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XXVII. Vesper im Kahn

Mit dem Kahn und dem Hause hatte es noch seine besondere Bewandtnis. Sieben Personen waren für einen langen östlichen Winter in ihnen unterzubringen. Vormund und Mündel, Lattersch und Winderlich, Gura und Ohnesorge; und Fordan auch. Denn seine Eltern hatten durchaus keinen Platz für ihn, weil während der Flußfahrt ihres Ältesten noch ein Kleines angekommen war und an mittleren Geschwistern kein Mangel herrschte. Am besten war für Hannchens Unterkunft gesorgt; das Pony war in einem Stall bei einem Ackerbürger eingemietet.

Winderlich und die Butenhof selbst wurden die treibenden Kräfte, daß eine Umgruppierung stattfand. Winderlich erklärte sich ganz außerstande, die vielen kalten Wochen auf dem Kahn verbringen zu können; entweder waren die Kojen von den kleinen Petroleumöfen überheizt oder man fror bitterlich, von den späten Nachtstunden an.

Wilhelmine aber zog es auf ihren Kahn, seit er wieder im Hafen eingetroffen war. So gab sie sich als die Rücksichtsvolle und riet, daß die älteren Herren, Winderlich und Lattersch, beim Onkel bleiben sollten. Sie selbst würde ihr Quartier in ihrer alten Kajüte aufschlagen; und Ohnesorge und Gura sollten in der Bugkoje Fordan eben ein bißchen an die Wand drücken.

Heimlich gab sie aber dem Schiffsjungen und dem Steuermann zu verstehen, daß sie lieber den Schlangenmenschen Gura benachteiligt wissen möchte. Der Steuermann sah die Raumschwierigkeiten am ruhigsten an. Er verbrachte öfters eine Nacht an Land.

Müßiggang konnte es seinem alten Kameraden Lattersch nicht antun, sich zu widersetzen und ihm sein Haus zu verschließen. Winderlich gegenüber hätte er die Weigerung allenfalls noch auf sich genommen; der stand noch in den besten Jahren. Aber nicht mit einer zweiten Schuld sich beladen!

Fast war der Onkel froh, Wilhelmine ein wenig aus seinem engsten Gesichtskreis gerückt zu wissen. Außerdem hatte er schon so etwas geahnt. Daß der Kahn ›Helene‹ drunten an Geibraschs Garten im Hafen und Wilhelmine hinter Neuferts Kohlenhof in Müßiggangs Kammer liegen sollte – es war nicht gut denkbar.

Wilhelmine feierte das Ereignis der Rückkehr auf ihren Kahn. Allerdings nicht mit Vormund und Personal. Dazu mußte sie jetzt zu sparsam wirtschaften, als daß sie sich solche Sonderausgaben noch hätte leisten können. Michel genügte ihr als Gast.

Gleich nach dem Mittagessen hatten sie sich verabredet; am Kahn, mit Schlittschuhen. Bereits am Vormittag, denn heut war kein Markt, putzte das Mädchen an dem Nickelzeug herum. Es wollte sich den Tag wahrnehmen, obwohl die Müdigkeit noch größer war als sonst. Sicher kam die vom anstrengenden Marktfahren nach.

Die Eisbahn war nicht sehr breit, dafür aber wunderbar lang. Auf die freie Oder liefen sie nicht hinaus, sondern beschränkten sich auf den Hafen und die anschließenden beiden Arme der alten Oder. Das Odereis draußen war zu rauh. Zwischen Mole und Stadtufer jedoch wurde eine Bahn gefegt. Kleiner Nebenverdienst von Fordan.

Trotz hübscher Einnahmen war er an diesem Nachmittag verstimmt. Galt der Marketenderjunge mehr als er, daß er mit seiner Schiffseignerin eislaufen durfte? Hatte er für die beiden zu kehren? Fordan ließ Besen Besen sein, besuchte Vater und Mutter und kramte sich daheim ein paar alte, angerostete Holländer hervor. Wie der Wind wollte er an Michel und Wilhelmine vorbeisausen, immerzu.

Die glitten inzwischen friedlich dahin, manchmal im Gleichmaß, die Hände überkreuzt, dann wieder frei nebeneinander; ja, mitunter fuhr der Junge sogar rückwärts voran, wenn sie im besten Unterhalten waren.

Im Schutz der beiden Kähne, im Hafenteil der Eisbahn, war es nicht gar so kalt. Aber in den Buchten der alten Oder pfiff der Wind über die bereiften Weidenbüsche und machte den Schlittschuhläufern, auch den erwachsenen jüngeren Leuten, das Wenden schwer. Die Kleineren wagten sich nicht erst bis dorthin; sie hielten sich ganz am Rande der eingefrorenen Schleppkähne. Das Eis knisterte und splitterte leicht unter den Hunderten von Halbmonden, Kreisen, Dreien, Achten, Zickzacklinien, die von den Spitzen der Schlittschuhe eingeritzt wurden.

Am Ufer durften die Kinder sich nicht so zusammenhäufen; die Oder war ein ganz klein wenig gefallen, der Wasserspiegel des Hafens unter dem Eis mitgesunken; da gab es lange Bruchstellen am Ufer, die gefährlicher werden konnten als die deutlich markierten Eislöcher. Nur die Kinder, die von Grundmanns Berg auf Kröpeln und mit Stöcken herunterrodelten, fragten nicht danach. Der Schwung der steilen, kurzen Fahrt trug sie über die unheildrohende Zone, daß sie im Nu in der gegenüberliegenden Böschung landeten.

Michel und Wilhelmine kannten sich in alledem gut aus. Je besser sie sich einfuhren, desto mehr stockte ihr Gespräch, während für die anderen der Eislauf zuallererst eine Sache des Schreiens und Lachens zu sein schien. Bis hinauf in die obere Stadt hörte man den frohen Lärm. Und mit dem Stimmgewirr stiegen von den Kähnen, aus den alten Häusern in den Fischergärten warme, leichte Rauchschwaden über der Oder auf; sie wehten hoch über den vereisten Strom hin, bis sie sich in den Wolken der frühen Dämmerung zerlösten.

Die ersten Bullaugen der Schleppkähne wurden hell, und in den Fenstern hinter den kahlen Bäumen flammten Lampen auf. Keine glatte Hafenbahn vermochte mehr die Butenhof zu halten. Ihre Vesperzeit war da, und heut hatte sie natürlich besonderen Appetit. Mit einem Ruck hielt sie vor ihrem Kahn an und packte den Freund an der Jacke.

»Wir schnallen ab.«

Im Kopf drehte sich alles ein bißchen; die Füße waren unsicher, wie stumpf und hohl, als es auf den Kahn zu klettern galt. Gesicht und Hände feuerten beim Betreten der warmen, dunklen Kajüte. Wollschal, Mütze, Handschuhe wurden an der Herdstange aufgehängt, und sobald die Finger nur wieder einigermaßen beweglich waren, ging man ans Kaffeemahlen und Brotschneiden. Wilhelmine hatte alles reichlich da. Fettschnitten und ein längliches, festes Pflaumenbrot. Die blauen, glänzenden Scheiben bestreute sie dicht mit Zucker; es schmeckte ihnen vorzüglich. Nach der Vesper gab es auch noch Äpfel, weil der Durst sich mit Kaffee allein nicht löschen ließ.

Da Wilhelmine die Vorhänge vor die Kojenfenster gezogen hatte, vermochte Fordan nicht zu ahnen, daß er umsonst die lange Eisbahn auf und nieder raste, gebückt, mit weitausholenden Stoßschritten. Seine Schiffseignerin saß längst schon wieder bei ernstem, beruflichem Gespräch. Das heißt, ein ganz klein wenig trug es doch auch eine persönliche Note.

»Hätte ich gar nicht gedacht«, nagte die Butenhof an einer Goldparmäne, »daß du so tüchtig werden würdest. Ich hab' das mit deinem Dampferfimmel nicht so genau genommen. Ich dachte immer, du wärst bissel zu zärtlich gewesen mit deiner Spielerei früher. Aber jetzt klemmste dich ja wirklich dahinter, daß was Richtiges wird.«

»Bei mir ist's umgekehrt«, wandte der Junge sich noch einmal dem Pflaumenbrot zu, »ich habe dir nicht zugetraut, daß du außer für das Kahnregieren auch noch für was anderes bist, an so viel anderes denkst und eigentlich wie ein richtiges Mädel sein kannst. Aber noch viel mehr als die anderen. Noch 'n bissel zarter so.«

Mehr ließ sich beim besten Willen nicht aussprechen.

Die Butenhof merkte sich alles, aber sie ging darüber hinweg; halb aus Verlegenheit, daß sie zart sein sollte, halb aus Betroffenheit, daß der Junge derart ungewöhnlich mit ihr redete und das Zarte gern an ihr mochte.

»Siehst du«, half Michel über die Pause, »du hast schon einen Kahn. Das ist eben etwas. Aber wie lange das dauern wird, bis ich zu einem Dampfer komme.«

»Dafür ist der Dampfer dann aber mehr«, erkannte die Schiffseignerin an.

»Du traust mir's zu, daß ich mal einen Dampfer habe?«

Michel selbst war ziemlich bekümmert. Doch sie traute es ihm zu. Weil er alles so vernünftig anfing und viel stärker und zäher war, als man zunächst meinte.

Aber mit der Stärke und der Zähigkeit allein gelange man doch nicht zu einem Dampfer –

Wilhelmine unterbrach ihren Gast wieder recht schroff. Sie habe ja auch gesagt: weil er es so vernünftig anfange.

Dann schwieg sie böse. Bitterböse sah die Blonde aus; sonst hätte sie auch zu viel verraten.

»Weil du dich nicht gleich auf den Dampfer versteifst. Weil du erst auf eine Maschine sparst, damit du mit dem neuen Motorboot als Marketender mehr verdienst. Und hast du das erst, kann dir in keinem Falle viel passieren. Das ernährt dich. Kommst du nicht weiter, mußt du schließlich zufrieden sein. Wirft es aber etwas ab, kannst du Geld hinlegen für die Kapitänsausbildung und dein Marketenderboot verpachten.«

Und wenn er auch nicht Vollwaise sei wie sie, gab Wilhelmine stolz zu bedenken, so kümmere sich sein Vater doch so wenig um ihn und lasse ihn alles allein erledigen, daß er beinahe auch wie eine selbständige Waise wäre.

Michel zeigte sich sehr nüchtern: auch zu der Maschine würde es nie reichen. Trotzdem Wilhelmine seinen Einnahmen durch den Fischhandel für den Winter so auf die Beine half. Er gebrauchte mehrere falsche Bilder, um seine schlimme Lage recht anschaulich auszudrücken.

»Wer so hoch hinaus will – Kapitän und Dampfer –, der muß halt die Zähne zusammenbeißen und warten. Ich bin auch immer gern wie erwachsen und möchte immer alles gleich richtig und fertig haben«, beruhigte das Mädchen den Freund zum Abschied.

Draußen lauerte Fordan ihm auf. Jawohl, der Kattein und der Bloche hatten es genau gesehen, daß die Butenhof-Wilhelmine den Burda auf den Kahn mitgenommen hatte.

Die Butenhof hatte die Kajütenluke noch nicht geschlossen, so daß sie Fordan drunten aufgeregt, fast unverständlich, dem Sinn nach unverständlich, auf Michel einreden hörte. An den Worten selbst gab es nichts zu zweifeln. Denn die Schlittschuhläufer waren inzwischen alle schon daheim zum Abendbrot oder um sich schnell noch die vergessenen Schularbeiten vorzunehmen. So war es still. Die Jungenstimmen klangen überdeutlich trotz der beabsichtigten Gedämpftheit.

»Und wenn du unser Mädel nicht in Ruhe läßt«, zischte Fordan, »ich bring' euch noch auseinander, daß es nur so raucht. Ich zeig's an, daß sie gar nicht richtig krank ist. Da heißt's ›nach Fürstenberg!‹ mein Lieber. Die gehört uns, und du kannst –«

Wilhelmine stand auf der Kajütentreppe vor ihrer engen Küche. Die Tür war jetzt zugeschlagen. Wilhelmine wurde unruhig. Sie erschrak sogar, als Fordan droben klopfte.

Auch er war aufgeregt. Er redete so zusammenhanglos. Daß er sich noch 'n bissel mit ihr unterhalten möchte. Wenn andere –

Einen Augenblick empfand die Butenhof eine gewisse Freude, nun schon so erwachsen zu sein, daß die großen, sechzehnjährigen Jungen aus der obersten Fortbildungsschulklasse anfingen, sich um sie zu streiten.

Fordan ließ keine Freude aufkommen. Sein Gerede nahm kein Ende, und sein Blick erhielt etwas Unverfrorenes und Unstetes. Der Bootsjunge packte das Mädchen unvermittelt sehr fest an den Schultern; und sie sollte ihm etwas sagen.

»Ich werde dir sagen, daß ich dir von Ohnesorge den Popo verhauen lasse«, schmiß Wilhelmine ihn hinaus. Aber es war nicht ihre alte Grobheit und Frische. Es klang unsicher und verlogen; es beängstigte sie, daß sie etwas nicht begriff, was nahe und beunruhigend war. Zum erstenmal fühlte sie Furcht auf ihrem Kahn. Der Gedanke an die Winterschule in Fürstenberg war gar nicht mehr so schrecklich. Unter Mädchen zu sein; und sie vielleicht fragen zu können; nein, der Gedanke war nicht mehr bedrückend, in einem Saal mit weißen Mädchenbetten zu schlafen.

Aber die Besänftigung kam für Wilhelmine Butenhof in diesen Stunden doch von zwei blauen, weiten Jungenaugen unter gebräunter Stirn und welligem, tiefbraunem Haar.

Nur auf dem Kahn wollte sie nicht mehr bleiben. Sie hörte Ohnesorges und Fordans Schritte auf dem Deck und zog ihr Federbett bis ans Kinn. Dabei war die Koje eher überheizt.

Mein Himmel, schalt Wilhelmine sich in ihren Gedanken, ich tue ja, als wären Fremde oben. Ich weiß doch, wer's ist.

Die jungen Männer waren dennoch wie Fremde.


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