhof an und war nichts als eine verängstigte, alte Frau, der man die Exmission mitgeteilt hatte und deren einzigen Besitz, ein Puppentheater, ein paar Kindertrompeten, Papierspiele und Baukästen, man als wertlos und ungeeignet zum Pfand bezeichnet hatte.

»Packen Sie nur Ihren Korb«, blickte Wilhelmine sich in der Ladenstube um, »und es wird schon werden. Wenn Sie bei mir auf dem Kahn sind und es geht los im Frühjahr, lernen Sie ja den Onkel auch noch besser kennen, und dann werden Sie sich noch einmal alles überlegen.«

Die alte Person weinte, brummte, schloß das Mädchen in ihre Arme, stammelte: »... immerzu geahnt – einen großen Sprung – einen riesigen, entscheidenden« – und vergewisserte sich, daß sie noch vor der vom Wirt gestellten Räumungsfrist auf dem Kahn einziehen durfte.

Die Männer widersetzten sich dem Entschluß der alten und der jungen Freundin nicht einmal so sehr. Sie fanden Wilhelmine sehr anständig, und Ohnesorge und Fordan wußten für die Zukunft, woran sie waren. Gura merkte nichts.

»Dumm wie eine Dame«, bedauerte und verachtete der Bootsjunge den Schlangenmenschen.

Einen ganzen Wäschekorb voll Spielzeug trugen sie zum Hafen. Dafür war keine Verwendung. Daher räumte Fräulein Zerline nach und nach Trompeten, Geduldspiele, Glasmurmeln, Klappern, Ausschneidebogen und all das andere in Wilhelmines Einkaufstasche und Henkelkorb und stattete damit Visiten auf den Nachbarkähnen ab; wo Kinder waren, versteht sich. Das machte, obwohl doch die Kinder erst vor kurzem ihre Weihnachtsgeschenke erhalten hatten, die ›Helene‹ im ganzen Hafen beliebt. Kein Mensch dachte mehr daran, daß sie einmal ein mißachteter Kahn gewesen war und beinahe zum Raubschiff werden sollte.

Wie die Kinder von etwas reden, darauf kommt es an. Und von der ›Helene‹ sprachen sie wie von Geburtstag, Weihnachten und Ostern; sie sahen Wilhelmines blauen Kahn wie behangen mit Christbaumkugeln und mit Ostereiern.

Auch die Erwachsenen dachten etwas Ähnliches, wenn die Kleinen auf allen Schleppkähnen rings dank Fräulein Zerlines Güte trommelten, Fahnen schwenkten, Puppen wiegten und Knallerbsen auf die Eisbahn donnerten.

Es war wie Silvester und Fastnacht auf einen Tag, und deshalb empfand das Fräulein den Anfang des neuen Lebensabschnittes als festlich, trotz der Enge und Fülle um sie.

»Wie Fastnacht und Silvester zusammen«, wiederholte die Leitgöbel ihren schönen Gedanken vor der Schiffseignerin laut, denn sie wollte sich etwas vom Gewissen reden und sehr dankbar sein.

Wäre nur schon Fastnacht, sorgte sich die Butenhof, um Fastnacht schmilzt immer das Eis.


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