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IX. Beobachter an der Oder

Wilhelmine kam bald zur Besinnung. Der Zeuthener ›Beobachter an der Oder‹ hatte sie zur Vernunft gebracht. Das war die Zeitung aus der Heimat der Eltern und des Vormunds. Sie erschien wöchentlich dreimal und wurde in dicken Rollen an die Schiffseignerin Wilhelmine Butenhof gesandt, sobald der Kahn ›Helene‹, Gott sei's geklagt, wieder einen festen Platz hatte.

Der Vormund hatte das Kind sehr gelobt, daß es das Abonnement der Eltern aufrechterhielt; für die Mitbenützung der Zeitung gab er Wilhelmine nichts dazu.

So ungern die Kleine schrieb, hatte sie sich doch dazu entschlossen, nach der Beerdigung des Vaters in Zeuthen selbst eine Karte an ›Dorns Buchdruckerei und Zeitung‹ zu kritzeln. Besser, sie ging nicht selbst zu Herrn Dorn. Vielleicht wußte er nicht so ganz genau, wie alt sie war. Vielleicht glaubte er ihr die Schiffseignerin.

Auf ihre Zeitung gab Wilhelmine viel. Mochte sie selbst auch manchmal struppig aussehen – der ›Beobachter an der Oder‹, in dem sie gerade las, steckte immer wunderbar glatt gefaltet im Spiegel zwischen den beiden Bullaugen der Kabine; und der Onkel mußte das Blatt ordentlich wieder dort anbringen, wenn er einen Blick hineingeworfen hatte, ohne an dem Abonnement finanziell beteiligt zu sein.

Die Ausgabe lohnte sich für Wilhelmine. Denn sie wurde von ihrem Irrweg abgebracht. Sie ertappte sich nämlich selbst dabei, daß sie in den wieder einmal bündelweise nachgelieferten Zeitungen nur die Berichte über das Königs- und das Mannschießen nachlas, die Inserate von ›Onkel Emils Luftschaukel und Karussell‹ – von Zeit zu Zeit wurden beide auf dem Spittelplatz aufgestellt – studierte und unter den Unglücksfällen der Provinz nach besonders krassen Fällen von ›Artistenschicksal‹ suchte. Als ihr Blick zufällig über die ständige Rubrik ›Meldungen über die Oder‹ hinstreifte, gab es den Ruck in ihr. Danach, danach allein hatte sie zu fragen, und alles andere ging sie einen Dreck an.

Wilhelmine setzte sich auf die Treppe im kleinen Küchenvorraum, breitete den ›Beobachter‹ auf ihren Knien aus, umschloß mit den Händen ihre Fußgelenke und verbiß sich in die Nachrichten. Aha. So stand die Sache. Droben um Breslau weitere Verschlechterung des Wasserstandes. Bis unterhalb Glogaus wurde der Verkehr nur mit vielfachen Ableichterungen aufrechterhalten. In der letzten Woche hatte man 26 000 Tonnen Kohle verkippt und 13 000 Tonnen Erze gekrant. In Stettin waren zahlreiche Erzeingänge zu verzeichnen, doch begann der Kohlenraum knapp zu werden.

Wilhelmine verstand es ganz und gar nicht, ob das ein Glück oder einen Jammer bedeutete. Sie entschied sich aber für das letztere. 26 000 Tonnen Kohle und 13 000 Tonnen Erz erschien ihr, gemessen an dem kleinen, auf ihre ›Helene‹ entfallenden Anteil Ladung, riesig viel. Aber wenn Herr Dorn im ›Beobachter‹ darüber klagte, sollte es ihr nur recht sein. Denn sie wollte schimpfen und war fest entschlossen, noch in dieser Stunde unter ihren Leuten Schrecken und Düsternis zu verbreiten.

Die niederschmetternden Nachrichten lernte das Kind auswendig, was ihm sehr schwer fiel. Die ganze Zeit, in der das kleine Mädchen sein Mittagbrot wieder einmal selbst vorbereitete, ging darüber hin. Eierkuchen gab es heut. Wilhelmine beherrschte im wesentlichen nur zwei Gerichte: Knoblauchwurst mit Sauerkraut und Bratkartoffeln, und eben Eierkuchen. Die Versuche, Puddings aus den schönen fertigen Pulvern zu verfertigen, waren ihr leider immer mißglückt.

Für die Herstellung ihrer Eierkuchen rumorte die junge Schiffseignerin wild in Topf und Tiegel; vom Kocher her schlugen Flammen aus zischendem Fett auf, die Mittagssonne brach in schrägen, dichten Strahlen durch den Kajüteneingang in die glühend heiße, enge Küche; es herrschte eine wirklich teuflische Hitze und höllische Stimmung, wie sie zu den Gedanken der zornigen Butenhof paßte. Erbost prägte sie sich ein: »Bis unterhalb Glogaus wurde der Verkehr nur mit vielfachen Ableichterungen aufrechterhalten ... 26 000 Tonnen Kohle ... 13 000 Tonnen« – und immer in dem Abstand, in dem die Feststellungen folgten, mit denen sie die Männer niederschmettern wollte, packte sie den Tiegel, warf den Eierkuchen ein Stück in die Luft und fing ihn wieder auf, als ginge sie mit Ball und Tamburin um. Es sollte den Eierkuchen schön locker machen, erinnerte aber zugleich peinlich an gründliche Übungen für die Vorstellung, von der oben auf Deck die Männer unausgesetzt sprachen. Wilhelmine erschrak zu Tode, als sie ihr Jonglieren mit dem Eierkuchen bemerkte. Das wäre ja. Soweit war es mit ihr schon gekommen.

Sie würgte ihr Essen hinunter, ohne sich hinzusetzen, ohne einen Teller zu decken; nur an die Messingstange des winzigen Herdes gelehnt: »... 26 000 Tonnen Kohle verkippt – 13 000 Tonnen Erze gekrant – und das ist sehr wenig.«

Das Kind konnte es kaum erwarten, die Eierkuchenpfanne abzustellen und zu den Männern hinaufzustürmen. Aber droben ging sie dann ganz langsam; würdevoll und verschlagen. Ganz bescheiden setzte sie sich neben ihre Leute, die nach der Mahlzeit faul auf dem Deck herumlagen, bis auf Fordan, der fluchend darüber wachte, daß ihm keine Schwimmer in das frischgeteerte Beiboot kletterten.

Man fuhr nämlich gerade an einer der kleinen Städte vorüber, die an ihrem Rande, in reichen Wiesen und schöngerundeten Sandbuhnen, gegen eine weidenbewachsene Steinmole gelehnt einen grauen Bretterverschlag als ›Städtische Badeanstalt‹ zu ihren geschäftlich fruchtbarsten Unternehmungen zählen. Eine Fahne in den Stadtfarben wehte über dem Etablissement; Erwachsene entrichteten sechzehn Pfennig, Kinder acht Pfennig, auf Dutzendkarte vier Pfennig Eintritt. Freibäder gibt es natürlich soviel, wie Sandbuhnen stromauf und stromab vor der Stadt liegen. Doch man zahlt gern. Das kommt vom Gesellschaftsleben der kleinen Flußstädte her.

Wird ein Schleppzug an der Waldbiegung vor der Badeanstalt sichtbar, schwimmen die jungen Männer, Mädchen, die Knaben in Scharen auf den Dampfer zu, lassen sich von seinen hohen Wellen und der jagenden Strömung die Flanke des ganzen Schleppzuges entlang tragen und klettern rudelweise in die Beiboote der drei letzten Kähne, um mühelos wieder gegen die mächtige Strömung anzukommen und ohne Strapazen in ihre Badeanstalt zu gelangen.

Im allgemeinen sah Wilhelmine es nicht ungern, wenn sich ein ganzes Menschenbündel darum rang, von der Strömung nicht weitergerissen zu worden, und in ihrem Beiboot die letzte Rettung erblickte. Auf einmal stand dann der letzte Kahn mit der leichten Ladung, dem geringen Schleppgeld und der schwierigen Steuerung in hohem Ansehen; mit einem Male. In ihrer augenblicklichen Stimmung nahm Wilhelmine aber den Besuch im Beiboot übel.

»Haut bloß ab!« drohte sie mit erhobener Faust. Aber Fordans höhnisches »Frisch geteert!« machte größeren Eindruck.

»Laß sie 'rein«, zischte Wilhelmine, die anscheinend die Lage noch nicht ganz überblickt hatte, schadenfroh und in plötzlichem Gesinnungswechsel, »laß sie 'rein und sich bescheißen.«

Fordan sah seiner Herrin bewundernd in die Augen.

»Du bist der einzige«, fächelte sie sich mit beiden Händen Kühlung zu für ihr hitze- und zorngerötetes Gesicht.

Fordan bezog das Lob auf andere Leistungen – in der Erinnerung an Wilhelmine Butenhofs freundliche Aufforderung zu kleinen Raubzügen. Etwas zu intim kniff er ein Auge zu.

»Wir sollten auch beide mal lieber ein bissel mitschwimmen, wenn wir wieder wo liegen«, schlug er munter vor.

»Du hast deine wirren Gedanken auch bloß immer beim Vergnügen wie die Männer«, grollte die Butenhof, »das Vergnügen da wird aber bald ein Ende haben«, blickte sie tückisch auf die schlafenden oder wenigstens ruhenden Männer, von denen sie mit dem Bootsjungen nur der umgelegte Segelmast trennte. Sie ließ sich auf dem Ende des Mastes nieder und legte die Arme verschränkt auf den Bordrand. Das Kinn vergrub sie in ihren gefalteten, runden Kinderhänden und schaute ernst auf das unablässig an den Kahn pochende, abwärts eilende Wasser. Die glühende Luft zitterte über dem Fluß; Libellen standen schwirrend über dunklen Strudeln still; große, fiedrige Bremsen taumelten in unruhigem Zickzack hin und her.

Wilhelmine konnte sich nicht beruhigen: »Schifferkinder schwimmen nicht, du Dösbartel. Und sie essen auch keine Fische«, sprach sie über den weiten Strom hinweg.

Denn in der Winterschule in Fürstenberg kamen manchmal Kommissionen mit vielen Damen als Begleitung, und die fragten dann immer so aufreizend dumm: »Ach, im Sommer ist es wohl auch sehr schön? Da könnt ihr wohl jeden Tag alle tüchtig schwimmen? Und schöne, schöne Fische gibt es wohl?«

Wilhelmine ahmte vor Fordan die Besucherinnen aus der Winterschule aufgebracht nach. Er hatte gar nicht gedacht, daß die Butenhof so hoch sprechen könnte; so war er an ihr tiefes Gebrummel gewöhnt. Sie beachtete ihn nicht mehr, zog einen ›Beobachter‹ aus ihrer Bluse und begann zu lesen und zu seufzen, während das Blatt im leichten Lufthauch der Flußfahrt leise knisterte und raschelte. Dem Jungen war es mit dem Mädchen nicht mehr geheuer, und allmählich wurden auch die Männer in ihrem Halbschlummer, sogar unwillig, auf das Geraschel und entrüstete Seufzen aufmerksam.

»Schrecklich, schrecklich«, murmelte das Kind immerhin so vernehmlich, daß jeder, der es hören wollte, dazu imstande war. Nun machte sich der Onkel aber auf die Beine und kletterte, was für seine alten Glieder nicht unbeschwerlich war – denn er war Athlet und nicht Akrobat gewesen –, über den umgelegten Mast zu seinem Mündel hinüber. Es sah weiter starr auf den Fluß.

»Droben bei Breslau gibt es eine weitere Verschlechterung des Wasserstandes. Bis unterhalb Glogaus wird der Verkehr nur mit Ableichterungen aufrechterhalten. In der letzten Woche hat man nur noch 26 000 Tonnen Kohle verkippt und 13 000 Tonnen Erze gekrant.«

»Nee, wie das Kindel redet«, schlug Herr Müßiggang die Hände zusammen, »wie ein Reedereibesitzer – nee, du kleines Hundel – aber das kann doch gar nicht stimmen. Wir sind doch schon lange hinter Steinau, auf Breslau zu. Ob du und daß du vielleicht gerade wieder einen von den alten, nachgeschickten ›Beobachtern‹ in die Hand bekommen hast?«

Wilhelmine begriff, daß ihre Stellung unsicher wurde. Wie aus Versehen ließ sie das Blatt ins Wasser fallen und guckte ihm bedauernd nach.

»Je – nun kann ich es dir gar nicht mehr zeigen – funkelnagelneu waren die Wasserstandsmeldungen. Aber ihr fragt ja nicht danach«, fuhr sie herum, daß der Onkel zusammenschreckte und die Männer sich um ihn scharten, »– nach gar nichts – ihr macht Blödsinn, und ich muß mich um alles sorgen – von deinem Michel in Zeuthen könntest du was lernen, Onkel – der mit seinem Dampfer war richtig für die Oder, der ja; trotz seiner Theaterspielerei mit dem Fräulein Zerline.«

Das Pony Hannchen wieherte in seinem engen Stall, weil es die Gebieterin laut rufen hörte.


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