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XXVI.
Die Wallfahrt der Kinder und ein Brief der Gräfin Gadenbruck

In Waldheim herrscht gedrückte Stimmung. Es hat langer Anstrengungen der Gräfin und der getreuen Frau Semper bedurft, ehe Elisabeth wieder zum Bewußtsein gebracht werden konnte.

Noch länger, ehe man sie so weit hatte, daß sie sich mit Mutter und Sohn zu Tisch setzte, um an dem arg verspäteten Mittagessen teilzunehmen. Sie tut es nur zum Schein, um Tante Bernarda und Erhard nicht zu hindern, und genießt selber kaum ein paar ihr mit sanfter Gewalt aufgedrängte Bissen.

Ihr starrer, verlorner Blick, ihr stummes Dahinbrüten, beunruhigten Gadenbrucks aufs höchste. Noch wissen sie nicht, was geschehen ist, ahnen aber, daß es wohl Furchtbares sein muß, was Elisabeth in diesen völlig gebrochenen Zustand versetzt hat.

Als man sich dann nach Tisch in Tante Bernardas gemütliches kühles Wohnzimmer begeben und Elisabeth noch eine Tasse schwarzen Kaffee aufgenötigt hat, wagt es die Gräfin, sanft zu fragen: »Willst du uns nun nicht endlich sagen, was dir widerfahren ist, liebes Kind?«

Da erzählt Elisabeth, durch den schwarzen Kaffee wieder einigermaßen belebt, alles, was sich in den letzten Tagen, seit sie von Erhard am Gartenpförtchen Abschied genommen, zugetragen hat.

Sie erzählt es mit eintöniger Stimme, als handle es sich um die Erlebnisse einer fremden Person, nicht um ihre eigenen.

Gleich nach dem letzten Wort versinkt sie wieder in stummes Dahinbrüten und starrt blicklos vor sich hin.

Gadenbrucks sind außer sich über das Gehörte. Besonders Erhard weiß sich vor Zorn gar nicht zu fassen. So wagte man in diesem Emporkömmlingshaus seiner Kusine zu begegnen! Nicht genug, daß dieser Schuft von einem russischen Prinzen sie als Freiwild betrachtet und ihr mit Gewalt seine Liebe aufdrängen wollte – nun wollte diese Seifenfabrikantin sie auch noch zur Diebin stempeln! Und niemand im Haus, der sich ihrer annahm … der sie schützte …

»Bande!« murmelt Erhard grimmig zwischen den Zähnen. »Elende Bande! Aber sagte ich's nicht immer, sie würde noch was erleben in diesem Haus?!«

Spornstreichs wollte er nach Wolfeck, um den Schlomms seine Meinung zu sagen und Genugtuung zu fordern. Und dann wollte er nach Ravelsperg, um den Prinzen zu ohrfeigen – »anderes gebührt dem Kerl ja nicht! Mag er mich dann fordern, das will ich ja nur! Es wird mir eine Wonne sein, dem sauberen Burschen den Degen oder eine Kugel in den Leib zu jagen …«

Die Gräfin hatte alle Mühe, ihren Heißsporn von Sohn halbwegs zu beruhigen und ihm klarzumachen, daß mit Dreinschlagen im Augenblick nichts getan sei.

»Erst muß man klar sehen! Mir ist vorläufig noch manches dunkel, und mit Fragen mag ich Elisabeth nicht quälen. Auch halte ich es vorläufig für besser, wenn Schlomms gar nicht erfahren, daß Elisabeth sich bei uns befindet. Sie glauben offenbar, daß sie nach Wien zu ihrer Mutter geflüchtet ist, denn sie wissen ja gar nichts von unserer Verwandtschaft, und das ist gut. Es verschafft dem armen Kind jetzt wenigstens Ruhe, deren sie am nötigsten bedarf.«

»Aber wir können die Schmach doch nicht ruhig auf ihr sitzen lassen! Es ist unsere – ganz besonders meine Pflicht, für sie einzutreten!«

»Es handelt sich ja nur um ein paar Tage, bis alles sich besser geklärt hat! Warten wir erst mal ab, wie sich die beiden Männer Schlomm zu der Sache stellen, das ist noch ganz ungeklärt. Ich kann mir nach dem, was Elisabeth gelegentlich über sie erzählte, nicht recht denken, daß auch sie mit Frau v. Schlomms Vorgehen einverstanden sind. Glaube mir, du leistetest Elisabeth bestimmt keinen guten Dienst, wenn du jetzt dreinführest. Später werden die weiteren Tatsachen von selbst ergeben, was zu tun ist, und wenn sie dann dein Eingreifen erfordern, werde ich dich gewiß nicht hindern.«

Erhard läßt sich endlich beruhigen.

»Gut – sagen wir also drei Tage. Aber länger warte ich nicht.«

Elisabeth hört kein Wort von dem Gespräch, obwohl es halblaut und in ihrer Nähe geführt wird. Teilnahmslos sitzt sie am Fenster und kümmert sich nicht um ihre Umgebung.

Einmal hört Erhard sie leise vor sich hinmurmeln: »Was muß er nun von mir denken? Eine … Diebin

Gadenbruck horcht betroffen auf.

»Er? Wen kann Elisabeth damit meinen?«

Und gegen Abend, als es bereits leise zu dämmern beginnt und die Gräfin ins Nebenzimmer gegangen ist, um Frau Semper zu fragen, ob man schon zum Tee kommen könne, hört Erhard noch etwas.

Mit einem herzzerreißenden Ausdruck im Gesicht flüstert Elisabeth vor sich hin: »Er kommt nicht … er glaubt also auch an meine Schuld …«

Erhard fühlt sich tief beunruhigt. Er fürchtet, die aufregenden Ereignisse könnten Elisabeths klaren Geist getrübt haben. Denn wen konnte sie erwarten, da ja gar niemand wußte, daß sie hier sei? Und niemand hier lebte, der ihr nahestand?

Nach einer Viertelstunde wird der Tee serviert, und alle drei begeben sich ins anstoßende Eßzimmer. Es gibt Tee mit warmen Pastetchen, kaltem Braten, Süßigkeiten und anderen Zutaten, alles auf reichlich gefüllten Schüsseln, aber niemand hat Lust zu essen.

Elisabeth leert gehorsam eine Tasse Tee, ißt auch ein paar Bissen dazu, aber in einer mechanischen Weise, die nur zu deutlich verrät, daß sie im Grunde gar nichts davon weiß.

Da läutet draußen die Hausglocke. Elisabeth fährt zusammen, hebt aufhorchend den Kopf und springt im nächsten Augenblick auf.

»Die Kinder! … Ich erkenne ihre Stimmen …!«

Da führt auch Frau Semper diese schon herein mit den Worten: »Die kleinen Herrschaften von Wolfeck wollen durchaus ihre Tante Lisa sehen …«

Ohne sich um die fremde Umgebung und die ihnen unbekannten Menschen zu kümmern, stürzen Inge, Fee und Walterchen auf Elisabeth zu, umklammern sie stürmisch, küssen und streicheln ihre Hände und gebärden sich ganz närrisch vor Freude.

»Gottlob – daß wir dich nun endlich doch gefunden haben!« ruft Inge glücklich.

»Habt ihr mich denn gesucht?« fragt Elisabeth, erschüttert durch dies Wiedersehen und jäh aus ihrer bisherigen Benommenheit erwachend.

»Ja, den ganzen Nachmittag schon! Wir waren ja so traurig und verzweifelt, daß du fortgegangen warst, ohne uns mitzunehmen! Wir mußten mittags mit Rosa essen, aber wir aßen fast gar nichts, weil es uns nicht schmeckte ohne dich … so allein …«

»Ihr hattet doch Rosa! Und Papa und … euer Bruder werden sich gewiß auch um euch gekümmert haben.«

»Eben gar nicht! Papa kam nur auf einen Augenblick zu uns herein und sagte, daß wir heute nicht mit bei Tisch essen dürften, weil sie Dinge zu beraten hätten, von denen wir nichts verstünden. Und wir sollten nur hübsch brav sein, und nach Tisch ging er gleich wieder fort in die Fabrik, weil Ronald nach Lobstein müsse. Wir suchten dich gerade im Park, als Ronald an uns vorüberkam. Er blieb einen Augenblick stehen und fragte, was wir da machten. Ich sagte es ihm, und Walterchen fing dabei gleich zu heulen an … Da sah uns Ronald so traurig an – so traurig, Tante Lisa, wie ich ihn noch nie gesehen habe, und meinte: › Hier werdet ihr sie nicht finden, Kinder, geht zu Rosa zurück. Ich gehe jetzt nach der Stadt, um Tante Lisa zu suchen, und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie euch wieder, das verspreche ich euch!‹«

Ein heller Schein gleitet für den Bruchteil einer Sekunde über Elisabeths trübes Gesicht.

Also er glaubt an sie … sucht sie …

Inge fährt fort: »Das brachte uns auf die Idee, auch nach dir zu suchen, nicht in Lobstein, wo es Ronald schon tat, sondern hier heraußen im Wald …«

»Ließ man euch denn fort?«

»Oh, wir fragten doch gar nicht erst! Wir kniffen einfach aus! Rosa hatte gottlob so viel Arbeit, daß sie sich nicht viel um uns bekümmern konnte; sie glaubte wohl auch, daß wir ganz ruhig im Park spielten …«

»Und weiter?«

»Ja, dann gingen wir eben in den Wald und alle Wege ab und fragten alle uns Begegnenden nach dir. Zuletzt gingen wir von Haus zu Haus fragen, ob niemand etwas von dir wisse … bis wir dich nun doch endlich gefunden haben! Aber, gelt, nun dürfen wir bei dir bleiben? Du schickst uns nicht fort?«

Und Fee drückt ihr blondes Köpfchen schmeichelnd an Elisabeths Hüfte: »Bitte, bitte, laß uns bei dir bleiben!«

»Es ist auch schon ganz finster, und wenn du uns fortschickst, würde uns der böse Wolf im Wald fressen,« ergänzt Klein-Walterchen dringlich.

Elisabeth blickt die Gräfin an. Beide sind erschüttert, beiden laufen die Tränen über die Wangen, angesichts der rührenden Liebe und Anhänglichkeit, die sich in diesen Kindern für Elisabeth kundgibt.

Und schon kniet die Gräfin neben den Kleinen, die ihr Herz im Sturme erobert haben, und herzt und küßt sie abwechselnd.

» Selbstverständlich bleibt ihr hier – wie könnte Tante Lisa euch denn jetzt fortschicken, wo ihr sie solange gesucht habt …? Wir werden euch drei nette kleine Bettchen in ihrem Zimmer zurechtmachen, da werdet ihr dann herrlich schlafen! Zuerst aber werdet ihr essen! Ihr müßt ja müde und hungrig sein …«

»Ja – schrecklich müde und hungrig,« erklären Fee und Inge wie aus einem Mund, und Walterchen nickt bekräftigend: »Walter ist schon ganz tot vor Hunger …« Dann fügt er, aus den Erfahrungen seines kleinen Bekanntenkreises schließend, daß alle alten Damen Großmütter sind, noch vorsichtig hinzu: »Du, Großmama – bekommt man bei dir auch etwas Gutes zu essen?«

»Wollen sehen, kleiner Mann,« antwortet Gräfin Gadenbruck, über das »Großmama« von neuem entzückt, und küßt ihn auf das rote Mündchen.

»Er ist zu reizend! Sieh nur, Lisel – ist sein Mündchen nicht wie eine Rosenknospe? Alle drei sind sie süß zum Aufessen …! Wirklich, ich möchte sie am liebsten gar nie mehr von mir lassen!«

Dann erhebt sie sich und klingelt nach Frau Semper. Stühle werden an den Tisch gerückt. Frau Semper bringt Milch für die Kleinen, und bald leeren sich die früher kaum berührten Schüsseln, wobei alle drei Kinder versichern, daß es bei dieser »Großmama« viel besser schmeckt als daheim …

Die Stimmung ist umgeschlagen. Selbst Elisabeth fühlt sich beruhigter, fast getröstet durch die Gegenwart der Kinder.

Nach dem Abendessen aber nimmt sie Tante Bernarda beiseite.

»Wir dürfen die Kinder keinesfalls hier behalten, Tantchen, ohne Herrn v. Schlomm von ihrem Aufenthalt in Kenntnis zu setzen, und zwar noch heute abend. Bedenke, in welcher Sorge er schon jetzt sein muß, als er sie bei seiner Heimkehr nicht vorfand! Nicht wahr, du sendest gleich einen Boten nach Wolfeck?«

Der Gräfin paßt dies gar nicht. Von den Kindern ist sie entzückt, aber mit den Eltern mag sie nichts zu schaffen haben. Außerdem will sie Elisabeths Anwesenheit in Waldheim ja nicht – wenigstens heute noch nicht – verraten. Sie sagt das Elisabeth.

»Ich sehe auch gar keine Verpflichtung unsererseits dazu ein,« schließt sie. »Die Kinder sind uns zugelaufen wie verirrte Schäfchen, und es ist Zeit, wenn wir sie morgen oder übermorgen wohlbehalten zurückschicken.

Das bißchen Angst wird den Schlomms gar nicht schaden, sie haben ja auch dich in Angst versetzt. Warum haben sie sie nicht besser behütet!«

Wider Erwarten ist Erhard diesmal nicht ihrer, sondern Elisabeths Meinung. Obwohl auch er die Anwesenheit der Kinder froh begrüßt, schon weil sie die lastende, gedrückte Stimmung aus dem Hause vertrieben haben und nicht zuletzt, weil auch er von ihnen entzückt ist und sich sofort durch allerlei Scherze als »guter Onkel« betätigt.

Aber sein Gerechtigkeitsgefühl sagt ihm, daß man einen Vater nicht eine Nacht lang in Angst um seine Kinder lassen darf.

»Es wäre wirklich grausam, Mama, und anständige Menschen sind das auch gegen Feinde nicht. Du mußt dich also schon entschließen, Herrn v. Schlomm ein paar Zeilen zu schreiben. Der Hausknecht mag es dann hinüber nach Wolfeck tragen.«

Die Gräfin sieht denn auch gleich ein, daß sie unrecht hat, und setzt sich an den Schreibtisch.

Dort schreibt sie dann folgenden Brief:

Geehrter Herr v. Schlomm!

Meine Nichte, die Reichsgräfin von Benedikten, die bisher als Erzieherin in Ihrem Hause weilte, hat sich nach den unglaublichen Vorkommnissen dort, unter meinen Schutz gestellt und gedenkt nicht mehr in ein Haus zurückzukehren, in dem man ihre pflichtgetreue, aufopfernde Tätigkeit so schlecht gelohnt hat. Die Zöglinge meiner Nichte haben bessere Instinkte der Treue und Dankbarkeit bewiesen – sie sind ihr hierher gefolgt. Wir setzen Sie davon in Kenntnis, damit Sie nicht in Sorge sind, und ich bitte gleichzeitig, die Kinder vorläufig da zu lassen, wohin ihr Herz sie geführt.

Es wird ihnen in meinem Hause an nichts mangeln. Bezüglich der meiner Nichte angetanen Schmach behält mein Sohn sich vor, Rechenschaft von Ihnen und Ihrer Frau zu fordern.

Gräfin Gadenbruck.


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