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X.
Es fällt ein Reif in der Frühlingsnacht

Seit jenem Sonntag, an dem Elisabeth ihrem Vetter Erhard begegnet und in Waldheim gewesen ist, sind Wochen vergangen. Tauwetter ist eingetreten, überall tropft und gluckst es von Dächern und Bäumen, die Wege sind grundlos geworden.

Da man daher wenig hinaus kann, wird um so fleißiger gelernt.

»Wir wollen vorlernen, damit wir dann, wenn die Wege wieder gangbarer geworden sind, desto mehr im Freien sein können,« erklärt Elisabeth.

In diesen Tagen sagt Inge einmal: »Du, Tante Lisa, weißt du, wenn wir jetzt abends immer für eine Stunde zu Papa dürfen, müssen wir ihm immer erzählen, was wir tagsüber gelernt haben, und er hat dann immer eine große Freude, wenn wir das Examen, das er mit uns anstellt, gut bestehen.«

»Ja, und dann gibt er uns Schokolade als Belohnung,« ergänzt Eva eifrig. »Ich habe früher immer geglaubt, Papa mag uns gar nicht, weil er uns kaum angesehen hat, aber jetzt weiß ich, daß Papa sehr gut ist und uns auch lieb hat!«

»Das macht, weil ihr jetzt artige Kinder seid und eure Pflichten erfüllt. Ich hoffe, daß euch Papas Interesse für eure Studienfortschritte zu doppeltem Eifer anspornt!«

Im stillen aber wundert sich Elisabeth sehr über des Hausherrn neues Interesse an seinen Kindern.

War es eine vorübergehende Laune, oder hatte er sie wirklich liebgewonnen?

Alle im Hause behaupteten, Herr v. Schlomm sei gänzlich verändert von Wien zurückgekehrt.

Tatsächlich war er viel mehr daheim als früher, war leutselig und freundlich gegen alle, und voll nachsichtiger Geduld gegen die jetzt noch wechselnderen und oft recht schlimmen Launen seiner Frau. Auch kümmerte er sich mehr um Haus und Wirtschaft und nahm Ronald manche Arbeit ab. Sogar in die Fabrik fuhr er wieder hinaus und arbeitete jeden Vormittag dort ein paar Stunden, um den Sohn zu entlasten.

Und die Kinder ließ er täglich um die Dämmerstunde zu sich holen, und fast jeden Sonntag fuhr er mit ihnen aus.

Gegen Elisabeth war er von respektvollster Höflichkeit, und sie fühlte aus seinem ganzen Benehmen heraus, daß er ihr aufrichtig dankbar war für das, was sie an seinen Kindern tat.

So hatte der erste schlimme Eindruck, den sie von ihm bekommen, sich allmählich verwischt und sich ein unbefangen freundschaftlicher Ton zwischen ihnen ausgebildet. Elisabeth empfand weder mehr Furcht noch Scheu vor Herrn v. Schlomm.

Desto schwerer bedrückte ihr Herz die Veränderung, die mit Ronald vor sich gegangen war.

Zwar begegnete er ihr nie unfreundlich, und noch manches Mal, wenn er sich unbeobachtet wähnte, ruhte sein Blick so selbstvergessen und träumerisch auf ihr, daß ihr Herz jedesmal erbebte.

Aber wenn dann ihr Blick zufällig dem seinen begegnete, schlug er die Augen stets hastig und wie in scheuer Verlegenheit nieder, wie damals in der Diele, als sie dies zum erstenmal mit schmerzlichem Befremden erlebt hatte.

Und im allgemeinen ist er seit damals von merklicher Zurückhaltung und weicht ihr aus, wo er kann …

Nie mehr kommt er zu den Kindern, nie mehr hat er seitdem mit ihnen gespielt.

Warum? Was hat sie ihm getan?

Elisabeth fragt es sich immer wieder, ohne eine Antwort zu finden.

Darüber kommt leise der Frühling ins Land gezogen. Braunglänzend schwellen die Knospen an Sträuchern und Bäumen, hier und da wagen sich vorwitzig schon, Federbüscheln gleich, grüne Blättchen hervor. Warmer Regen schwemmt den letzten Schnee hinweg, dann rast und rüttelt der Föhn tagelang durchs Land und leckt gierig alle Nässe auf …

»Kinder – ich glaube, heute können wir es wagen, endlich wieder mal einen Spaziergang zu unternehmen!« sagt Elisabeth eines Tages am Fenster stehend und mit Befriedigung feststellend, daß die Parkwege trocken und fest wie ein Tisch aussehen.

»Ich will euch die dritte Schulstunde darum heute schenken. Wohin wollt ihr gehen?«

»In den Wald – hurra in den Wald! Da finden wir vielleicht schon Leberblümchen und Buschwindröschen! Meinst du nicht, Tante Lisa?« schreien alle drei jubelnd durcheinander.

»Möglich – die Sonne scheint ja so warm! Macht euch also rasch fertig, Mädels, ich kleide inzwischen Walterchen an.«

Draußen ist in der Tat das herrlichste Frühlingswetter. Warm wie im Mai strahlt die Februarsonne nieder, Windstille herrscht, die Erde dampft, und Veilchenduft scheint in der Luft zu liegen.

Als Elisabeth mit den Kindern den Kiesplatz vor dem Schloß betreten will, fährt gerade ein Auto vor, so rasch, daß Elisabeth die Kinder eben noch zurückreißen kann, um sie vor Schaden zu bewahren.

Sie kennt den kleinen Fordwagen und die schöne, rotblonde junge Dame, die ihn selbst lenkt, sehr wohl von Ansehen, denn beide waren schon oft in Wolfeck. Inge hat zu Elisabeth einmal gesagt: »Es ist der Wagen des Landrats Werndl aus Haugenbichl, und die rothaarige Dame ist Mamas Freundin, Baronesse Edine Werndl, des Landrats Nichte.«

Edine hat den Motor abgestellt und ist mit raschem elegantem Schwung vom Führersitz auf den Erdboden gesprungen.

Elisabeth will, an jeder Hand ein Kind, mit stummem Gruß an ihr vorüber. Aber Edine wendet sich, ohne es der Mühe wert zu finden, den Gruß zu erwidern, hochfahrend an sie:

»Ist mein Bräutigam schon zu Hause? Verständigen Sie ihn, daß ich hier bin!«

Elisabeth starrt Edine verständnislos an.

Da setzt die schöne Edine ungeduldig hinzu: »Ja so, Sie wissen noch nicht … da die Verlobung erst morgen veröffentlicht wird … Herrn Ronald v. Schlomm meine ich selbstverständlich.«

Elisabeth ist es, als führe ein schneidendes Messer durch ihren Leib. Sie ist bleich bis in die Lippen hinein geworden, eine dunkle Wolke schwebt vor ihren Augen …

Haltung … Haltung … nur jetzt um Gottes willen nicht zusammenbrechen … vor dieser da! Haltung, daß sie nichts merkt …

Aber Edine hat schon gemerkt. Elisabeths jähes Erbleichen hat sie verraten …

Ein kaltes, spöttisches Lächeln kräuselt für einen Augenblick Edines rote Lippen.

Aha – die Erzieherin ist verliebt in Ronald. Hat sich vielleicht selbst Hoffnungen auf den reichen Haussohn gemacht … die Närrin!

Noch hochfahrender als zuvor sagt sie:

»Nun – was stehen Sie denn da, wie ein Stock, Fräulein? Haben Sie nicht gehört, daß Sie Herrn von Schlomm von meiner Ankunft verständigen sollen?«

Ton und Worte geben Elisabeth sofort die volle Herrschaft über sich wieder.

»Wollen Sie sich damit an die Dienerschaft wenden. Ich gehöre nicht zu den Dienstboten des Hauses. Kommt, Kinder.«

Elisabeths Ton ist eisige Abwehr, ihre Miene von nicht mißzuverstehender vornehmer Überlegenheit. Hätte ihr Vetter Erhard sie in diesem Augenblick gesehen, er würde sicherlich bewundernd gesagt haben: »Bravo, Jungfer Königin!«

Auf Baronesse Edine freilich wirken die Worte wie das rote Tuch auf einen gereizten Stier.

Elisabeth hat sich nach dem letzten Wort rasch mit den Kindern entfernen wollen, aber Edine vertritt ihr den Weg.

»So – Sie gehören nicht zu den Dienstboten des Hauses, Fräulein? Wozu denn sonst – da Sie doch ebensogut bezahlt werden, wie diese?! Wissen Sie, daß Sie eine ganz unverschämt freche Person sind, über die ich mich bei Frau v. Schlomm beschweren werde? So eine Impertinenz ist mir doch im Leben noch nicht vorgekommen.«

»Was geht hier vor?« unterbricht sie in diesem Augenblick Ronalds tiefe Stimme, der aus dem Hause getreten ist.

Er wird totenbleich, als er Elisabeth erblickt, und herrscht Edine an: »Was soll das? Erkläre mir, wie du dir erlauben kannst, einen solchen Ton gegen Fräulein Benedikt anzuschlagen?«

Elisabeth wartet die Erklärung nicht ab. Schweigend, ohne das Brautpaar noch eines Blickes zu würdigen, entfernt sie sich eilig mit ihren Zöglingen.

Auch die Kinder schweigen, noch ganz entsetzt über den Auftritt, dessen Zeugen sie gewesen. So schreiten sie alle vier stumm mit großen Augen dem Walde zu. Erst als man diesen erreicht hat, haben sich die Kinder so weit gefaßt, daß sie ihrer inneren Empörung in Worten Luft machen können.

»Was für ein böses, hochmütiges Geschöpf ist diese Baronesse Werndl, so beleidigend mit dir zu sprechen!« sagt Inge. »Wenn du nicht dabei gewesen wärest – ich hätte ihr gehörig die Meinung gesagt … Arme, liebe Tante Lisa, du wurdest ganz blaß, als sie dich so anfuhr, als wärest du ihre Magd! Aber gräme dich nicht mehr – Ronald wird sie schon ordentlich zurechtweisen …« und Inge streichelt zärtlich Elisabeths Hände. Auch Eva und Walterchen, der natürlich die Bedeutung der Szene nicht erfassen konnte, sich aber für seine Tante Lisa durch den feindlichen Ton Edines gekränkt fühlt, suchen durch Küsse und Liebkosungen Elisabeth zu beruhigen.

»Ja, verlaß dich nur auf Ronald,« tröstet Fee, »der duldet kein Unrecht, und der war auch sehr böse … seine Augen funkelten ordentlich vor Zorn!«

Und Walter fügt hitzig hinzu: »Er soll sie verhauen – sie ist eine böse Hexe, und wenn ich erst mal groß bin, stecke ich sie in den Ofen, wie bei Hänsel und Gretel, daß sie verbrennt! Dich aber mach' ich zur Königin, Tante Lisa!«

Es tut Elisabeth wohl, daß die Kinder so energisch ihre Partei ergreifen. Ja – sie wenigstens haben sie lieb …

Lind fährt ihre Hand über die drei Lockenköpfchen.

»So – nun aber geht … sucht nach Blumen … ich möchte ein paar Minuten allein sein …«

Gehorsam entfernen sich die Kinder. Elisabeth aber setzt sich auf einen Baumstrunk und starrt aus erloschenen Augen vor sich hin.

Er ist verlobt … er hat eine Braut …

Darüber hinaus kommen ihre Gedanken nicht. Ihr ist, als sei plötzlich die Sonne am Himmel und alle Frühlingspracht ringsum ausgelöscht …


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