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VIII.
Ein unerwartetes Wiedersehen

Am nächsten Morgen, als Rosa mit dem Frühstück im Kinderzimmer erscheint, überbringt sie eine Botschaft des Hausherrn, die die Kinder in einen wahren Freudentaumel versetzt.

»Herr v. Schlomm beabsichtigt, das prachtvolle Winterwetter zu einer Schlittenpartie nach der ziemlich entfernt gelegenen Försterei von Wolfeck zu benutzen und läßt Fräulein Benedikt fragen, ob die Kinder mitfahren dürften? Natürlich sei auch Fräulein Benedikt höflichst eingeladen, falls sie mitfahren wolle, wenn sie es aber vorziehe, den Sonntagnachmittag lieber ohne die Kinder ungestört für sich zu verbringen, möge sie es offen sagen. Der gnädige Herr meinte, er würde ganz gut auch allein mit den Kindern zurechtkommen.«

Alle drei Kinder hängen sich stürmisch bettelnd an Elisabeth, die ihnen seit gestern erlaubt hat, sie »du« und »Tante Lisa« zu nennen.

»Wir dürfen doch? Nicht wahr, liebste, beste Tante Lisa, wir dürfen doch fahren?«

»Selbstverständlich dürft ihr! Ich werde doch nicht nein sagen, wenn euch Papa eine Freude machen will!«

»Aber du kommst mit?«

»Das nicht, meine Lieblinge. Ich fahre nicht gern Schlitten. Auch habe ich eine Menge Briefe zu schreiben …«

»Du willst nicht mit? Aber dann wird es nicht halb so lustig sein!«

»Bah, das bildet ihr euch nur ein. Ihr werdet mir nachher alles haargenau erzählen.« Elisabeth wendet sich an das Mädchen.

»Wann soll gefahren werden?«

»Gleich nach Tisch. Die gnädige Frau fährt auch gleich nach Tisch, aber nicht mit dem gnädigen Herrn nach der Försterei, sondern nach dem Lobsteiner See zum Eislaufplatz, wo heute Konzert ist.«

»Melden Sie also dem gnädigen Herrn, daß die Kinder pünktlich bereit sein werden. Für meine Person lasse ich um Entschuldigung bitten, ich habe zu tun.«

Ein freier Nachmittag! Der erste, der ihr unerwartet zuteil wird, seit sie auf Wolfeck ist! So lieb Elisabeth ihre Zöglinge hat, so angenehm ist ihr dennoch das Bewußtsein, einmal ganz frei über ihre Zeit verfügen zu können und keine Verantwortung zu haben.

Wie ein kostbares Gut kommen ihr diese paar freien Stunden vor, und als der Schlitten mit Herrn v. Schlomm und den Kindern unter Schellengeklingel abgefahren ist, steht Elisabeth oben am Fenster und überlegt, was sie nun tun soll?

Gewiß – sie hätte Briefe zu schreiben – auch Näharbeit hat sich allerlei angesammelt – aber ist es nicht schade, bei diesem herrlichen Wintertag die Zeit damit im Zimmer zu versitzen? Draußen lockt die Sonne, lockt der Schnee, lockt eine wunderschöne Gegend, die sie fast noch gar nicht kennt …

Einmal so ins Blaue hineinwandern zu können, ohne Ziel, weit, weit … sich gründlich auslaufen – das wäre doch am allerschönsten!

Elisabeth zieht also wetterfeste Schuhe und ein warmes Kostüm aus hellgrauem Tuch an, dessen Pelzbesatz gegen die Kälte schützt, und verläßt das Schloß.

Sie will hinauf zur Kanzel, zur Felsbastei auf halber Bergeshöhe, von der Ronald ihr schon viel erzählt hat. Man soll dort eine herrliche Fernsicht über das ganze Lobsteiner Tal haben, aber für die Kinder sei es jetzt im Winter zu weit, da man nicht rasten könne im Freien, meinte er. Aber im Frühjahr wolle er sie einmal hinführen …

Elisabeth schielt, als sie das Schloß verläßt, verstohlen zu Ronalds Fenster hinauf. Ob er wohl daheim ist? Und ob er noch immer verstimmt ist? Auch heute bei Tisch sprach er kaum zehn Worte …

Sie konnte nichts von ihm entdecken. Wahrscheinlich war er also gar nicht daheim. Das Wandern macht ihr Freude, und sie kommt rasch vorwärts auf dem gut markierten Weg, der ein Abirren ausschließt.

Bald hat sie den Wald erreicht. Welch wundervolle, traumhafte Stille ringsum! Und wieviel Schnee überall! Nur ein ganz schmaler Pfad ist ausgetreten in den glitzernden weißen Massen. Andere Pfade kreuzen ihn, zuweilen auch Straßen, die kreuz und quer durch den Wald führen und die Spuren von Schlittenkufen und Autobereifung ausweisen, also seit dem letzten starken Schneefall schon viel befahren worden zu sein schienen.

Offenbar verbinden sie die vielen einzeln im Tal gelegenen Güter miteinander, oder diese mit dem Städtchen Lobstein.

Elisabeth mag etwa eine halbe Stunde gewandert sein, als ihr gerade da, wo ihr Weg bergan zu steigen beginnt, ein einzelner Herr entgegenkommt. Er ist in Jagdkleidung, trägt ein Gewehr über der Schulter und führt einen Setter an der Leine.

Sie sieht dies alles schon aus der Ferne, gleichsam mechanisch, und setzt ihren Weg fort, ohne den Herrn weiter zu beachten.

Er aber faßt sie desto schärfer ins Auge und bleibt, herangekommen, plötzlich dicht vor ihr stehen.

»Ja, um Himmels willen – Elisabeth, bist du's, oder bist du's nicht?«

Sie blickt auf, starrt einen Augenblick betroffen in das frische, hübsche Gesicht des jungen Mannes und lacht dann, ihn erkennend, auf.

»Selbstverständlich bin ich's! Aber dich, Vetter Erhard, hätte ich beinahe nicht wiedererkannt. Seit wir uns zum letztenmal sahen, als du, kaum sechzehnjährig, mit Tante Bernarda in Wien warst, hast du dich ja ganz erstaunlich zum Mann entwickelt!«

»Nun, ich bin ja auch schon dreiundzwanzig!«

»Und siehst aus wie sechsundzwanzig!«

»Soll das ein Kompliment oder eine Beleidigung sein?«

»Keins von beiden, nur eine Feststellung der Tatsache, und die Tatsache – ich meine dein männliches Aussehen – steht dir sehr gut, wie ich dir als unparteiische Kusine gleich verraten will. Aber nun sage mir nur, wie kommst denn du in diesen vom Weltverkehr so abgelegenen Gebirgswinkel?«

»Das wollte ich eben dich fragen! Bei mir ist die Sache sehr einfach. Mama und ich leben seit sechs Jahren hier auf unserem Gut Waldheim.«

»Oh – Tante Bernarda ist auch hier?«

»Ja, gewiß. Wo sollte sie denn sonst sein als bei mir?«

»Natürlich, ihr wart ja immer unzertrennlich, seit dein Vater starb. Aber ihr reistet doch immer in der Welt umher, von einem schönen Punkt zum andern, und machtet höchstens mal für eine Weile Station in Wien oder auf eurem Stammgut Gadenbruck … Habt ihr das Reisen denn nun aufgegeben?«

»Tja – gezwungenermaßen. Diese verdammte Nachkriegszeit hat uns ja so übel mitgespielt – weißt du das denn nicht, Lisel?«

»Kein Wort weiß ich von euch, seit wir uns vor sieben Jahren zum letztenmal sahen, wo ich noch ein Backfisch von fünfzehn Jahren war und deine allerhöchste Entrüstung erregte durch ein ›dummer Lausbub‹, das ich als Schluß unserer erbitterten Wortschlachten als letztes Argument ausspielte. Erinnerst du dich noch?«

»Na und ob! Lieb Kind hast du dich damit wahrlich nicht bei mir gemacht. Ich hatte damals immer eine Mordswut auf dich … na, wir waren eben beide noch Kinder damals, gelt? Heute wollen wir uns dafür desto besser vertragen … ich wenigstens habe eine Riesenfreude, daß wir uns so unerwartet wiedergetroffen haben!«

»Du hast mir noch nicht gesagt, welcher Wind euch gerade nach Waldheim verschlagen hat – einem Gut, von dessen Existenz ich bisher nichts wußte – noch weniger, daß ihr überhaupt hier ein Gut besaßt?«

»Ja so – na, es war ja auch seinerzeit das unbedeutendste unserer Besitztümer und früher stets verpachtet. Nun ist es so ziemlich alles, was uns geblieben ist.«

»Armer Erhard! Also auch ihr habt verloren … ihr, die ihr so ungeheuer reich wart …«

»Alles futsch, sag' ich dir, Lisel! Das Vermögen in der Inflationszeit – die Gadenbrucker waren nie gute Rechner, hatten's früher ja auch nicht nötig … das Spekulieren verstanden sie auch nicht wie andere … so mußten nach und nach die Güter heran. Zuletzt sogar Gadenbruck. Tja – es war eine schlimme Zeit! Waldheim allein war uns geblieben. Wir kannten es kaum von Ansehen, Mama und ich. Aber weil's zum Leben – zu einem halbwegs standesgemäßen Leben – in einer Stadt eben nicht mehr reichte und der Pächter von Waldheim zufällig gerade starb – zogen wir hierher. Die letzten Grafen Gadenbruck wurden – armer Landadel.«

»Wie schrecklich muß das für euch verwöhnte Menschen gewesen sein!«

»Tja – anfangs war's ein wenig schlimm. Wir wußten gar nicht, was wir anfangen sollten, und bliesen Trübsal nach allen Noten. Aber man findet sich schließlich in alles, wenn's sein muß und man den ernstlichen Willen dazu hat.«

»Und jetzt?«

»Oh, jetzt sind wir schon eingelebt und recht zufrieden. Alles hat ja auch seine guten Seiten, man muß sie nur erst herausfinden. Das gelang uns. Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, übernahm ich anfangs gleich die Bewirtschaftung von Waldheim selber, da ich mir ja keinen Inspektor halten konnte …«

»Verstehst du denn etwas von Landwirtschaft?«

»Anfangs verstand ich selbstverständlich nicht die Bohne davon. Zahlte mächtig Lehrgeld. Aber dann arbeitete ich mich ein. Der Wille, Lisel, weißt du – der Wille ist alles beim Menschen! Und was jeder ungebildete Großknecht zuwege bringt, mußte doch zum Teufel auch ich können! Na, es ging ja auch. Heute nehm' ich's als Landwirt mit dem gerissensten Inspektor oder Bauern auf, und Waldheim wirft wider Erwarten gut ab.«

»Du bist also glücklich, Erhard?«

»Sehr. Beinahe wunschlos. Ich möchte gar nicht mehr herumzigeunern in der Welt, und der Gedanke, in Paris, an der Riviera, Berlin oder Wien leben zu müssen – früher Eldorados für mich – flößt mir heute gelinden Schauder ein. Mama geht's genau so. Weißt du, das Landleben hat seine besonderen Reize und umspinnt einen immer mehr mit wundersamem Zauber. Allein die Natur. Was hab' ich früher von unberührten, stillen Wäldern, von Sonnenauf- und untergängen, vom Wandeldiorama der Wolken, von den wechselnden Reizen der Jahreszeiten, vom Glück der Arbeit gewußt? Nichts. Hier ist mir alles zum Quell unerschöpflicher Offenbarungen geworden, und jeder Tag wird mir zu kurz – wie er mir früher zu lang geworden ist. Vielleicht wirst du mich deswegen auslachen –«

»Durchaus nicht, Erhard. Ich verstehe dich sehr gut. Mir geht es ähnlich.«

»Ja, richtig – du! Ich rede immer nur von mir und brenne doch darauf, auch von dir zu erfahren! Nun erzähle mal du, Lisel. Vor allem, wie du ins Lobsteiner Tal geraten bist! Hast du Bekannte hier, bei denen du zu Gast bist?«

»Nein. Uns ging es ähnlich wie euch – wir haben alles verloren in der Nachkriegszeit – sogar unser liebes Benediktenberg mußte verkauft werden, um die von meinen beiden ältesten, im Krieg gefallenen Brüdern angehäuften Schulden zu begleichen. Viktor, der jüngste, war als entlassener Offizier drei Jahre lang stellenlos, nun hat er durch Vermittlung eines Bekannten – man muß noch sagen Gott sei Dank – eine kleine, sehr mäßig bezahlte Stellung bei einem Linzer Bankinstitut bekommen. Mama ist nichts geblieben als die Rittmeisterwitwenpension, die knapp ausreicht für das Nötigste. Sie wohnt im dritten Stockwerk eines Miethauses in der Alserstraße und vermietet eines ihrer zwei Zimmer. Da war es wohl das Gegebene, daß ich mich nach einer Stelle umsah …«

»Du – in Stellung? Eine Gräfin Benedikten!«

»Still, nenne mich nicht Gräfin. Ich habe mich selbstverständlich nicht als Gräfin verdingt, sondern als schlichtes Fräulein Benedikt. Der Adel ist ja auch offiziell abgeschafft bei uns in Österreich.«

»Was nicht hindert, daß man ihn unter sich doppelt hochhält und daß die heute hochgekommene Protzengesellschaft mehr denn je danach giert, ihre Salons mit alten Namen zu garnieren. Wir haben hier im Lobsteiner Tal Proben davon!«

»Nun, ich finde, man lebt ganz angenehm auch ohne den adeligen Namen. Besonders, wenn man aufs Verdienen angewiesen ist, ist es entschieden geschmackvoller, ihn in die Tasche zu stecken.«

»Vielleicht hast du recht – arme Jungfer Königin! Erinnerst du dich, daß ich dich früher oftmals so nannte, weil du dich immer so von oben herab als kleine Königin mir gegenüber gabst?«

»Sehr gut! Aber nun hat es sich längst ausgekönigt bei mir.«

»Und wo und was bist du denn nun eigentlich, Lisel?«

»Erzieherin der Schlommschen Kinder auf Wolfeck.«

Graf Gadenbruck prallt ordentlich erschrocken zurück.

»Was – bei Schlomm, dem Seifenfabrikanten? Oh, du arme, arme Lisel! Schlimmer konntest du es ja wirklich kaum treffen!«

»Wieso? Kennst du Schlomms?«

»Nur par Renommée – aber das genügt vollauf!«

»Darüber mußt du mir mehr erzählen, Erhard, aber wollen wir nicht weitergehen? Ich finde das Stehen im Schnee macht kalte Füße.«

»Das stimmt, verzeih, daß ich dies nicht längst bedachte. Wohin willst du?«

»Ich beabsichtigte, meinen ersten freien Sonntag zu einem Spaziergang nach der Kanzel zu benützen. Aber das kann ich auch ein andermal tun und begleite dich gern, wenn du ein anderes Ziel hast –«

»Ich habe keines, wollte nur ein wenig pirschen. Aber weißt du was, komm mit mir nach Waldheim, es liegt kaum eine Viertelstunde von hier entfernt, und Mama wird sich wahnsinnig freuen – sie hatte immer eine besondere Vorliebe für dich. Im warmen Zimmer bei einer Tasse Tee plaudern wir uns dann mal so recht gründlich und gemütlich aus, ja – willst du?«

»Sehr gern.«


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