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Klopfenden Herzens betritt Elisabeth eine halbe Stunde später das Zimmer der Hausherrin. Es ist ihr furchtbar peinlich, Entschuldigungen entgegennehmen zu sollen, denn sie kann sich nur zu gut denken, welche Überwindung es Irene gekostet haben mag, diesen Entschluß zu fassen.
Und sie hätte so gern von ganzem Herzen vergeben und vergessen, auch ohne ein Wort der Entschuldigung!
Sie sagte das auch Herrn v. Schlomm. Aber er erwiderte, daß es der ausdrückliche Wunsch seiner Frau und auch sein eigener sei, daß sie zuletzt doch nachgeben mußte …
Übrigens empfängt Irene sie mit so bestrickender Liebenswürdigkeit, daß Elisabeths Scheu rasch schwindet.
»Das ist lieb von Ihnen, Fräulein Benedikt, daß Sie mich aufsuchen! Bitte rücken Sie sich einen Stuhl heran und verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe, aber ich bin wieder mal ganz kaputt mit meinen Nerven … habe solch abscheuliche neuralgische Schmerzen in allen Gliedern.«
»Aber bitte, gnädige Frau …«
Elisabeth rückt sich einen Stuhl an den Diwan und setzt sich. Irene streckt ihr die Hand entgegen.
»So – und nun vor allem – Sie sind mir doch nicht mehr böse meiner Heftigkeit von gestern wegen?«
»Durchaus nicht, liebe, gnädige Frau, verlieren Sie kein Wort mehr darüber. Ich sah ja, daß Sie sehr erregt und sich der Worte, die Sie sprachen, gar nicht bewußt waren.«
»Nein, ich weiß es wirklich nicht mehr. Jedenfalls meinte ich es nicht böse. Meine Nerven spielen mir manchmal solche Streiche. Gestern muß es wohl die Gewitterstimmung gewesen sein … auch war mir der Zusammenhang nicht gleich klar. Erst nachträglich begriff ich, daß Sie der angegriffene Teil waren. Na … wir wollen nicht mehr darüber reden, liebes Fräulein. Geben Sie mir die Hand … so … selbstverständlich bleiben wir zusammen und wollen uns fortan doppelt freundschaftlich aneinanderschließen – ja?« schließt sie mit gewinnendem Lächeln.
Elisabeth ist tiefgerührt und schlägt dankbar ein. Sie hat Frau v. Schlomm bisher nie so warm sprechen gehört, sie nie so bezaubernd liebenswürdig gesehen und denkt beschämt: Wie unrecht tat ich dieser Frau, als ich sie für leichtsinnig und gefühllos hielt! Ihr Mann hat recht – sie ist ja voll Anmut und Scharme wie ein unschuldiges Kind und nur launenhaft wie ein solches. Aber man kann ihr deswegen nicht einmal gram sein …
Inzwischen plaudert Irene harmlos von diesem und jenem, sogar von den Kindern, über deren Erziehungserfolge sie Elisabeth viel Schmeichelhaftes sagt.
»Unter Ihrer Leitung, Fräulein Benedikt, haben sie alles Wilde, Rangenhafte ganz verloren und sind wirklich ganz erträglich geworden. Ich kann Ihnen das gar nie genug danken … Übrigens, da fällt mir eben noch etwas ein,« unterbricht sie sich plötzlich, »bitte, liebes Fräulein, stehen Sie doch auf und öffnen Sie dort den kleinen Schrank, auf dem die Bronzeuhr steht. Links unten steht eine schwarze silbereingelegte Kassette – die geben Sie mir hierher.«
Elisabeth tut, wie ihr geheißen.
»Meine Schmuckkassette,« sagt Irene, lächelnd den Deckel zurückschlagend. Funkelndes Strahlen von Gold und Juwelen blendet Elisabeths Blick. Irenes weiße, mollige Finger wühlen behaglich in dem blitzenden Geschmeide.
»Ich habe Schmuck sehr gern,« sagt sie, »wo immer ich etwas Schönes sehe, muß ich es haben, und mein Mann kommt dieser Leidenschaft, gottlob, auch immer verständnisvoll entgegen!«
»Gnädige Frau besitzen in der Tat selten schönen Schmuck!«
»Nicht wahr? Und ich liebe jedes einzelne Stück davon innig! Weniger das Tragen, als der Besitz macht mich glücklich, und oft lasse ich mir die Kassette nur reichen, um mich am Anblick der Juwelen zu erfreuen und mit ihnen zu spielen …« Sie ergreift einen Ring, dessen mit Brillanten umgebener Karfunkelstein von besonderer Schönheit ist, betrachtet ihn einen Augenblick und reicht ihn dann Elisabeth, indem sie lächelnd fortfährt: »Trotzdem will ich mich heute von einem Stück meiner Schätze trennen – Ihnen zuliebe! Sie sollen diesen Ring fortan tragen, liebes Fräulein Benedikt, erstens als Dank für ihre Liebe zu meinen Kindern, zweitens zur Erinnerung an diese Stunde … wo wir uns versöhnt haben und Freundinnen geworden sind! Bitte, nehmen Sie ihn.«
Elisabeth ist dunkelrot geworden und will erschrocken abwehren.
»Nein, nein, gnädige Frau, keinesfalls! Wie könnte ich … es wäre mir ja ein peinlich drückendes Gefühl für selbstverständliche Dinge …«
»Doch, ich will es! Sie würden mich kränken, wenn Sie den Ring nicht nähmen!«
»Aber …«
»Kein Aber, bitte! Stecken Sie ihn gleich an, damit wir sehen, ob er paßt, sonst suchen wir einen andern!«
Und sie steckt der noch immer zögernden Elisabeth selber den Ring an den Ringfinger. Er paßt tadellos.
»Sehen Sie! Ich wußte gleich, daß es Ihre Größe sein würde! Mir sitzt er nur am kleinen Finger … und nun seien Sie so gut und tragen Sie die Kassette wieder an ihren Platz im Schrank. Und kein Wort des Dankes – das bedinge ich mir aus!«
Elisabeth trägt die Kassette zurück und verschließt den Schrank wieder. Man spricht noch eine Weile hin und her, dann glaubt Elisabeth zu bemerken, daß Frau v. Schlomm ermüdet ist, und empfiehlt sich.
Sie eilt dann den anderen zur Sägemühle nach und findet die Kinder ganz glücklich mit allerlei regelmäßig geschnittenen Holzabfällen spielen, die sie in ihren Körbchen gesammelt haben und mit nach Hause nehmen wollen.
»Papa will Eva und mir später zeigen, wie man die Klötzchen bemalen kann!« sagt Inge, und Walterchen fügt wichtig hinzu: »Und mir wird er zeigen, wie man eine Stadt daraus bauen kann!«
»Nun – wie war's?« wendet sich Herr v. Schlomm an Elisabeth. Sie erstattet Bericht und zeigt ihm gerührt den Ring, den Irene ihr geschenkt hat und über dessen Besitz sie sich noch gar nicht fassen kann.
»Nun, das war wirklich nett von Irene, und ich freue mich sehr, daß sie auf diesen hübschen Einfall kam! Aber nun, Kinder, packt euer Spielzeug zusammen, denn wir wollen heimgehen. Zu Hause trinken wir dann unsern Kaffee, ich ruhe mich nachher ein Stündchen aus – denn ich bin ein alter Mann und spüre auch so kleine Spaziergänge schon – und so gegen sieben kommt ihr dann zu mir, damit wir unsere ›Kunstwerke‹ mit den Klötzchen beginnen.«
In fröhlichster Stimmung wird der Heimweg angetreten.
*
Am nächsten Morgen – Elisabeth hat eben den Unterricht mit den Kindern begonnen – tut sich die Tür des Schulzimmers auf, und zu Elisabeths größtem Erstaunen tritt Frau v. Schlomm ein.
Es ist in der Tat ein Ereignis, denn nie noch hat die Mutter das Schulzimmer ihrer Kinder betreten. Aber Elisabeth freut sich sehr darüber, denn sie glaubt, dieser Besuch sei eine Frucht der gestrigen gegenseitigen Annäherung.
Freundlich begrüßt Elisabeth sie und sagt fröhlich: »Wie hübsch, liebste, gnädige Frau, daß Sie uns hier aufsuchen! Gewiß wollen Sie dem Unterricht ein wenig zuhören und sich selbst überzeugen, was Ihre Kinder können … Bitte, nehmen Sie Platz …«
»Danke. Es war auch nicht meine Absicht dem Unterricht zuzuhören, sondern ich möchte nur ein paar Worte mit Ihnen unter vier Augen sprechen.« Irene wendet sich an die Kinder: »Geht einstweilen hinab zu Rosa, bis man euch wieder ruft.«
Die Kinder entfernen sich.
»So – nun wollen wir hinüber nach Ihrem Zimmer gehen, Fräulein Benedikt, da wir dort wohl ungestörter sprechen können. Wollen Sie, bitte, vorausgehen, denn ich weiß nicht genau, welches Zimmer man Ihnen eingeräumt hat. Wie Sie wissen, kümmere ich mich um derlei Dinge nicht.«
Elisabeth schreitet voran, etwas betreten zwar über den gemessen förmlichen Ton Frau v. Schlomms, der so stark absticht von der gestrigen Herzlichkeit, aber ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen.
In Elisabeths Zimmer angelangt, schließt Frau v. Schlomm erst sorgsam die Tür hinter sich und wendet sich dann ohne Umschweife an Elisabeth.
»Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit, Fräulein Benedikt, die ich aber weder aufschieben noch einer dritten Person überlassen konnte. Ich möchte Sie bitten, mir den Ring zurückzugeben, den Sie gestern aus Versehen mitnahmen. Ich nehme wenigstens an, daß es nur ein … Versehen war.«
Elisabeth blickt die Sprecherin einen Augenblick verständnislos an, dann will sie, dunkelrot vor Bestürzung werdend, hastig den Rubinring vom Finger ziehen. Aber Irene schüttelt den Kopf.
»O nein – diesen Ring meine ich nicht, den habe ich Ihnen doch geschenkt! Ich meine den andern, den Brillantring, den Sie aus Versehen mitnahmen.«
»Ich? Aber ich nahm doch keinen Ring mit … habe kein einziges Schmuckstück berührt …«
»Es muß doch wohl geschehen sein, denn ich bemerkte das Fehlen des Ringes kurz nach Ihrem Fortgehen, als ich ihn selbst anstecken wollte. In der Zwischenzeit war außer mir niemand im Zimmer, und ich habe dieses auch nicht für einen Augenblick verlassen. Also können wohl nur Sie den Ring mitgenommen haben!«
»Gnädige Frau!?« schreit Elisabeth, die erst jetzt begreift, daß Frau v. Schlomm sie des Diebstahls bezichtigt, drohend auf. »Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß ich Ihnen einen Ring gestohlen habe?«
»Ich will meinen Ring wiederhaben – das ist alles!«
»Aber doch nicht von mir, die ich ihn nicht habe! Ich bin doch keine Diebin!« Dann zwingt Elisabeth sich zur Ruhe. »Wenn Sie einen Ring vermissen und außer Ihnen niemand im Zimmer war, dann muß er sich unbedingt wiederfinden, gnädige Frau! Dann kann er nur heruntergefallen sein, als Sie die Kassette offen auf dem Schoß stehen hatten, und muß noch im Zimmer sein. Kommen Sie, wir wollen beide suchen –«
»Das wäre zwecklos, denn an diese Möglichkeit dachte ich zuerst ebenfalls. Aber ich habe bereits gesucht. Stundenlang und gründlich. Kein Möbelstück, das ich nicht fortrückte, kein Teppich und kein Deckchen, das ich nicht aufhob – der Ring ist weg, und nur bei Ihnen kann er sein!«
Blaß, unfähig, einen Laut herauszubringen, lehnt Elisabeth am Tisch, sich auf dessen Kante stützend, um nicht umzusinken, und starrt Irene aus weitgeöffneten Augen voll Entsetzen an.
Diese Frau glaubt also wirklich, daß sie eine Diebin ist! … Sie, eine Gräfin Benedikten …! Was tun … o Gott, was tun, um sie zu überzeugen …? Und der Ring … wo kann er nur hingekommen sein? Und wenn er sich nicht wiederfindet …?
Ein Zittern durchläuft Elisabeths Gestalt. Und plötzlich schlägt sie aufstöhnend die Hände vors Gesicht.
»Das ist zu viel … oh, das ist zu viel … Wie soll ich diese Behandlung länger ertragen …?« schluchzt sie, in Tränen ausbrechend. »Gnädige Frau … ich beschwöre Sie, glauben Sie mir doch …«
Irene steht plötzlich vor Elisabeth. Kalt, mitleidlos und durchbohrend heftet sich ihr Blick auf das tränenüberströmte verstörte Gesichtchen.
»Geben Sie sich keine Mühe – Komödienspiel und Tränen machen nicht den geringsten Eindruck auf mich, denn ich bin meiner Sache vollkommen sicher. Aus Mitleid will ich Ihnen noch eine Stunde Zeit lassen. Ist der Ring nach dieser Stunde in meinen Händen, soll meinetwegen alles bleiben wie es ist und nicht weiter die Rede von der Sache sein. Ziehen Sie es aber vor, ihn nicht herauszugeben, dann erstatte ich unnachsichtlich die Anzeige, verstehen Sie? Eine einzige Stunde Frist, keine Minute mehr gebe ich Ihnen. Man wird Sie dann selbstverständlich verhaften und Ihre Sachen durchsuchen, darauf müssen Sie sich gefaßt machen. Rechnen Sie auch nicht auf die Hilfe meines Mannes, denn erstens warte ich seine Rückkehr gar nicht ab mit der Anzeige, und zweitens würde er in diesem Fall auch keinesfalls die Partei einer – Diebin ergreifen, um so weniger, als ich alles beeiden kann, was Ihre Schuld beweist. Nun machen Sie, was Sie wollen. Aber vergessen Sie nicht: es bleibt Ihnen nur eine Stunde Zeit für die Entscheidung!«
Die Tür ist hinter Frau v. Schlomm zugefallen, Elisabeth ist allein.
Keines klaren Gedankens fähig, starrt sie mit leerem Blick vor sich hin. Nur das Wort »Diebin« gellt ihr unablässig in den Ohren, umsummt sie von allen Seiten wie ein quälender Schwarm bösartiger Insekten …
Daneben das dumpfe Gefühl – ich muß fort … fort … fort …
Nur eine Stunde noch … dann kommen die Häscher, mich zu holen … mich, mich, mich …!
Die kleine Säulenuhr auf dem Schreibtisch schlägt die zehnte Stunde. Der Klang schreckt Elisabeth jäh aus ihrem Dahinbrüten auf.
Sie wirft einen gehetzten Blick um sich. Wohin flüchten?
Ach einerlei … nur fort … fort …
Im Hauskleid, wie sie ist, ohne Hut eilt sie aus dem Zimmer, huscht scheu die Treppe hinab und aus dem Haus.
Instinktiv schlägt sie den Weg nach Lobstein ein. Zum Bahnhof – fort – zurück nach Wien, zu Mama …
Irenes Beschuldigung und die darangeknüpfte Drohung haben sie so eingeschüchtert, daß sie vollständig den Kopf verloren hat. Wäre sie wirklich eine Diebin gewesen, die sich vor Verhaftung fürchtet, sie hätte keine namenlosere Angst empfinden können.
Zudem kommt ihr das Verzweifelte ihrer Lage immer deutlicher zum Bewußtsein.
Wie hätte sie auch ihre Schuldlosigkeit beweisen können, wenn eine Frau vom Ansehen Frau v. Schlamms beschwor, daß nur sie den Ring gestohlen haben konnte?
Niemand würde ihren Beteuerungen glauben …
Erst als Elisabeth Lobstein erreicht und die verwunderten Blicke der ihr begegnenden Menschen sie belehren, daß sie Aufsehen erregt, kommt sie wieder einigermaßen zur Besinnung und überlegt.
Wohin will sie? Zum Bahnhof? Nach Wien? Ach, sie hat ja nicht einen Groschen Geld bei sich … und nicht einmal einen Hut auf dem Kopf! Aber auch ohne das – müßte eine solche Flucht nicht einem Schuldbekenntnis gleichen?
Man flieht nur, wenn man schuldig ist …
Elisabeth bleibt betroffen stehen. Nein, sie darf nicht fort jetzt! Aber einen Menschen braucht sie, der ihr rät, was sie tun soll und der sie schützt …
Gadenbrucks! Wie konnte sie nur nicht gleich an die Lieben in Waldheim denken?! Zu ihnen muß sie hin. Sie werden ihr raten und nicht dulden, daß sie verhaftet wird …
Elisabeth macht also kehrt, zweigt von der Straße auf den Feldweg ab, um weniger Menschen zu begegnen und beschließt, mit einer Umgehung Wolfecks in großem Bogen nach Waldheim zu gehen.
Der Weg von Lobstein dahin ist weit. Heiß brennt die Junisonne nieder, immer schwerer werden Elisabeths Beine, immer müder ihr Schritt. Dazu die bohrenden Gedanken im Kopf …
Völlig erschöpft an Leib und Seele, langt sie endlich gegen eins in Waldheim an, kaum mehr fähig, die Eingangstür zum Flur zu öffnen.
Gadenbrucks stehen eben im Begriff, sich zu Tisch zu setzen, als sie durch einen halb verwunderten, halb erschrockenen Ausruf Frau Sempers im Flur auf Elisabeths Kommen aufmerksam gemacht werden.
Beide eilen hinaus.
Da steht Elisabeth, über und über voll Staub, mit dunklen Ringen unter den seltsam starr blickenden Augen …
»Lisel …!« schreien beide zugleich in tiefster Bestürzung auf. »Was ist geschehen? Wie siehst du aus?«
»Sie … hat … mich … zur … Diebin … gemacht …« Tonlos und mit Anstrengung ringen sich die Worte von den bleichen Mädchenlippen. Im selben Augenblick schwankt Elisabeths Gestalt, ihre Hände greifen in die Luft, und lautlos sinkt sie zu Boden …