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Endlich – eigentlich zum erstenmal in diesem Winter, hat es ausgiebig geschneit, und die Landschaft ringsum bietet ein herrliches Winterbild dar.
Zwei Tage und zwei Nächte lang wirbelte unermüdlich dichter Flockentanz vom grauverhangenen Himmel nieder, bis alles mit der weißen glitzernden Decke zugedeckt war und überall sich hohe Schneewälle türmten.
»Nicht wahr, nun schüttelt Frau Holle oben ihre Betten aus?« fragt Fee, die mit Walterchen am Fenster steht und nicht müde werden kann, dem lustigen Gewirbel draußen zuzusehen.
»Ja, nun schüttelt sie ihre Betten aus!« antwortet Elisabeth, die Inge eben in die ersten Geheimnisse der Strickkunst einführt, fröhlich. »Und heute abend erzähle ich euch die Geschichte von der Schneekönigin und dem kleinen Kay, wenn ihr brav seid. Und wenn es endlich aufhört zu schneien, wollen wir im Park einen großen Schneemann machen und Schneeballen werfen!«
Am nächsten Tag ist das Schneien zu Ende, und die Wintersonne steht strahlend am blauen Himmel, rosenrote Lichter und violette Schatten in die weiße Landschaft malend.
Selig jagen sich die Kinder mit Elisabeth im Park um den eben fertig gewordenen Schneemann und führen förmliche Schlachten mit Schneebällen auf.
Aber Elisabeth ist nicht ganz bei der Sache. Es ist wieder Samstag, und verstohlen späht ihr Blick immer wieder die verschneite Tannenallee hinab, die zum rückwärtigen Parkausgang und weiter zur Schlommschen Fabrik führt.
Diesen Weg nimmt Ronald ja immer, wenn er heimkehrt, und Samstags kommt er gewöhnlich schon eine halbe Stunde früher als sonst … und dann spielt er mit den Kindern und plaudert mit Elisabeth …
Und sie freut sich immer sehr auf diese halbe Stunde …
In ihrem Herzen ist Frühling trotz Schnee und Winterkälte. Ohne sich dessen klar bewußt zu sein, ohne sich Rechenschaft zu geben, was daraus werden soll, ohne Ziel und Wünsche – liebt sie zum erstenmal im Leben …
Darum ist es Frühling in ihr.
Und denselben Frühling liest sie auch in Ronalds dunklen Grauaugen, fühlt ihn aus seiner immer weicher werdenden Stimme, wenn er mit ihr spricht, aus dem Beben seiner Hand, wenn diese zufällig die ihre berührt.
Ach, die Welt ist so schön! Das Leben so herrlich! Wenn man nur all diese Seligkeit einmal so recht laut herausjubeln dürfte …!
Aber warum kommt er heute nicht? Längst schon ist Mittag vorüber … und um eins speist man …
Da Elisabeths Aufmerksamkeit nur dem Parkausgang zugewendet ist, hinter dem man in der Ferne undeutlich die Schlote der Fabrik aufragen sieht, ist es ihr entgangen, daß sich dem Spielplatz vom Schloß her eine Männergestalt nähert.
Der lockere Schnee dämpft die Schritte, und so schrickt Elisabeth unwillkürlich zusammen, als plötzlich eine Männerstimme dicht hinter ihr sagt: »Darf man ein wenig mitspielen, gnädiges Fräulein?«
Herumfahrend steht sie Sascha Kelim gegenüber. Ärgerlich enttäuscht runzelt sie die Stirn und antwortet kühl: »Wenn Kinderspiele Ihnen nicht zu langweilig sind, Durchlaucht –«
»Durchaus nicht. Es erinnert mich an meine eigene Kindheit, die ich zum großen Teil bei einem Onkel in Petersburg verbrachte. Dort spielten wir auch immer im Park Schneeballenwerfen … übrigens, wie könnte es mir langweilig sein, da Sie mitspielen!«
Ein zündender Blick, den Elisabeth zum Glück nicht bemerkt, weil sie eben ihre schneebestäubte Wollmütze ausklopft, begleitet die Worte.
Sie hat die Mütze zu diesem Zweck abgenommen, und die Sonnenstrahlen spielen über die lichte, schimmernde Haarkrone hin.
Wie hypnotisiert starrt der Prinz darauf nieder. Dies Haar erregt ihn immer, wenn er es erblickt. Nie hat er eine solche Färbung bei Blondinen gesehen, wie gemischt aus Silber und lichtestem Gold. Dazu diese Fülle – dieser seidige Glanz! Die Zöpfe müssen, herabgelassen, ja bis an die Knie reichen …
Wenn man es auflösen dürfte und darin wühlen … es mit Küssen bedecken …! Überhaupt die ganze Erscheinung dieser jungen Person hat etwas Faszinierendes … einen Scharm, der immer aufs neue verblüfft …
Elisabeth ahnt nichts von diesen Gedanken. Sie hat die dunkelblaue Wollmütze wieder aufgestülpt, bückt sich und formt einen Schneeballen.
»Aufgepaßt, Walterchen!«
Schon fliegt der weiße Ball an sein Lockenköpfchen … er kreischt jubelnd auf. Im nächsten Augenblick zerstäuben drei wohlgezielte Revanchebälle, von Walter und seinen Schwestern geworfen, auf Elisabeths Brust.
Sascha Kelim steht unbeachtet daneben, während die Schlacht weitertobt, an der teilzunehmen er ganz vergessen hat. Dafür verschlingen seine Augen desto entzückter jede Bewegung von Elisabeths biegsamer Gestalt.
Welch geschmeidige Anmut darin, welch natürliche Vornehmheit … und sie ist doch nur eine Erzieherin! Woher sie wohl stammen mag? Es lohnt sich wirklich der Mühe, Näheres über dies entzückende Geschöpf zu erfahren … einmal ungestört, ohne dies lästige Kinderanhängsel, mit ihr zu plaudern …
Als der erste Gongschlag die Tischzeit ankündigt und dem Spiel ein Ende bereitet, weiß der Prinz es so einzurichten, daß er mit Elisabeth ein Stückchen hinter den dem Schloß zustürmenden Kindern zurückbleibt.
»Warum sind Sie eigentlich nie bei den geselligen Veranstaltungen auf Schloß Wolfeck zugegen, gnädiges Fräulein?« fragt er. »Immer schon hoffte ich, Ihnen dabei einmal zu begegnen, und spähte leider stets vergebens nach Ihnen aus!«
»Ich bin der Kinder wegen hier und nicht, um mich zu amüsieren!« antwortet Elisabeth, deren Gedanken sich immer noch um die Frage drehen, warum Ronald heute nicht gekommen, zerstreut und gleichgültig.
»Hat man Sie denn nie aufgefordert, daran teilzunehmen?«
»Nein. Ich hätte auch keine Zeit dazu … außerdem mache ich mir gar nichts daraus und bin viel lieber bei den Kindern.«
»Aber den ganzen Tag können Sie sich doch unmöglich mit den Kindern befassen!«
»Doch – und er wird mir nur zu kurz dabei.«
»Unglaublich! Das muß doch schrecklich auf die Nerven gehen!«
» Mir gar nicht.«
»Aber Sonntag und die Abende haben Sie doch frei?«
»Die Abende ja, und Sonntags könnte ich wohl frei haben, bleibe aber lieber bei den Kindern. Wo sollte ich auch hin? Ich kenne ja niemand hier in der Gegend, und allein spazierenzugehen wäre nur langweilig.«
»Kommen Sie doch einmal zu – mir! Ich wäre sehr glücklich darüber! Wir könnten gemütlich eine Tasse Tee zusammen trinken und plaudern. Ich würde Ihnen Ravelsperg zeigen, oder wir machen einen Ausflug per Auto …«
Ein vernichtender Blick Elisabeths ließ ihn verstummen. Indes versteht er die Bedeutung des Blickes nicht und liest nur Staunen und Überraschung heraus.
»Ich meine es in vollem Ernst, Fräulein Benedikt,« fährt er daher nach kurzer Pause lebhaft fort. »Ich denke, wir würden uns famos verstehen bei näherer Bekanntschaft, und Sie würden sich in keiner Weise über mich zu beklagen haben. Selbstverständlich würden wir es so einrichten, daß niemand etwas von unseren Zusammenkünften erfährt. Meine Leute sind in dieser Beziehung wohlgeschult und durchaus verläßlich. Und denken Sie nur, wie reizvoll solche gemütliche Plauderstündchen unser beider Dasein beleben würden! Sie müssen sich hier in dieser tristen Ländlichkeit ja ebenso zu Tode langweilen wie ich … darum …«
Er verstummt abermals – diesmal vor einem flammenden, maßlos empörten, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassenden Blick Elisabeths. Sie ist totenblaß geworden und bebt vor Zorn.
Ist sie denn als Erzieherin hier Freiwild, daß erst der Hausherr, dann der Freund des Hauses sich erlauben zu können glauben, ihr in so unziemlicher Weise zu nahen?
Kelim sieht ihre Erregung, begreift sie aber nicht recht. Muß sie, die bezahlte Kraft, sich nicht geehrt fühlen durch die Aufmerksamkeit, die ihr ein Prinz von Geblüt schenkt? Er meint es ja wirklich gut mit ihr, sie tut ihm leid, und anderseits gefällt sie ihm …
Die Stunde am Eisplatz mit Irene v. Schlomm ist in diesem Augenblick vergessen. Sie ist ihm sogar schon manchmal zur unbehaglichen Erinnerung geworden, seit Irene immer deutlichere Rechte daraus ableitet …
Für ihn war das nichts als ein flüchtiges Aufwallen der Leidenschaft gewesen, dem er nachträglich gar keine ernste Bedeutung beimaß …
Diese spröde Kleine mit dem wundervollen Silbergoldhaar erscheint ihm momentan als ein viel begehrenswerteres Eroberungsobjekt …
»Liebe, süße Kleine – morgen ist Sonntag … werden Sie kommen?« flüstert er zärtlich, entschlossen, ihr gar keine Zeit zur Überlegung zu lassen.
Elisabeth mißt ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit demselben flammenden Blick, der ihn vorhin in seiner Rede innehalten ließ.
»Nein, nie! Ich will annehmen, daß Durchlaucht sich der unerhörten Beleidigung, die in Ihren Worten für mich liegt, gar nicht bewußt sind. Jedenfalls irren Durchlaucht sich in der Person. Ich bin kein Stubenmädchen, das man wagen dürfte, zu einem Stelldichein aufzufordern, und damit hoffe ich, daß jede weitere Unterredung zwischen uns ein für allemal erledigt ist.«
Ohne Gruß läßt sie ihn stehen und eilt dem Haus zu.
In der Diele steht Ronald mit den Kindern. Er errötet tief bei Elisabeths Eintritt und erschrickt gleich darauf, als er die Verstörtheit in ihrem blassen Gesicht bemerkt.
»Ist etwas geschehen?« fragt er, auf sie zutretend, leise. Sie schüttelt den Kopf.
»Nein … nichts. Aber sind Sie schon zu Hause, Herr v. Schlomm? Ich dachte, Sie müßten noch in der Fabrik sein … weil ich Sie nicht heimkommen sah …?«
»Ich … kam nicht den gewöhnlichen Weg, sondern von Lobstein her. Ich … hatte dort zu tun …« antwortet er, an ihr vorübersehend, gepreßt.
Es ist etwas Scheues, Gedrücktes in seinem Wesen, das Elisabeth sofort auffällt, das sie sich aber nicht zu deuten weiß.
»Ich werde vermutlich jetzt öfter in Lobstein zu tun haben,« fügt Ronald nach kurzer Pause hinzu.
Wie kühl und fremd seine Stimme klingt! Elisabeths Herz zieht sich schmerzlich zusammen.
Sollte er etwa die Szene mit dem Prinzen beobachtet und sie – falsch gedeutet haben? fährt es ihr durch den Kopf.
Aber sie kann ihn doch unmöglich darüber aufklären! Erstens ist Kelim ein Freund seiner Eltern, wodurch sich jede Anklage von selbst verbietet, zweitens hätte sie sich Ronald gegenüber lieber die Zunge abgebissen, als den schmählichen Antrag zu wiederholen, den der Russe ihr zu machen gewagt hatte …
Frau Irenes Erscheinen unterbricht das ohnehin stockende Gespräch.
Sie ist in großer Toilette und sieht dank der Künste ihrer Zofe wie ein ganz junges Mädchen aus.
»Grüß Gott, Ronald – hast du Prinz Kelim nicht gesehen? Ich dachte, er sei hier in der Diele?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Übrigens guten Morgen, Mama.« Er zieht ihre weiße, beringte Hand flüchtig an die Lippen. Frau v. Schlomms Blick fällt auf Elisabeth und die Kinder.
»Was, Fräulein, Sie haben noch nicht Toilette zu Tisch gemacht? Und auch die Kinder sind noch nicht umgekleidet? Da müssen Sie sich aber sehr sputen, der Gong wird gleich das zweite Zeichen geben …« Sie wendet sich wieder an den Stiefsohn: »Prinz Kelim speist heute mit uns.«
Elisabeth atmet heimlich auf. Gottlob, dann ist sie für heute einer Wiederbegegnung mit dem dreisten Menschen enthoben. Denn wenn Gäste zu Tisch erwartet werden, ißt sie oben allein mit den Kindern.
»Nun, dann sagt Mama nun erst mal hübsch guten Morgen, Kinder, denn ihr habt sie heute ja noch nicht gesehen, und dann wollen wir uns zurückziehen.«
»Wieso, Fräulein? Sie essen doch unten mit uns.«
»Ich dachte, da ein Gast hier ist …«
»Oh, Seine Durchlaucht ist ja kein Fremder, da gilt die Regel nicht. Machen Sie nur rasch, damit wir nicht zu warten brauchen.«
»Guten Morgen, Mama,« sagen Inge und Fee, sich der Mutter, die ihnen immer Scheu wie eine Fremde einflößt, schüchtern nähernd, aber die schöne Frau wehrt ungeduldig ab.
»Ja, ja, guten Morgen. Geht nur rasch, es ist höchste Zeit. Und daß ihr euch bei Tisch anständig betragt …!« Damit nimmt sie Ronalds Arm.
»Komm, wir wollen unsern Gast suchen. Ich schickte ihn vorhin fort, weil ich Toilette machen mußte.« –
Bei Tisch führen nur Frau Irene und der Prinz das Wort. Ronald beteiligt sich kaum an dem Gespräch und scheint seine Umgebung zuweilen völlig vergessen zu haben, so grübelnd und versunken sitzt er da.
Elisabeth erkennt mit schmerzlichem Befremden, daß seine offensichtliche Verstimmung sich auch auf sie zu erstrecken scheint. Obwohl er ihr gegenüber sitzt und sonst immer heiter und unbefangen mit ihr geplaudert hat, richtete er heute kein einziges Wort an sie und vermied es sogar, ihrem Blick zu begegnen.
Geschieht es trotzdem einmal zufällig, senken sich seine dunklen Grauaugen hastig, wie erschrocken oder verlegen.
Sie begreift dies alles nicht. Was ist denn geschehen?
Sascha Kelim fragt Ronald einmal nebenher: »Wissen Sie nichts von Werndls, Herr v. Schlomm? Sind die Damen noch immer in Kitzbühel?«
Und Ronald antwortet gleichgültig: »Ich erhielt heute einen Brief. Sie kehren morgen nach Haugenbichl zurück.«
In diesem Augenblick tritt der Diener, der eben den Nachtisch serviert hat, wieder ein und meldet, daß der gnädige Herr soeben aus Wien zurückgekehrt sei. Fünf Minuten später betritt der Hausherr nach vierwöchiger Abwesenheit das Speisezimmer und begrüßt die Anwesenden auf das liebenswürdigste.
Er scheint in bester Laune und sieht brillant aus.
»Das ist eine Überraschung, nicht wahr? So früh habt ihr mich wohl gar nicht zurückerwartet?«
Er küßt seine Frau, schüttelt dem Prinzen die Hand: »Sehr erfreut, Durchlaucht … Tag, Ronald … guten Tag, Fräulein Benedikt … Aber bitte, lassen Sie sich gar nicht stören, Herrschaften, wenn Sie erlauben, rücke ich mir da einen Stuhl zwischen meine Frau und Ronald …«
»Franz, legen Sie ein Kuvert für Herrn v. Schlomm auf –« winkt die Hausfrau dem Diener zu. Aber ihr Gatte wehrt ab.
»Nein, nein, danke. Ich habe bereits im Zuge gegessen. Beim schwarzen Kaffee nachher halte ich mit, aber essen kann ich nichts mehr.«
Dann beginnt er gleich von Wien zu erzählen, wobei er sich hauptsächlich an den Prinzen wendet, berichtet Ronald einiges Geschäftliche und richtet zwischendurch gelegentlich auch Bemerkungen an die Kinder, die er glänzend aussehend und auch sonst unglaublich zu ihrem Vorteil verändert findet.
»Was man wohl Ihnen zu verdanken hat, Fräulein Benedikt,« wie er höflich gegen Elisabeth gewendet hinzusetzt.
Blick, Miene und Ton ihr gegenüber sind so vollkommen harmlos und korrekt von der ersten Minute an, daß Elisabeth kaum begreift, daß dies derselbe Mann ist, dessen Dreistigkeit sie am ersten Abend so peinlich erschreckt hat.
Die im stillen immer noch ein wenig gefürchtete Wiederbegegnung mit dem Hausherrn ist also gottlob befriedigend überstanden, und Elisabeth ist überzeugt, daß sie von dieser Seite keine Belästigungen mehr zu fürchten hat.
Nach kurzer Zeit meldet der Diener, daß der schwarze Kaffee im anstoßenden Rauchsalon bereitgestellt sei, und die Herrschaften begeben sich dahin.
Elisabeth mit den Kindern aber zieht sich zurück.