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XIX. Diebstahl in der Männerkoje

Neben Winderlichs Plättbrett häuften sich die Wäschestöße. Aber noch immer flatterte es um den ganzen Kahn herum von weißen Tüchern, bunten Hemden, rotgekästelten Bettziechen. Es war nicht fertig zu werden. Wilhelmine, Gura und Fordan nahmen die Wäsche ab, warfen die Klammern in einen Sack, falteten das Leinenzeug in einen Korb, und den mußten die beiden alten Männer dann zu Winderlich hintragen. Auch hatten sie die Wäsche zu legen. Beim Schlagen und Ziehen der großen Laken kamen sie ins Lachen, so traurig sie auch im Gedanken an Wilhelmine Butenhofs unmittelbar bevorstehenden Abschied waren.

»Aber beim Wäschelegen kommt ein jedes ins Gealbre«, rechtfertigte sich der Zauberkünstler und Rekommandeur mit einer unumstößlichen Lebensweisheit.

Mit dem Schlangenmenschen mühte Wilhelmine sich, im Nu die Wäsche einer ganzen Leine aufzuraffen, weil eine Schnur gerissen war und die Männerunterhosen und Mädchenhemden in die Oder zu wehen drohten. Der Steuermann verließ ungern seinen wichtigen Platz; er war nicht ungefällig, wenn er sich nicht mehr am gemeinsamen Werk beteiligte.

»Ich habe auch schon viel Kummer gehabt«, gestand Gura, als sie alles in den Korb stopften, »so viel Kummer, daß ich überhaupt nur mit Schlafmitteln schlafen konnte. Und die sind immer so teuer.«

»Ja, ja«, warnte ihn das Kind, »du lebst am allerteuersten. Haarwasser und Brustpulver, und Schlafmittel sagst du nun auch noch.«

»Sparen tue ich schon«, suchte der Schwarze sich kleinlaut in ein besseres Licht zu setzen, »aber bei mir haben muß ich immer ein Röhrchen mit Schlafpillen; sonst wird mir himmelangst, wenn ich nicht weiß: du hast ja welche im Koffer unterm Bett.«

»Ob das nicht gefährlich ist? Wenn du nun mal aus Versehen nachts zu viel ißt, von den Pillen?«

»Sind ja weiter keine bösartigen. Die wären zu teuer, und das hätte ich dir nicht antun mögen, wo du schließlich alles für uns bezahlen mußt. Nee, nee, gefährlich sind die nicht; und ohne Rezept. Bloß wenn man zu zeitig geweckt wird, da ist man dann ganz taumelig. Wenn's hier auf dem Kahn passierte, direkt ins Wasser könnte man da fallen, und das wäre natürlich gefährlich.«

»Weil du Schisser nicht schwimmen kannst«, bedauerte ihn Wilhelmine, »also ganz dösig, so?« torkelte sie ihm vor, und Gura war bewegt über ihre Anteilnahme. Wie freundlich die wehmütige Stimmung vor der Trennung selbst die grobe Butenhof machte.

Wilhelmine war aber nur voller List. Ein böser Gedanke ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.

»Gura«, flötete sie, und er glaubte heut tatsächlich nicht viel zum Mittagbrot vertilgen zu können, trotz der Anstrengungen am Morgen. Das kleine Mädchen rührte einen ja zu sehr.

»Gura, heut nach dem Essen dürft ihr euch jeder eine ganze Flasche Wein nehmen, weil ihr mir so schön geholfen habt und weil man einen Abschied feiern muß.«

»Das muß man«, bedankte sich der Schlangenmensch auch für die Kollegen und sah an den fromm aufgeschlagenen Kinderaugen vorbei.

»Ich darf doch nicht besoffen im Schifferkinderheim ankommen«, weigerte sich Wilhelmine, als die Männer verlangten, sie müsse ihnen auch zuprosten.

Nein, nein, auf den Wein sollte es niemand schieben dürfen, plante die Kleine, als sie ein einziges Schlücklein genehmigte.

»Aber damit ich nicht so trocken bei euch sitze«, gab sie sich leichter, »werde ich mir ein Tippel Kaffee kochen.«

Kaum war sie drunten an ihrem Herd, schoß sie schon wieder nach oben und flitzte an den Männern vorüber: »Ich suche mir nur schnell bei euch ein bissel Kornfranck, ich habe keinen mehr zum Kaffee.«

Die Männer waren ein bißchen schwer vom säuerlichen Wein, keiner war der Butenhof diesmal behilflich. Darauf hatte sie auch spekuliert. Der Kaffeezusatz war ihr gleichgültig.

Guras Liederlichkeit machte ihr mehr zu schaffen. Die Männerkoje war so eng und dunkel, und nun sollte Wilhelmine auch noch unter dem Bett herumkriechen. Socken, ein zerfleddertes Buch, Schlipse, ein Kamm – das fühlte sie deutlich in des Schlangenmenschen Koffer. Nun rollte sie auch eine kleine Glastube zwischen ihren Fingern, schüttelte sie, hörte Tabletten klappern.

*

»Dein Kaffee ist wohl reichlich bitter?« fragte Winderlich später, »dann ist er aber gut.«

Er kannte sich nun einmal vorzüglich in allen Qualitätsfragen einer nobleren Welt aus.

Wilhelmine schlürfte mit Todesverachtung ihren dünnen Kaffee samt dem von ihr verordneten Sonderzusatz.

»Ich möchte nämlich bissel frisch sein, weil wir doch heut ziemlich geschuftet haben. Brauchen die in Fürstenberg erst groß etwas davon zu merken?«

Nein, das brauchten sie nicht. Die verständen auch nichts von den Sorgen eines kleinen Mädchens, das einen eigenen Kahn besitzt.

»Mir ist nämlich nicht ganz gut, sonst hätte ich schon ein Gläsel mit euch getrunken. Legt ihr euch nur noch eine Weile hin, damit wir in Fürstenberg noch ein paar vernünftige Sätze miteinander reden können. Ich packe jetzt.«

Wilhelmine tat es auch gleich und hockte eine halbe Stunde vor Fürstenberg neben ihren Sachen. Der Bett- und Kleidersack war ordentlich verschnürt, nur der Karton mit der Wäsche und den Schuhen hatte rechts und links ein paar Beulen, so daß er etwas klaffte. Wilhelmine trug wieder ihre komplette Trauerkleidung. Der neue Hut, selbst wenn er in all seiner Pracht noch vorhanden gewesen wäre, hätte auch schließlich für die Ankunft in der Winterschule für Schifferkinder nicht ganz gepaßt.

Als die Butenhoftochter die Einfahrt vor Fürstenberg geringschätzig und feindselig verfolgte, hatten ihre Augen etwas Unerbittliches. Das also wollte auch Oder heißen, die Ufer hier. Das sollte sich die Oder wohl etwas darauf einbilden, daß man ihr gerade noch erlaubte, durch zementierte Kaimauern hindurchzufließen!

Herbstliche Bäume? Krane und Schornsteine.

Weiter Septemberhimmel? Breite, graue Eisenbrücken, vor denen der ›C. W. V‹ seinen Schornstein umlegen mußte.

Stromschnellen, aus denen manchmal ein Fisch aufsprang? Strudel um die in den Grund gerammten Steinpfeiler und braunen gewaltigen Holzpflöcke, die eine freie Durchfahrt hinderten. Stauungen von Dampfern und Kähnen, zur Kanalfahrt bereit, untreu der Oder.

Buhnen, Weiden, Wälder? Fabriken, rote Ziegelspeicher, eine Werft, vor der auseinandergerissene Schiffsteile auf dem Trockendock lagen. Auf der Böschungshöhe gepflasterte Wege, Krafthäuser, Signale, Schienen für die Treidellokomotiven.

Der Flug eines Flußreihers, der Kuckucksruf aus der Tiefe des Oderwaldes? Rauchschwaden und Sirenengeheul, eilige Barkassen und Hammergeläut!

Die Oder soll sich wohl noch groß bedanken, kreiste derselbe Gedanke schon wieder durch Wilhelmines Kopf, daß sie überhaupt durch die Zementmauern fließen darf.

Der ›C. W. V‹ tutete lange und laut. Die Schaufelräder änderten ihren Takt; der Steuermann griff zur Potsche, der ›Helene‹ die Richtung nach links zur Hafenmündung zu geben; die Frau Kapitän erschien mit einem Körbchen voller Geschenke für die kleine Butenhof auf dem Dampferdeck; Fordan machte sich am Steg zu schaffen, legte das Brett bereit zum Aussteigen.

Links hinüber – zum Hafen links hinüber, bohrte es in Wilhelmines Gehirn, links hinüber mit dem Gepäck zum Steg – der Karton ist so schwer – ich werde ihn in die rechte Hand nehmen – aber es zieht mich so nach links.

*

»Um ein Haar!« atmete der Bootsjunge schwer, »ich habe sie gerade noch zu fassen bekommen.«

Am Kai barmte Frau Woitschach um das Kind.

»Keinen Tropfen Wein hat sie zum Abschied getrunken «, bezeugten die Männer vom Kahn ›Helene‹ der etwas mißtrauischen und neidischen Mannschaft vom ›C. W. V‹ und schwankten ein bißchen.

»Die Wilhelmine keinen Tropfen! Im Gegenteil. Kaffee zum Ermuntern –«

Der ganze Dampfer außer dem Kapitän erschien.

»Da tragt nur den Sack und das Paket vorläufig zurück, und das Mindel bringt mir in seine Kajüte«, befahl Frau Woitschach und knöpfte dabei den Kragen und die Ärmel des kleinen Mädchens auf, »und holt mir einer den nächsten Doktor.«

»Sie hat schon zu Mittag beim Wäscheabnehmen paarmal so getorkelt«, machte der Schlangenmensch die Sache noch schlimmer und begriff nicht das mindeste. Dabei hätte er sich nun zwei oder drei Flaschen Haarwasser und viele Schachteln Zigaretten in aller Ehrbarkeit als Schweigegeld erpressen können.

»Nicht den Doktor«, stammelte Wilhelmine schwach, zwischen Ohnesorges und Winderlichs Armen wankend, »nur aufs Bett, und die Frau Kapitän soll bei mir bleiben –«

»Wo können wir denn jetzt das Kind hier lassen«, schlug die ihre Hände über der hohen Frisur zusammen, und niemand kann sagen, ob vor Kummer oder freudiger Überraschung.

Der Kapitän kam sich einmischen; nun waren sie alle an Bord der ›Helene‹: »Aber weiter müssen wir – Glogau und Tschicherzig haben uns lange genug aufgehalten. Ich nehme nur noch die Kohle auf, und dann los.«

Da holte erst keiner den nächsten Arzt.

»Keinen Doktor«, wehrte das Kind mit müde vom Bett herabhängender Hand ab.

»Der kann auch nicht mehr kommen, mein Herzel. Aber ich werde dich schon kurieren«, rumorte Frau Woitschach mit Umschlägen, Zuckerwassergläsern, Baldrian und Wärmflasche.

Die Schaufelräder des grauen ›C. W. V‹ mit seinem goldverzierten Bug warfen schon wieder ihre hohen, schäumenden Wellen und überstäubten die Bullaugen des Butenhofschen Schiffslazaretts mit unzähligen Tropfen.


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