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IV. Die Besatzung

Als ihm das kleine Mädchen so aufgeregt zuhörte, schien Michel seine alte Freundin Zerline gar nicht einmal mehr so ganz allein als liebenswert. Es war wunderschön, von seinem früheren Dampfer zu einem Mädchen reden zu dürfen, das einen richtigen Oderkahn besaß; ein wenig beschämend blieb es natürlich auch. Aber Wilhelmine nahm die Dampfergeschichte von Weihnachten sehr ernst, obwohl man hier an einem Sommernachmittag zusammensaß, an dem der Duft von frischgemähtem Heu und Fischen und trocknenden Netzen durch alle geöffneten Fenster drang.

»Ja, ja, die Dampfer«, murmelte sie sachverständig, »zu einem großen Dampfer wirst du ja so leicht nicht kommen. Aber aufs Wasser könntest du schon, trotz Vaters Fleischerei. Wenn er sowieso schon zu den Schleppzügen hinüberfährt, warum werdet ihr da nicht wirklich Marketender. Bloß so auf die Schleppzüge warten, die gerade vor Anker gehen, das ist gar nichts. Da könnt ihr nichts verdienen. Da braucht dich dein Vatel nicht, kein bissel. Ihr müßt allen Schleppzügen entgegenfahren, auch denen, die nicht anlegen, und Fleisch und Bier und Gemüse 'raufbringen«, erleuchtete sie die Verständnislosigkeit des Jungen, »wie sie es oben hinter Ohlau und unten in Küstrin machen. Mit der Strömung laßt ihr euch entgegentreiben, sobald ihr nur den Rauch vom Dampfer über der Carolather Waldbiegung seht. Dann macht ihr euch, vom Dampfer angefangen, an jedem Kahn fest und verkauft. Bis ihr alle drangenommen habt, seid ihr gerade wieder bis an den Hafen gekommen, von den Kähnen gezogen, genau so mühelos wie 'runter zu.«

Der Onkel konnte nur staunen: »Nu hör mir bloß einer das kleine Tochterle – was die von der Oder alles weiß –, nu hör mir bloß einer das kleine Wichtel.«

Der Junge saß da wie in der Schule. Wilhelmines Worte gruben sich ihm tief ins Herz. Der Onkel war von dem Gedanken an das bestürmt, was ihm alles auf der Oder begegnen sollte.

Bis in die tiefe Nacht ging es ihm wirr im Kopf herum, und gleich früh, als er mit Wilhelmine den Kahn besichtigte, mußte er seine Ideen dem Mündel behutsam mitteilen: »Bis jetzt geht alles hübsch nach deinem Willen, möchte ich sprechen.«

Wilhelmine war für saubere Geschäfte auf Gegenseitigkeit.

»Was willst denn du, Onkel?«

Der Onkel Müßiggang wollte verschiedenes, aber mit einem Male wollte er nicht so recht mit der Sprache heraus. Bis er mit der Butenhof am Kajütentisch saß und sie ihm unablässig die Reste aus Vaters Kornflaschen, guten Breslauer Korn, eingoß; lauter Doppelstöckige im Wasserglas; und immer bei jedem dritten Glase des Vormundes kippte das kleine Mädchen einen stattlichen Schluck für sich in eine Kaffeetasse. Es war eine Obertasse, an der vorderen Seite mit zwei großen blauen Pflaumen bedruckt, und Wilhelmine fand sie immer sehr hübsch.

»Du trinkst?« wunderte sich der Alte; und der silberblonde Engel schloß die gekreuzten Arme um die Tasse, lehnte das Kinn auf die Tischplatte und hauchte mit seiner rauhen, tiefen Stimme: »Seelensgern.«

Die gemeinsame Vorliebe für Breslauer Korn ließ eine schöne Vertraulichkeit aufkommen. Der Vormund redete heiser und zusammenhanglos, in etwas unbestimmten Andeutungen, aber das Mündel begriff ihn mit vielen »Ahas« und »Hohos« vorzüglich.

Freilich, Platz wäre noch auf dem Kahn; außer für den Onkel, einen neuen Steuermann, einen neuen Bootsjungen und sie selbst.

Für wieviel Leute? Sicher für fünf.

Ja, einladen dürfe er auf den Kahn. Er hätte doch überhaupt anzugeben.

Ob auch sechs? Das wäre schon schwieriger.

Was ihr lieber sei? Doch, sie bliebe auch ganz gern allein, bloß mit dem Onkel und den Schiffsleuten, die man nun einmal brauche. Aber für das, was sie vorhätte, wären nun einmal ein paar ordentliche Kerle nötig.

Alles Weitere blieb wieder geheimnisvoll. Der Alte wagte nicht recht, sich zu äußern, in wessen Interesse er so beharrlich die Platzfrage auf dem Kahn erörtert hatte; und die Kleine mußte den Vormund erst noch viel besser kennenlernen, ehe sie ihn ganz zu ihrem Vertrauten machen konnte.

Infolgedessen mußte es so kommen, daß die ›Helene‹ nur mit Wilhelmine Butenhof, August Müßiggang, dem Steuermann Berthold Ohnesorge und dem Schiffsjungen Fordan auf die erste Fahrt unter dem neuen Regime ging. Herrn August Müßiggangs Großneffe Michel Burda wäre nur zu gern Bootsjunge auf dem Butenhofschen Kahn geworden, aber erstens wurde er laut neueren Erziehungsgrundsätzen doch in der väterlichen Fleischerei zum Wurstfüllen gebraucht; und zweitens regte sich die Müßiggangsche Nachbarschaft und Verwandtschaft gerade schon genug auf, daß dem alten Esel von Onkel und Vormund zu wohl wurde und er auf die Oder Kahn fahren ging.

Alle Vormundschaftsformalitäten waren erledigt.

Von Michel tief betrauert, lief die ›Helene‹ aus dem Zeuthener Hafen aus, zur Fahrt stromab. Denn so mitten auf der Tour fand man keinen Anschluß an einen Schleppzug und mußte deshalb zunächst einmal nach Stettin zurück.

Man steuerte und potschte zu vieren, zu vieren nahm man ein gründliches Großreinemachen auf der ganzen ›Helene‹ vor, vier Leute kochten gemeinsam am kleinen Herd, und abends schlief in der Kajüte am Heck der wilde Seraph, und in der Koje am Bug lagen längs der drei schmalen, winkligen Wände der alte, große, hagere Mann mit den munteren, dunklen Augen, der kleine, schmutzige Junge Fordan, braun, schön und diebisch wie ein Zigeuner, und Berthold Ohnesorge, der Steuermann, den die Schiffseignerin Wilhelmine Butenhof nie ohne seinen riesigen Strohhut aus gelbem und grünem Geflecht sah. Aber sie fand ihn auch so wegen der festen, weißen Zähne und der ein wenig schräg geschnittenen, kalten grauen Augen auf ihrem Schiff recht ordentlich anzusehen. Hochmütig war er, stark und so hübsch, daß unter Umständen zum mindesten von den Schifferfrauen im Schleppzuge keine Anpöbeleien zu erwarten waren.

Bei der Wahl des Steuermannes und des Bootsjungen hatten Vormund und Mündel sich so geeinigt, daß der Alte den ersteren, die Kleine den letzteren bestimmte. Und jedes war von dem Gedanken an sein Geheimnis geleitet, als es sich den nichts ahnenden Kumpan suchte.

Das Mädchen, der Junge und die beiden Männer paßten wirklich nicht übel zusammen, und nach der Ankunft in Stettin war Wilhelmine etwas traurig darüber, den Abend zum erstenmal wieder einsam verbringen zu müssen.

Ohnesorge, sehr glücklich, wieder einen Abend in einer Stadt zu sein, war im Sonntagsanzug allein losgegangen, und nun sah die Schiffseignerin ihren Steuermann doch ohne Strohhut und fand den braunen Scheitel unter der blauen Schildmütze nicht häßlich.

Der Vormund hatte den kleinen Fordan an die Hand genommen, um mit ihm einen Zirkus zu besuchen, und Wilhelmine hatte eben Trauer, und wenn man Trauer hat, muß man zu Hause, beziehungsweise auf dem Kahn bleiben. Das einzige, was einem an Lebensgenuß gestattet wurde, war, daß man sich auf das Deck setzen konnte.

Wilhelmine hatte keine große Vorliebe für das Bild des städtischen Hafens. Gewiß, die vielen Lichter waren schön, die tausend Lichter der zusammengedrängten Kähne. Aber sonst: die heulenden Sirenen, die starren Krane, die hohen, unheimlichen Brücken, die den Himmel verdunkelten und nur dann freundlicher wirkten, wenn eine helle Straßenbahn oder ein erleuchteter Fernzug über sie hinratterten. Gegen die unruhigen Leuchtschilder ›Hotel, Hotel, Hotel‹ im Dämmer der Uferstraßen empfand das Schifferkind eine ausgesprochene Abneigung. Und überall hatten sie hier das dumme Getue mit der Ostsee. Was hatte das alles mit der Oder zu tun. Mit den weiten Wiesen hinter Schwedt, den kargen Weinbergen von Tschicherzig und Grünberg, dem tiefen Oderwald und Carolaths Fliederschloß. Im Hafen war häßlicher Lärm; er machte die Kleine müde und verdrossen.

In ihrer Freude, überhaupt weiter auf der Oder leben zu dürfen, den Vormund so rasch herumbekommen zu haben und mit ihm in die Schiffsherrschaft sich teilen zu können, hatte Wilhelmine die Bangigkeit nach den Eltern sehr rasch verwunden und auch an alles andere, was sie ärgerte und bedrückte, nicht mehr gar so viel gedacht. Nur manchmal, wenn ihr Kahn an einem Schleppzug vorüberfuhr, war ihre gute Laune verflogen; und heut abend beschäftigten sie ausschließlich ihre alten Pläne und Gefühle.

Morgen, übermorgen, in dieser Woche mußte sich alles entscheiden. Denn lange würden die Schleppdampfer nicht frei im Hafen liegen. Der Wasserstand war noch immer gut. Wahrscheinlich war es besser, sie weihte den Vormund erst ein, wenn er seine Erfahrungen gesammelt hatte. Würde er ihr dann untreu werden und die Hände von der ganzen Schiffahrt lassen? Kalkulierte sie richtig, wenn sie annahm, daß der Alte schon viel zu sehr am Kahn ›Helene‹ hing, um von dem Hochmut der Dampferkapitäne, Prokuristen und Kollegen Schiffseigner nicht hart getroffen zu werden?

Alle erlittenen Demütigungen traten wieder klar in das Bewußtsein des Kindes. Die Vereinsamung, die Ausgeschlossenheit, in der sie sich mit ihren Eltern befunden hatte, waren Wilhelmine nun, wo es darum ging, Ladung und einen Platz im Schleppzug zu bekommen, von neuem gegenwärtig. Denn bei den Auftraggebern hatte es sich in all den Jahren selbstverständlich herumgesprochen, daß man von Butenhofs und ihrer ›Helene‹ unter Kapitänen und Schiffern nicht sehr viel hielt.

Ach, wenn der Vormund, der hochmütige Steuermann und der Bootsjunge Stange hielten – man sollte Wilhelmine Butenhof mit ihrer ›Helene‹ auf der ganzen Oder kennenlernen! Aber ihr wurde siedend heiß bei dem Gedanken, daß der Stolz Ohnesorges, die Freude Müßiggangs am Schiffahrtsleben und Fordans habgierige Gelüste nun bitter enttäuscht werden könnten und die drei Mannsbilder vielleicht doch in ihre Feinde verwandelt würden. Und sie brauchte Kumpane, Kumpane, Kumpane!

Denn nun ging es um die Rache an allen, die ihre Eltern beleidigt hatten und immer die ›Helene‹ abgehängt wissen wollten.

Wilhelmine Butenhof war auf einem Flusse und nicht auf See groß geworden. Deshalb spielte in ihren Überlegungen Piratenrache keine Rolle. Man konnte nicht auf einem Flusse hin und her vagabundieren, Überfälle machen, Menschen und Ware von Schiffen entführen. Das hätte gar nichts genutzt. Der Fluß war begrenzt durch Stettin und durch Cosel. Die kleinen, weißen Regierungsdampfer und die schwarzen Barkassen der Wasserpolizei sorgten für Ordnung. Die Städte und Dörfer sahen auf die Oder. Mit Seeräuberfreiheit und -gefährlichkeit war es nichts.

Aber eine andere Möglichkeit bestand, dennoch als eine Art Flußräuber Rache zu nehmen. Wenn man lange genug mit den Schleppzügen fuhr, geachtet oder mißachtet, bekam man sehr wohl heraus, wo jeder Kahn beheimatet war. Die selbstsichersten und übermütigsten unter den Schiffseignern besaßen dort, wo der Herkunftsort des Kahnes war, ein Haus für den Winter, sei es an einem kleinstädtischen Hafen, sei es in einem Fischerdorf. Manchmal war es auch ein Rasengarten mit Netzen oder eine kleine Landwirtschaft, ganz nahe am Fluß, die des Schiffers Eltern oder ein Bruder oder ein Schwager betreuten. Auf diese Besitztümer der Schiffer auf den Oderufern hatte Wilhelmine Butenhof es abgesehen.

Eine kleine Schar von handfesten Männern sollte ihr auf ihrem Kahn unbedingt ergeben sein. Mit denen wollte sie nachts im Beiboot von der ›Helene‹ wegstoßen und die Schiffergärten und ihre Hühnerställe ausplündern, die Netze verschleppen, die Heukähne an den Gehöften losmachen. Es sollte Unfrieden und Wehklagen, gegenseitige Verdächtigung und völlige Verwirrung über der ganzen Oder herrschen.

So verlangte es Wilhelmine Butenhof, als sie am Bug ihres Kahnes hockte und abfällig über das abendliche Bild des großen Hafens urteilte.


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