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XXVIII. Zucker für Hannchen

In der nächsten Zeit log Wilhelmine Butenhof ziemlich oft. Und da gerade die Weihnachtstage waren, muß man es doppelt verurteilen. Zu Lügereien kam es allerdings nur gegenüber dem Fräulein. Und damit verfolgte sie bestimmte Zwecke.

Das Fest selbst wollte sie noch auf ihrem Kahn verleben; als wäre nichts geschehen und als stände ihr nichts bevor, hatte die Butenhof alle Männer, Michel und auch Fordan und selbstverständlich auch Fräulein Zerline am Heiligen Abend in ihre Kajüte geladen. Da die Decke etwas niedrig war, mußte der Christbaum sehr klein gewählt werden. Auch war es nicht möglich, mehr als acht Lichter aufzustecken. Einmal hatte das Fichtenbäumchen zu wenig kräftige Zweige; und dann wäre es auch zu heiß in der engen Kabine geworden: das Gedränge der vielen Menschen, der Petroleumofen, der Punsch, die Lampe – Mohnklöße und Äpfel dagegen waren schön kühl.

Auf dem Wege von der Christnacht zum Kahn – allein am Heiligen Abend ging Wilhelmine Butenhof zur Kirche – hatte die Schiffseignerin, während die Glocken läuteten, ihr Pferdchen besucht, ihm eine ganze Tüte Stückelzucker gebracht. Was nur mit ihr war? Am liebsten hätte sie den ganzen Weihnachtsabend in der Ackerbürgergasse, in Hannchens Stall verbracht und ihre Gäste auf der ›Helene‹ allein gelassen. Aber Hannchen widmete sich nach der Zuckerfütterung seiner Herrin nicht sonderlich. Hannchen wußte nicht viel davon, daß heut in allen Kirchen über die Tiere im Stall heilige Worte verlesen wurden. Wilhelmine hatte das das sehr gefallen; auch der Chorgesang, das dreimal »Heilig«.

Als Wilhelmine Pony Hannchens Stall verließ, waren in den Fenstern der Nachbarhäuser schon drei strahlende Christbäume zu sehen. Das Kind wurde nicht recht froh. Das Herz wurde ihm nicht mehr so weit wie früher vor der Einbescherung; es war sogar von einem leichten Druck zusammengepreßt; und Wilhelmines Stimmung gegen die Gäste hatte fast etwas Gereiztes.

Gura war ihr zu laut und redete so schrecklich überschwenglich; dabei konnte man ihn nur schwer verstehen mit seinen vielen »ich mein'!« und »sag' ich«. Als er behauptete, so kleine Christbäume wären das Reizendste von der Welt, konnte sie nicht anders, als nur zwei Meter hohe Tannen überhaupt einigermaßen verwendbar zu finden.

Im wesentlichen riß Fräulein Zerline das Gespräch an sich. Sie war sehr glücklich, das Fest ganz in Künstlerkreisen verleben zu dürfen, und es bedrückte sie für ein paar Stunden nicht mehr im mindesten, daß ihr Weihnachtsgeschäft in Spielsachen so schlecht gewesen war wie noch nie. Wilhelmine indessen litt darunter, daß man vor dem 24. Dezember allenthalben Karpfen aus den umliegenden Gutsteichen verlangt hatte und ihre guten, frischen Fische ablehnte. Deshalb sollte es auch auf der ›Helene‹ zum ersten Feiertag keine Gans, sondern eigene Fische geben. Sie machte sich nichts daraus, ihren Leuten das zuzumuten.

Der Onkel klagte, daß es morgen nichts sein sollte mit der Gans; aber er verbarg damit nur seine schlechte Laune über die Anwesenheit seines Großneffen und des Fräuleins. Die hatten heut und sonst hier nichts zu suchen.

»Wie die Leitgöbel sich pärscht«, flüsterte er Winderlich ins Ohr. Aber der war gerade in die Illusion vertieft, sich unter riesiger, elektrisch beleuchteter Tanne in tonangebender Gesellschaft auf hoher See, im luxuriösen Speisesaal eines Hapagdampfers zu befinden, und gab seinem Tischnachbarn Müßiggang mit vielen erregten und diskreten Bewegungen zu verstehen, daß man sich über anwesende Damen nichts ins Ohr sagen dürfe, namentlich nichts Sinnliches und nichts Abfälliges.

»Und der Bengel, der verpuchte«, hielt sich der Alte da an seinen Neffen. Das würde schließlich noch erlaubt sein.

Das Fräulein merkte nichts. Es war hingerissen von der Aussicht, daß die eigentliche Saison erst nach Neujahr beginnen würde. Ganz genau rechnete sie es den Herren und der jungen Gastgeberin vor. Vor Weihnachten, das waren alles nur Adventsfeiern und Verlosungen der Vereine. Mit den Bällen und Jahresfeiern nähme es erst nach den Heiligen Drei Königen seinen Anfang. Die Truppe würde zu tun haben! Man sollte nur die kurze Ruhezeit bis dahin genießen und sie für ein privates Fest ausnützen. Das Fräulein dachte sich allerlei Lustiges für Silvester aus. Silvester wäre der richtige Abend für Künstler.

Michel und Fordan gerieten ganz in die Partei der Leitgöbel. Darüber fand der Bootsjunge sich mit der Anwesenheit des Rivalen ab. Sonst wäre ja auch er selbst von der Weihnachtsfeier auf dem Kahn ›Helene‹ ausgeschlossen worden. Für Jungen ist gemeinsames Lachen genau so wichtig, wie wenn Frauen miteinander weinen. Es ging mit Michel wirklich viel besser, als er erwarten durfte. Vielleicht, weil Fordan fast noch war wie in seiner Knabenzeit: alles abschütteln; immer sich drehen und wenden; und im Grunde unerschütterlich treu gegen jeden, der einmal gut an ihm handelte. Und Wilhelmine hatte gut, sehr, sehr gut –

Schon schrie das Fräulein wieder »Prosit!« und »Auf die Kunst!«

Der Weihnachtsabend schien vergessen. Dabei lagen die Geschenke, mit denen man sich gegenseitig überrascht hatte, noch wie unberührt auf Wilhelmines Bett. Darüber soll sich niemand weiter wundern. Wo sollte denn der Platz für eine so lange Tafel herkommen?

Die Butenhof hatte ihr Bett hübsch mit weißen Tischtüchern eingedeckt und über den Kajütenfenstern viele Tannenzweige, mit Lamettafäden behängt, angebracht. Das schmückte das Bett sehr und hob die Wirkung der Gaben. Reizende Sachen waren das, fand man; meist aus Marzipan oder Seife: Tannenzapfen, Revolver, Kätzchen, Pilze, Uhren, Stiefel. Wilhelmine selbst erhielt eine Flasche, in die überaus kunstvoll Jerusalem, der Ölberg, eine Palme und ein Segelschiff eingelassen waren, eine gute Schifferarbeit aus Stettin.

»Alles sehr anzüglich«, lobte der Onkel, weil man für jeden etwas so Passendes hingelegt hätte.

An Bug und Heck ihres Kahnes hatte Wilhelmine Butenhof Fichtenzweige festnageln lassen. Damit stand ihr Kahn zum Feste einzig da. Ein Blick auf den Hafen zur Heiligen Nacht bewies es.

Kein Mensch achtete mehr auf all die Schönheiten. Fraglos trug das Fräulein daran schuld. Die Leitgöbel bestürmte Herrn Lattersch geradezu, neue Gedichte vorzulesen. Möglichst ein festliches. Sie führte seine letzten Niederschriften im Täschchen mit sich. Herr Lattersch hatte das Gewünschte. Es war sogar ein bißchen weihnachtlich, biblisch direkt, und es betraf auch die Oder, an einer Stelle. Deshalb gefiel es allgemein. Für den 6. Januar war es bestimmt. Zum Wartenberger Katholischen-Gesellenvereins-Fest; und so fing es an:

Als ersten Vorstand nennt die Wahl
den Herrn Doktor von Friedenthal.
Der liebe Gott krön' sein Bemüh'n,
hat Gutes viel getan,
er war Minister in Berlin,
seht ihn mit Freuden an,
der dies verfaßt, ihm fest vertraut,
er hat die Schleusen ausgebaut.
Ich bitte ein für allemal:
Hoch leb' Herr Doktor Friedenthal!

Das packte. Die Stimmung war wie umgewandelt. Man wollte einander auch mit hochleben lassen. Lattersch geriet ganz aus dem Häuschen. Er reimte gleich weiter:

Wir trinken, und wenn ich mir's borge,
'ne Runde noch auf Ohnesorge.
Dann rufen wir beim Gläserklang
ein: Vivat, August Müßiggang!

Ob die Damen etwa noch Punsch –? Die Herren lachten furchtbar, daß man Wilhelmine neben Fräulein Leitgöbel nun schon zu den Damen zählte.

Die Schiffseignerin und Wirtin erhob sich pflichtgetreu. Punsch wäre noch zu liefern; jedenfalls hätte sie Obstwein, Zimt, Nelke, Zitrone, Rum im Küchenbüfett. Und Tee zum Strecken.

Fräulein Zerline half ihr im Küchenwinkel.

»So viel Tee?« zischte sie, die Rechte der Männer und Jungen zu wahren.

»Feste panschen«, beharrte die Butenhof und log im Anschluß daran bereits von neuem und log wieder dasselbe wie seit Tagen: »... jeden Abend sind sie sternhagelvoll. Ich mag nicht mehr auf der ›Helene‹ bleiben, keine Nacht mehr. Heut abend geh' ich mit Ihnen mit. Bloß Ihr Sofa will ich. Decke und Kissen bringe ich mir mit, Fräulein.«

Die Leitgöbel war so in Schwung, daß es sie begeisterte, sich noch bis spät in die Nacht und gleich am ersten Feiertagsmorgen wieder von allem unterhalten zu können, was ihr altes, störrisches Herz fast bersten ließ.

Wie eine Opernsängerin sollte es Wilhelmine bei ihr haben. Aber wo sie den Stückelzucker hätte, den Zucker für den zweiten Punsch. Die Butenhof mußte ihn herausrücken. Sie tat es ungern. Denn wer weiß, ob Hannchen mit dem Weihnachtsgeschenk in ihrer Krippe so hausgehalten hatte, daß der nachgeschüttete Zucker noch für die Feiertage reichte, an denen alle Geschäfte geschlossen waren. Denn für ein Pferd ist Zucker zu Weihnachten alles: Äpfel und Nüsse, Pfefferkuchen und Mohnklöße, gelbe Wachslichte, Glocken, Schnee, Silberkugeln, Engelshaar, Punsch und Flittersterne.


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