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XII.
Abschied für immer …

Elisabeth hat mit den Kindern oben allein zu Mittag gegessen. Als Rosa später den Tisch oben abräumt – die Kinder binden im Nebenzimmer Sträußchen aus den im Wald gefundenen Blumen, die sie abends Papa bringen wollen –, sagt sie mit wichtig geheimnisvollem Lächeln:

»Wissen Sie schon, Fräulein Benedikt, daß unser junger Herr mit der Baronesse Werndl aus Haugenbichl, der rotblonden, schönen jungen Dame, die heute unten mit den Herrschaften speiste, verlobt ist? Eigentlich sollen beide schon seit Weihnachten verlobt gewesen sein, aber man hielt es noch geheim, weil die Landrätin, was die Tante der Baronesse ist, gerade zu Weihnachten schwer erkrankte und seitdem fast immer bettlägerig war. Nun aber ist sie wieder gesund, und so wird morgen auf Haugenbichl große Verlobungsfeier gehalten. Über sechzig Personen sollen geladen sein, und es wird vermutlich sehr hoch hergehen. Olga, die Zofe der gnädigen Frau, hat es uns vorhin beim Mittagessen in der Gesindestube brühwarm berichtet. Die gnädige Frau selbst hat es ihr beim Ankleiden erzählt!«

Elisabeth antwortet mit keiner Silbe. Gern hätte sie dem Mädchen Schweigen geboten, denn jedes Wort wühlt den bitteren Schmerz aufs neue in ihr auf.

Aber einerseits will sie das treuherzige, ihr sehr anhängliche Mädchen nicht kränken, zweitens wagt sie den Mund nicht aufzutun, aus Furcht, Tränen könnten ihre Stimme beim ersten Wort ersticken …

Ach, und der Schmerz muß verbissen, das Leid erstickt und verwunden werden! Keine Seele darf ahnen, wie kläglich ihr armes Herz Schiffbruch gelitten hat, als es zum erstenmal liebte!

Denn daß es Liebe war, was sie all die Zeit her mit so jubelnder Glückseligkeit erfüllt hatte … Liebe zu Ronald – das weiß Elisabeth nun …

Edines grausame Worte haben den Schleier vor ihren Augen jäh zerrissen.

Nun wühlen Schmerz, aber auch Scham in ihr …

Ronald selbst hat ja vielleicht klarer erkannt als sie selbst, was in ihr vorging. Nun lächelt er wohl mitleidig über die Törin …

Diese Vorstellung macht Elisabeth noch verzweifelter. Wenn sie nur fort könnte von hier! Nichts mehr sehen und hören, dieser Edine nie mehr begegnen zu müssen … und auch Ronald nicht …

Alles wäre dann wohl leichter zu tragen. An diesem Nachmittag steigt in Elisabeth mehr als einmal ernstlich der Gedanke auf, einen Vorwand zu ersinnen, um ihre Stelle auf Wolfeck aufzugeben. Kann sie nicht jederzeit nach Waldheim zu Tante Bernarda?

Dann schämte sie sich wieder solcher Gedanken.

Und die Kinder? Und ihre Pflicht gegen sie?

Wenn man es ernst nimmt mit Pflichten, so läßt man sie doch nicht in Stich aus rein persönlichen Gründen! Man harrt aus, auch wenn es einem plötzlich unerträglich schwer zu sein dünkt …

Unter solchen Gedanken vergeht der Nachmittag, und es wird Abend. Rosa kommt, um die Kinder zu ihrem Vater zu bringen.

Allein geblieben, stürmen die Gedanken mit doppelter Macht auf Elisabeth ein. Sie tritt ans Fenster und preßt die Stirn an die kühlen Scheiben. Draußen liegt düstere Dämmerung über dem Park, im Haus herrscht Totenstille. Die Braut ist wohl schon längst heimgefahren, und der Bräutigam hat sie begleitet … vermutlich auch Frau v. Schlomm …

Elisabeths Kopf schmerzt zum Zerspringen, und ihr Herz klopft bang und unruhig.

Wie nur die immer wieder aufsteigenden bitteren Gedanken verscheuchen?

Seine Braut …! Und er hat es nicht der Mühe wert gefunden, ihr ein Wort zu sagen davon … obwohl in seinen Augen …

Nein, sie darf wirklich nicht immer daran denken, muß darüber Hinwegkommen … sich gewaltsam ablenken …

Sie will sich ein fesselndes Buch aus der Bibliothek holen und zu lesen versuchen, bis die Kinder zurückkommen.

Elisabeth verläßt das Zimmer und begibt sich nach der Bibliothek, die am äußersten Ende des Korridors in einem Turmzimmer untergebracht ist.

Sie hört eine Tür hinter sich gehen und Schritte, aber sie achtet nicht weiter darauf. Erst als diese sich ihr rasch nähern und beim Eingang zur Bibliothek dicht hinter ihr sind, wendet sie sich unwillkürlich um und … sieht sich Ronald gegenüber.

Sein Gesicht ist totenblaß, seine Augen haben einen verstörten Ausdruck.

Elisabeth ist so erschrocken über das Zusammentreffen, daß sie einen Augenblick wie gelähmt dasteht. Dann will sie mit einem hastigen »Pardon« kehrtmachen und nach ihrem Zimmer zurückeilen.

Er aber vertritt ihr den Weg.

»Wollten Sie nicht nach der Bibliothek, gnädiges Fräulein?« fragt er gepreßt.

»Allerdings … aber es ist gar nicht eilig … ich will später …« stammelt sie, bemüht, seinem Blick, der etwas Flehendes angenommen hat, auszuweichen.

Ronald öffnet die Tür zur Bibliothek.

»Nein, bitte treten Sie ein. Ich habe den ganzen Nachmittag darauf gewartet, daß Sie Ihr Zimmer verlassen würden, und bin Ihnen nun hierher gefolgt …«

» Mir – wozu das, Herr v. Schlomm?« unterbricht ihn Elisabeth, die ihre Verwirrung niedergekämpft hat, mit stolzer Kühlheit. »Ich wüßte nicht …«

»Ich werde Ihre Zeit nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, gnädiges Fräulein … aber um diese wenigen Minuten flehe ich Sie an! Ich muß Sie sprechen. Erstens um Sie im Namen meiner … Braut noch einmal um Vergebung zu bitten ihres ungebührlichen Benehmens wegen …«

»Das ist nicht nötig! Baronesse Werndl hat mir noch vor Tisch geschrieben … und auch dies wäre durchaus nicht nötig gewesen.«

»Ich muß Sie auch um meiner selbst willen um Entschuldigung bitten, Fräulein Benedikt … daß ich so lange unterließ, Ihnen meine Verlobung mit Baronesse Edine Werndl mitzuteilen.«

»Das bedarf keiner Entschuldigung. Es ist Ihre Privatangelegenheit, und es lag nicht die geringste Veranlassung vor, mich davon in Kenntnis zu setzen.«

»Elisabeth!?«

»Herr von Schlomm?« Sie tritt einen Schritt zurück, und ihr Blick, der dem seinen bisher ausgewichen ist, wendet sich ihm unwillkürlich zu in eisiger Abwehr.

Aber Ronald läßt sich dadurch weder beirren noch einschüchtern.

»Bitte, treten Sie endlich ein und gewähren Sie mir nur zwei Minuten Gehör. Hier im Korridor kann ich Ihnen nicht sagen, was ich zu sagen habe. Um meiner Ruhe willen unbedingt sagen muß …«

»Aber …«

»Bitte, treten Sie ein, Fräulein Benedikt … Sie werden doch einem Unglücklichen nicht grausam diese kleine Bitte abschlagen … wenn er Ihnen versichert, daß seine innere Ruhe davon abhängt … und daß nichts Sie kränken oder beleidigen soll … Sehen Sie denn nicht, daß ich wie ein armer Sünder vor Ihnen stehe?«

Ja – Elisabeth sieht es, fühlt es. Fühlt, daß er mühsam eine heftige Erregung niederzukämpfen sucht, die alles in ihm außer Rand und Band zu bringen droht.

Und sie liebt ihn ja … sein flehender Ton dringt ihr ans Herz …

Schweigend tritt sie ein und sinkt, ihrer Sinne kaum mächtig, auf einen Stuhl. Ronald, der die Tür geschlossen hat, geht einigemal im Gemach hin und her, als müsse er sich erst fassen, ehe er zu sprechen beginnt.

Endlich bleibt er vor Elisabeth stehen.

»Fürchten Sie nicht, daß ich Sie durch eine Liebeserklärung erschrecken will. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist dies: Ja – es war meine heilige Pflicht, Sie von meiner Verlobung in Kenntnis zu setzen, nachdem mein Blick in werbender Liebe den Ihren suchte und Ihnen verriet, was in mir vorging. Längst … gleich in den ersten Tagen Ihres Hierseins hätte es geschehen müssen. Ich wollte es hundertmal tun und … brachte es doch nie über die Lippen. Ich kann und will Ihnen nichts weiter erklären – Sie werden mich auch so verstehen. Ich war bereits gebunden, als ich Sie kennenlernte … und trotzdem schwach genug, mich kurze Zeit … anderen beseligenden Träumen hinzugeben … mich an Hoffnungen zu klammern, die sich nie erfüllen konnten. Denn nur zu bald erkannte ich mit unerbittlicher Klarheit, daß man als Mann von Ehre ein gegebenes Wort unter keinen Umständen brechen dürfe. Selbst wenn es das Lebensglück kostet. So bin ich durch feiges Schweigen an Ihnen zum Schuft geworden. Elisabeth … können Sie mir vergeben?«

Er hat rasch, mit klangloser Stimme gesprochen, den Blick scheu zu Boden gesenkt.

Bestürmt von den widerstreitendsten Gefühlen, vernimmt Elisabeth seine Worte. Wie namenlos tut er ihr leid! Wie gerne hätte sie ihm ein gutes, tröstendes Wort zum Abschied gesagt.

Denn ein Abschied für immer ist diese Stunde.

Aber in den bitteren Jammer dieses Abschieds schleicht sich ganz leise auch eine beglückende Empfindung: Er hat also doch kein frivoles Spiel getrieben mit ihr! Er liebte sie, wie sie ihn liebte … insgeheim immer lieben wird …

Was bedeutet gegen diese Erkenntnis der Zwang äußerer Entsagung? Sie braucht sein Bild nicht aus dem Herzen zu reißen als das eines Unwürdigen – sie muß es nur still in sich verschließen wie ein Heiligtum, dem man äußerlich keine Altäre bauen darf …

»Elisabeth …« sagt er nun leise mit einer Weichheit, die sie erbeben macht, »Sie bleiben stumm? Heißt das, daß Sie mir nicht vergeben können?«

Sie schüttelt den Kopf. Zu sprechen vermag sie nicht, denn ihre Seele ist voll Glück und – Tränen. Aber sie reicht ihm die Hand, und Ronald versteht auch ohne Worte, was in ihr vorgeht.

»Dank,« murmelt er bewegt. Noch einmal tauchen ihre Blicke ineinander.

»Lebewohl – wenn wir uns auch nicht angehören können – die Seelen bleiben einander doch ewig nahe!« steht in beider Augen.

Wortlos will Elisabeth sich dann zum Gehen wenden, aber Ronald gibt ihre Hand noch nicht frei.

»Ich habe noch eine Bitte, gnädiges Fräulein: Lassen Sie die Kinder nicht entgelten, was ich an Ihnen verbrach! Ich werde mich bemühen, in Zukunft Ihren Weg so wenig wie möglich zu kreuzen, aber bleiben Sie auf Wolfeck! Ich würde nie darüber hinwegkommen, wenn die Kinder durch meine Schuld ihren guten Engel verlieren sollten!«

»Ich werde bleiben,« murmelt Elisabeth mit zuckenden Lippen und abgewandtem Kopf.

»Dank – tausend Dank!«

Im nächsten Augenblick ist Ronald allein. Er wirft sich auf denselben Stuhl, auf dem Elisabeth gesessen hat und verhüllt das Antlitz mit den Händen.

Da geht sie hin, die sein höchstes Glück gewesen wäre, und er darf die Hand nicht heben, um sie zu halten …

Freudlos, kalt und einsam wird sein Leben sein neben der andern, die weder Herz noch Seele hat und ihm ewig fremd bleiben wird!

Ronald grübelt, wie sooft in diesen letzten Monaten. Warum hat er eigentlich um Edine geworben? Es war nicht Liebe gewesen, darüber ist er sich längst klar – schon lange, ehe er in Elisabeth das Weib kennenlernte, nach dem seine Seele sich unbewußt immer gesehnt hatte …

Nein – Liebe war es nicht gewesen. Nicht einmal flüchtiger Rausch der Leidenschaft. Aber er war ihr immer begegnet, wohin er auch gehen mochte. Daheim – bei Bekannten – bei Unterhaltungen, selbst bei Spaziergängen …

Immer war sie irgendwie plötzlich vor ihm aufgetaucht, und immer lockten ihre blauen, glitzernden Augen, lächelte ihr roter Mund verheißungsvoll: Ich liebe dich … siehst du denn nicht, daß ich dich liebe?

Immer wurde sie ihm wie auf Verabredung als Tischdame gegeben. Alle Welt sprach zu ihm von ihrer Eleganz, ihrem Geist, ihrer bewunderungswürdigen gesellschaftlichen Sicherheit und so weiter. Und die Stiefmutter, ihre beste Freundin, pries sie, und der Vater fand, daß sie wie geschaffen zur Herrin auf Wolfeck sei …

Und dann kam jene unselige Stunde im Park von Haugenbichl, wo er mit ihr allein auf einer einsamen Bank saß und gedankenlos von seiner inneren Einsamkeit sprach …

Zu ihr – zu Edine, die keine Seele besaß und ihn nie verstehen konnte, wenn sie in jener Stunde auch so tat.

Ach, er hätte ebensogut zu den leblosen Sandsteinfiguren des Haugenbichler Parkes reden können …

Und nie nachher hat er begriffen, wie es kommen konnte, daß sie damals plötzlich an seiner Brust lag und flüsterte: »Oh, wie ich dich verstehe! Auch ich bin einsam … aber ich will dich das Leben lieben lehren, Ronald, will dich froh machen …«

Und dann stand plötzlich wie aus der Erde gewachsen die Mutter vor ihnen! Diese Karikatur von einer Mutter, die mit der Tochter um die Wette Blackbottom und Charleston tanzte, kniefreie Kleider zu gefärbtem Haar trug, und mit kunstvoll gemaltem Gesicht …

Sie umarmte ihn gerührt … er war verlobt …

Wie widerlich die Frau gewesen war … noch heute brachte er das Wort Mutter ihr gegenüber nicht über die Lippen … würde sie nie anders nennen können als »gnädige Baronin« …

Fort mit diesen Erinnerungen! Zurück zu dem stillen Eiland der Seligen, von dem er nur träumen darf, das aufgetaucht und wieder versunken ist für ewig wie eine unwiederbringlich verlorene Zauberinsel …

Ronald bleibt in der Bibliothek, bis der Gong zum Abendessen ruft. Als er sie verläßt, brennen seine Augen von ungeweinten Tränen, und sein Antlitz trägt einen harten, eisernen Ausdruck.

Er hat vieles begraben in dieser Stunde …


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