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Elisabeth hat eine schlaflose Nacht verbracht. Zwar hat die Anwesenheit der Kinder sie neu belebt und ein wenig beruhigt.
Aber als diese schliefen, kamen in der Stille der Nacht all die quälenden Gedanken wieder, die sie schon am Tag gemartert hatten.
Wie soll – wie könnte sie nur ihre Unschuld beweisen? Was tun? Sie kann doch diesen häßlichen Verdacht um Gottes willen nicht auf sich sitzen lassen?!
Am Morgen sieht sie so elend aus, daß Tante Bernarda und Erhard von neuem erschrecken und nach dem Arzt schicken wollen. Doch Elisabeth wehrt heftig ab.
»Es ist ja nur Kopfschmerz – die Sonnenglut gestern … laßt mir nur ein wenig Ruhe, weiter brauche ich nichts.«
Die Gräfin, die sich immer mehr in die Kinder verliebt, nimmt diese und geht mit ihnen in den Garten hinab. Erhard setzt sich mit der Zeitung ins Nebenzimmer, um zur Hand zu sein, wenn Elisabeth etwas braucht.
Diese liegt mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer auf dem Diwan und grübelt weiter. Wenn sie nur wüßte, ob Ronald offen für sie eingetreten ist und sie verteidigt hat? Wenn sie ihn nur einen einzigen Augenblick hätte sehen können …
Alles wäre dann leichter zu tragen, dünkt ihr.
Dann erschrickt Elisabeth über sich selbst. Sehnt sie sich wirklich nach ihm? Wünscht sie insgeheim wirklich, daß er käme, um ihr ein Wort des Trostes zu sagen?
Wie darf sie? Er ist doch Edines Verlobter, und ihr eigenes Schicksal geht ihn nichts an. Tot müssen sie sein füreinander …
»LiseI,« ruft Erhard aus dem Nebenzimmer, »was war das wieder für ein tiefer Seufzer? Schmerzt der Kopf schlimmer oder –«
Er wird unterbrochen durch das Vorfahren eines Wagens draußen an der Haustür.
»Hallo, mir scheint, wir bekommen heute schon Besuch, obwohl es kaum zehn Uhr ist,« sagt er betroffen und eilt hinaus.
Eine Minute später tut sich die Wohnzimmertür auf und eine schmächtige, trotz ihrer einfachen Kleidung sehr vornehm aussehende alte Dame tritt ein.
»Mama!« schreit Elisabeth, jäh aufspringend und liegt im nächsten Augenblick auch schon weinend in den Armen der alten Dame, der die Tränen gleichfalls über die Wangen kollern.
»Aber wie kommst du denn nur hierher nach Waldheim, Mamachen?« fragt Elisabeth endlich verwundert nach der ersten stürmischen Begrüßung.
»Es ließ mir keine Ruhe, ich mußte doch gleich her, nachdem das Telegramm gekommen war …«
»Welches Telegramm?«
»Nun, das von dem jungen Herrn v. Schlomm, worin er anfragte, ob du wohlbehalten bei mir angekommen seist? Ich konnte mir den Sinn gar nicht erklären, da du ja kein Wort von Kommen geschrieben hattest. Immerhin wartete ich noch den nächsten Zug von hier ab, als du aber auch mit diesem nicht kamst, geriet ich in große Sorge, daß dir irgend etwas zugestoßen sein könnte. So packte ich rasch ein paar Sachen in meinen Handkoffer und reiste mit dem Personenzug um ein Uhr nachts ab. Um halb neun langte ich in Lobstein an, fand erst nach einer Weile einen Wagen und fuhr dann zuerst selbstverständlich nach Wolfeck. Dort war nur der alte Herr v. Schlomm daheim, der mir sagte, daß du hier bei Gadenbrucks seist und – da bin ich nun! Ist es dir etwa nicht recht, Liebling?«
»Doch – Mamachen … sehr …«
»Und mir erst,« jubelt Gräfin Gadenbruck, die Erhard aus dem Garten geholt hat, ihre Kusine stürmisch in die Arme schließend. »Meine liebe, liebe Evelyne! Willkommen auf Waldheim! Und daß du's nur gleich weißt: Nun lassen wir euch beide so bald nicht – am liebsten überhaupt gar nicht mehr fort, gelt Erhard?«
»Wenn's nach mir geht, gewiß nicht!«
Auch die Kinder kommen aus dem Garten herein und machen große Augen, daß nun noch eine »zweite Großmama« aufgetaucht ist, wie Walterchen feststellt. Frau Semper bekommt Auftrag, rasch ein kräftiges Frühstück für den lieben Gast herbeizuschaffen und dann ein Zimmer für die Gräfin Benedikten instand zu setzen. Fragen und Antworten schwirren durcheinander. Einmal fragt Gräfin Evelyne, warum Elisabeth mit ihren Zöglingen denn in Waldheim und nicht auf Wolfeck sei, aber ihre Kusine wirft ihr rasch einen warnenden Blick zu und stößt sie sanft mit dem Fuß an.
»Wir werden dir alles erzählen, Liebste, aber jetzt laß uns vor allem dies köstliche Wiedersehen genießen! Und sieh dir mal Lisels Zöglinge an – sie sind entzückend, sage ich dir, ich bin ganz verliebt in sie …«
Im Sturm der Wiedersehensfreude fällt es nicht besonders auf, daß Elisabeth schweigsam und versunken danebensitzt, als ginge sie dies alles nichts an.
Ihre Gedanken beschäftigen sich nämlich nur mit der Tatsache, daß Ronald sie gesucht und an die Mutter telegraphiert hat. Die Vorstellung, daß er sich um ihren Verbleib gekümmert, sich also um sie gesorgt hatte – denn doch nur so ist sein Telegramm zu erklären? – beruhigt Elisabeth wunderbar …
Gräfin Evelyne Benedikten sitzt endlich bei ihrem Frühstück, das sie nach der langen Nachtfahrt und da sie nun ihr Kind gesund und wohlbehalten vor sich sieht, mit bestem Appetit einnimmt, als Frau Semper eine Karte hereinbringt und Herrn Hans v. Schlomm aus Wolfeck meldet.
»Ah – nun werden wir wohl Näheres über die Vorgänge auf Wolfeck erfahren!« sagt Gräfin Gadenbruck, sich rasch erhebend. »Führen Sie Herrn v. Schlomm in den Salon, Semper. Und du, Lisel? Willst du mitkommen oder regt es dich zu sehr auf?«
»Ich möchte lieber hierbleiben, Tantchen.«
»Gut – aber du, Erhard, kommst mit mir?«
»Ja, Mama, natürlich.«
Beide entfernen sich.
Gräfin Benedikten, die bereits mit den Kindern Freundschaft geschlossen hat und ihnen von den aufgetischten Herrlichkeiten allerlei gute Bissen in den Mund schiebt, während sie mit ihnen plaudert, hätte selbstverständlich fürs Leben gern gewußt, was dies alles zu bedeuten hat.
Aber eingedenk des warnenden Blicks ihrer Kusine wagt sie keine Frage an Elisabeth zu stellen, die so blaß und gedrückt ihr gegenübersitzt.
Indes fühlt diese selbst, daß die Mutter ein Recht auf die Wahrheit hat und diese sich ihr nun, wo sie hier ist, auch gar nicht länger verschweigen ließe.
So beginnt sie nach kurzem Schweigen:
»Mamachen, ich bin dir noch die Erklärung für mein Hiersein bei Tante Bernarda schuldig. Es ist kein zufälliges – ich habe gestern meine Stellung auf Wolfeck endgültig aufgegeben … Kinder,« wendet sie sich an Inge, »geht einstweilen hinaus in den Garten und spielt dort, bis wir euch wieder rufen. Ich habe mit meiner Mutter zu sprechen.«
Elisabeths Worte waren stets Befehle für die Kinder. Inge greift auch jetzt sofort nach Evas und Walters Händen und entfernt sich gehorsam mit ihnen, obwohl man ihr ansieht, wie viel lieber sie geblieben wäre.
Gräfin Evelyne hat betroffen Teller und Kaffeetasse von sich geschoben.
» Aufgegeben? Deine Stelle? Dann gab es wohl einen plötzlichen Verdruß – denn bisher schriebst du doch immer nur glücklich und zufrieden …«
»Ich war es auch anfangs – bin es bis zuletzt gewesen, soweit es sich um meine erzieherische Tätigkeit handelte … außerhalb dieser aber habe ich so viel Bitteres und Demütigendes hinabschlucken müssen, von dem ich dir nichts schrieb, um dir Aufregungen zu ersparen – daß ich es zuletzt nicht mehr ertragen konnte. Und gestern … als das Letzte – Unfaßbare geschah und man mich zur Diebin stempeln wollte, ergriff ich einfach die Flucht …«
Und rasch, ehe die Mutter Zeit findet, ihrem Entsetzen Worte zu verleihen, erzählt sie alles …