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XXIV. Treibeis

In dem Moment gewann Wilhelmine wieder vollkommen die Oberhand, in dem es für den Onkel galt, sich deutlich zu äußern, ob er wisse, was im Winter aus Lattersch, Winderlich, Gura, Ohnesorge und Fordan werden solle.

Gut, Fordan mußte dreimal in der Woche in die Fortbildungsschule. Davon wurde er aber nicht satt. Er hatte seine Eltern hier. Die würden schön klagen über den Fresser mehr am Tisch. Ohnesorge fiel der Stadt Zeuthen zur Last. Lattersch, Gura und Winderlich waren in ihre Heimatorte abzuschieben.

»Wenn du denkst, daß mir das gefällt.«

Wilhelmine rückte auf dem Fensterbrett hin und her und pochte mit dem rechten Zeigefinger gegen die Scheibe, im gleichen Takt, wie von draußen die Schneeflocken heranflogen. Die Oder war kaum sichtbar, so wirbelte es. Aber wenn die Flocken den Wasserspiegel nur berührten, zergingen sie schon. Nur am Ufer blieb eine weiße, weiche Schicht Schnee. Ein Hund tollte den Damm entlang, Seine Laufspuren wurden große, schwarze Erdflecken.

»Wenn's jetzt so schneit«, trommelte Wilhelmine mit der ganzen Hand weiter, »wird's mit dem Treibeis noch eine ganze Weile dauern. Ist ja gut. Da kommen sie noch glatt 'rein. Und daß wir bloß Fracht bis Neusalz haben, paßt mal.«

Sie rutschte vom Fensterbrett.

»Na, andere Leute haben auch den Kopp voll. Der Michel. Dem sein Vatel wird sich wundern, wenn die Oder steht und der Junge nicht mehr 'raus kann.«

»Anderleuts Sorgen –«, wehrte der Onkel ab.

»Ich hab' mir schon den Schädel zerbrochen«, ließ die Butenhof sich nicht beirren, »immerzu. Und gehen muß es. Ich glaub' nämlich nicht, daß der Lattersch und der Winderlich und der Gura im Winter von uns wegziehen und uns in Ruhe lassen, Onkel.«

»Laß du mich ock jetzte in Ruhe, Mindel. Immerzu von den schweren Sachen reden.«

Aber Müßiggang mußte zuhören. Viel mehr. Er hatte mit ihr nach Neusalz zu fahren, nach Glogau, in die beiden größeren Nachbarstädte. Er wurde dazu gezwungen, sobald Wilhelmine und Michel sich einig waren. Das Mündel und sein Vormund benützten den ersten Morgenzug; am Dienstag nach Osten, nach Glogau; am Mittwoch nach Neusalz im Westen.

»Neusalz ist wie Fürstenberg, nur noch mehr rote Ziegelhäuser und eine längere Bahnhofstraße«, meinte die Butenhof; aber sie hatte sich eigentlich nur um den Wochenmarkt zu kümmern. Alle Stände gingen sie durch, fragten nach diesem und jenem, hielten sich auch beim diensttuenden Schupo auf, und Wilhelmine reckte sich, um den Eindruck zu erwecken, sie sei schon konfirmiert und aus der Schule.

»Siehst du, siehst du«, triumphierte das Kind, »kein Stand mit Fischen. Ganz was Neues wär's.«

Namentlich in Glogau, fand Wilhelmine, könnte es lohnen. Weil Garnison dort war und der Landadel hereinkam zu Besorgungen. Denn in den kleinen Hafenstädten aß man zu selten Fische. Man mochte sie nicht. Man verstand nicht, sie zuzubereiten. Darüber war die Fischerei eingeschlafen. Vielleicht auch deshalb: arme Leute haben das Gutkochen nicht erfunden.

Dem Alten paßte es wenig, in der Kälte auf dem Wochenmarkt herumzuspionieren.

»Die werden deine Bude nicht erst groß suchen.«

Wozu man Lattersch habe? Den früheren Ausrufer? Mit seinem »Noch nie dagewesen, meine Damen und Herren?« Der sogar in Reimen sprach?

Wirklich, noch nie dagewesen. Eine Fischhandlung auf dem Wochenmarkt einer mittleren Oderstadt!

»Daß du und du willst für uns sorgen, für die Leute von uns, die nicht genug Unterstützung kriegen, ist ja gut«, überlegte August Müßiggang, »aber was das alleine kosten wird, alles herschaffen mit der Bahn!«

»Bloß der Lattersch fährt mit dem Zuge«, hatte Wilhelmine schon wieder alles angeordnet, »das andere kommt alles in einen kleinen Kastenwagen. Und Hannchen wird vorgespannt.«

Der Vormund war wieder beim alten Gehorsam.

Sein Mündel und sein Großneffe schickten und schleppten ihn nicht wenig herum. Denn das wußten die beiden Kinder von der Oder ja längst, daß man sich nicht einfach seine Fische herausholen und sie in die nahen Städte zum Verkauf bringen konnte.

Die Männer auf dem Schleppkahn ›Helene‹ ahnten noch nichts von ihrem neuen Beruf, als im Tischschub in Wilhelmine Butenhofs Kammer schon ein ganz dicker, großer Briefumschlag bereit lag voll gestempelter Scheine, voller Ausweise mit unleserlichen Unterschriften, Gebührenquittungen und Postanweisungsabschnitten.

Erst hatte Wilhelmine die Ankunft ihres Kahnes nicht erwarten können. Jetzt rechnete sie sich aus, daß noch gut drei, vier Tage vergehen würden. Sie brauchte noch Zeit, all diese Erledigungen abzuschließen. Bis dahin hoffte sie weiter auf Schnee. Aber der alte blieb liegen und taute nicht mehr, die Wolken wurden heller, klarer, nördlicher; die kahlen Bäume trugen morgens Reif vom Odernebel, und abends, als der Mond sehr deutlich und kalt über Hafen und Fischergärten stand, sah man die ersten Eiskrusten am Ufer blitzen. Die Oder freilich floß draußen hinter der Mole noch immer eilig und dunkel.

Nach der dritten Mondnacht lag eine bleiche, glasige Schicht über dem Fluß, unruhig von der Strömung gewirbelt und gehoben und gesenkt. Der erste Kahn lief mit einem leisen, unheimlichen Rascheln ums Bug zum Überwintern in den Hafen ein.

»Nee, weiter wagen wir uns nicht mehr«, gab der Schiffersohn Auskunft, und die Butenhof, die ihn als zuverlässig kannte, bangte sich um die ›Helene‹.

Sosehr der Onkel nebenan grollte, nach zehn Uhr kletterte sie noch einmal aus ihrem Bett, zog sich zum späten Abend völlig an und schlich auf den Damm hinaus. Der Mond war im Zunehmen, die Stadt lag ohne Lichter da, wie ein gedrängtes, kleines Gebirge aus scharf abgegrenzten schwarzen Rundungen, Spitzen und Zacken. Die ganze Oderniederung leuchtete grau. Wo ein Mondlicht schimmerte, war schon Eis zu erkennen. Wilhelmine wußte von dem unaufhörlichen Rascheln und schaumigen Knistern genug.

Ein Schleppzug ging noch vor Anker. Sonst geschah das still und selbstverständlich. Vielleicht, daß noch ein Hund auf einem Kahne bellte, wenn die Ankerkette niederrasselte. In dieser Nacht riefen die Schiffer aufgeregt. Wilhelmine unterschied die Stimmen; auch Frauen kamen dazu.

Durchfroren trabte sie heim; unruhig, wach. Auch im Bett erwärmte sie sich lange nicht mehr. Das Rascheln des flockigen Eisschaumes ging ihr nicht mehr aus dem Ohr.

Dann wird Wilhelmine dennoch fest geschlafen haben. Ohnesorge mußte am Fensterladen klopfen; von seinen Faustschlägen gegen die Tür hatten Vormund und Mündel nichts gemerkt.

»Gestern sind wir und ein tschechischer Schleppzug noch bis Carolath gekommen. Da haben wir es heute gerade noch geschafft. Heut kommt die Oder zum Stehen«, berichtete der Steuermann und drängte sich in die Wärme, und Wilhelmine fragte ihn nichts. Sie wußte nicht, wie sie in ihre Kleider fand.

Mit drei anderen Kähnen die ›Helene‹ im Hafen! Ziemlich weit hinten, an Geibraschs Garten. Dort sah Wilhelmine schon das blaue Bug.

Pony Hannchen war bereits auf dem Damm an einen Pfahl gebunden und schnaufte dampfende Wolken in die Morgenkälte.

Mit Säcken und Paketen, Bündeln und Koffern stieg einer nach dem anderen aus den beiden Kajüten, als wollten sie alle den Kahn für immer verlassen. Es bedrückte die Butenhof, erschreckte sie.

Eigentlich fühlte sie sich in jeden Winkel ihres Schiffes gezogen, aber die Männer setzten sich auf dem Damm schon als kleiner Trupp in Bewegung.

»Wohin soll's denn?« fragte Wilhelmine und drückte immer noch einmal einem die Hand, »ihr habt ja Hannchen nicht abgebunden.«

Sie war so aufgeregt.

Die Männer blieben müde, sie froren, waren unlustig zum Sprechen. Es wurde nicht das große Wiedersehen. Die ›Helene‹ schien so abseits.

»Na, da hilft's halt nichts«, redete endlich einer vorn etwas mehr, »da ist halt der Winter hier. Da muß unsereins halt abwarten.«

Wilhelmine folgte mit Hannchen und Fordan als letzte. An den eisigen Tagen klingen Kinderstimmen heller als sonst.

»Nu, wenn die Oder auch Treibeis hat, derentwegen braucht euch doch der Arsch lange noch nicht mit Grundeis zu gehen«, damit war Wilhelmine wieder die alte.

Winderlich drehte sich bekümmert um und schwenkte seinen Koffer, abgründigen Zweifel anzudeuten.

»Ich habe Winterarbeit für euch«, strich die Butenhof den Reif von Hannchens Fell. Denn nun waren sie alle stehengeblieben, und sie fand Zeit dazu.

Nichts hätte er sich so sehnlich gewünscht, als daß sie bis zum Frühjahr alle zusammen wären, versicherte Gura. Und daß es der schönste Empfang sei, den Wilhelmine sich habe ausdenken können.

»Sag' ich. Mein' ich.«

Der Schiffseignerin war noch nie so aufgefallen, wie schrecklich laut und zerfahren der schwarze Schlangenmensch war. Aber nun hörte sie ihn gern. Und als Hannchen auch noch wieherte, war Wilhelmine voller Entzücken. Selbst die fliehenden, glasigen, dunklen Teller aus Eis, die sich mit einem Rand von Schnee und gefrorenem Gerinnsel in der Strömung drehten, empfand sie als etwas ungemein Festliches.

Die warme kleine Stube dröhnte ihr beim Frühstück noch nicht genug von Lachen und von Männerstimmen. Wilhelmine überschrie alle. Und jetzt war sie auch nicht mehr blaß. Nur Michel fehlte ihr an dem Morgen.


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